Beyer / Klein / Martínez | Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Reihe: Wuppertaler Poetikdozentur für faktuales Erzählen

Beyer / Klein / Martínez Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha

Wuppertaler Poetikdozentur für faktuales Erzählen

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Reihe: Wuppertaler Poetikdozentur für faktuales Erzählen

ISBN: 978-3-8353-8451-4
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Marcel Beyer geht der Frage nach, wie sich Schriftsteller:innen heute zur medialen Verarbeitung des Krieges verhalten können.

Der Angriffskrieg auf die Ukraine als Zeitwende – nicht nur des Politischen, sondern auch des Erzählens? In seinen Vorlesungen zur Wuppertaler Poetikdozentur für faktuales Erzählen reflektiert Marcel Beyer die Bedeutung der Medien für die Konstitution von 'Wirklichkeit' in Zeiten des Krieges: Wann berichte ich nur über das, was ich auf Bildern sehe, wann berichte ich und füge unbewusst meine Imaginationen hinzu? Wann berichte ich nicht mehr nur, sondern erfinde? Kann ich von dem berichten, was ich gesehen habe, ohne zu imaginieren? Was meint 'Erfindung', was 'Bericht' und welche Rolle kommt dem Schriftsteller dabei zu? Ausgehend von der persönlichen Auseinandersetzung mit der medialen Berichterstattung aus der Ukraine im Frühjahr und Sommer 2022 eröffnet Beyer so Einsichten in die Funktionen des Erzählens zwischen Fakten und Fiktionen.
Der Band wird abgerundet durch die erste deutschsprachige Übersetzung eines zentralen Bezugstextes für Beyer, Viktor Schklowskis Beschreibung der Belagerung von Petersburg während des russischen Bürgerkriegs im Winter 1919/20, sowie ein Interview mit Marcel Beyer, in dem er auf die Besonderheiten seiner Schreibpraxis eingeht.
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Mariupol unter Blockade
Zweite Vorlesung, Mittwoch, 22. Juni 2022
I
Ich will nichts erfinden. Ich will berichten, was ich sehe. Und was ich nicht sehe. Ein schwerer Transporthelikopter zieht in niedriger Höhe, doch unsichtbar über das Viertel. Jenseits des Hofes ruft eine Krähe. Ahorn und Eiche vor dem Küchenbalkon entfalten ihr Laub. Ich schreibe Anfang Mai 2022. Ich will von dem erzählen, was ich wahrnehme. Und das heißt für mich, zugleich deutlich werden zu lassen, wovon ich nicht erzähle, obwohl ich es wahrnehme. Ich nehme die Rolle eines Erzählers ein. Ich bin Akteur. Bin Akteur selbst dann, wenn ich nicht von einem Geschehen vor meinen Augen berichte, wenn es sich beim Beschriebenen um Bilder und Videoaufnahmen und Literatur handelt. Indem ich erzähle, schwebt mir ein Text vor, der vieles von dem nicht erzählt, was zu erzählen wäre, ohne damit das Nicht-Erzählte zu verschweigen. II
Von Mariupol während der Blockade werde ich nicht erzählen. Die Eroberung der ostukrainischen Hafenstadt ist von vornherein ein zentrales Ziel, als am 24. Februar der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine beginnt. In der frühen Phase des Angriffs liegt die weltweite Aufmerksamkeit weniger auf dem Osten des Landes, wo Russland bereits vor acht Jahren zwei sogenannte Teilrepubliken eingerichtet hat, als auf der Hauptstadt Kyjiw, auf die russische Truppen von Norden her vorrücken. Am 9. März bombardiert die russische Armee eine Geburtsklinik in Mariupol. Zu dieser Zeit befinden sich noch internationale Pressefotografen in der Stadt. Die russische Propaganda verbreitet eine Verschwörungsgeschichte um zwei hochschwangere Frauen, von denen die eine überlebt hat, die andere starb. Die überlebende Frau wird später von der russischen Armee entführt und gezwungen, ein Video aufzunehmen, in dem sie, ganz auf der Linie der russischen Propaganda, aussagt, die Geburtsklinik sei ein militärischer Stützpunkt gewesen. Am 15. März verlassen die letzten ausländischen Journalisten Mariupol. Auf ihrer Flucht schmuggeln sie die Dokumentaraufnahmen einer Rettungssanitäterin mit dem Rufzeichen »Taira« aus der Tag und Nacht bombardierten Stadt. Am 16. März bombardiert die russische Armee das Drama-Theater, in dem sich mehrere hundert Menschen in Sicherheit gebracht haben. Immer wieder kündigt die russische Armee Feuerpausen an, um Menschen die Evakuierung aus der Stadt zu ermöglichen. Immer wieder werden die Fluchtkonvois beschossen, oder sie kommen erst gar nicht zustande, weil die russischen Truppen den Evakuierungsbussen die Fahrt ins Stadtgebiet verwehren. Je länger die russische Armee Mariupol bombardiert, desto weniger Bilder bekommt die Welt zu sehen. Es gibt kein Trinkwasser, keine Nahrungsmittel, keine Medikamente mehr. Hilfsgüter gelangen nicht mehr in die Stadt. Ab Mitte April konzentriert sich das Kriegsgeschehen zunehmend auf das weitläufige Gelände des Azowstal-Werks. Hier gibt es ein unterirdisches System von Kammern und Verbindungsgängen, in dem die letzten Verteidiger Mariupols und Zivilisten ausharren. Sie filmen sich gegenseitig, sie filmen sich selbst. Ein Besuch bei den Kindern unter der Erde. Ein Besuch im Lazarett unter der Erde. Ein Appell des Kommandeurs an die Weltöffentlichkeit. Ein weiterer Appell, Mariupol zu retten, Mariupol nicht preiszugeben, die Überlebenden von Mariupol nicht der russischen Armee in die Hände fallen zu lassen. Großes Dunkel. Nur die Taschenlampe am Mobiltelefon, scheint es, erleuchtet das Gesicht des Sprechenden. Aus sicherer Entfernung nehmen Drohnen Bilder von der fortgesetzten Bombardierung des Azowstal-Werkes auf. Rauchsäulen. Einschläge. Eine flimmernde Wolke niedergehender Funken. Ab dem 16. Mai ergeben sich die Kämpfer im Azowstal-Werk nach und nach der russischen Armee. Sie werden in Foltercamps verschleppt. Davon werde ich nicht erzählen. III
Mittwochnachmittag. Die Sirenen heulen. Nach der sächsischen Hochwasserkatastrophe im Sommer 2002 wurde den damals fast schon vergessenen Alarmsirenen wieder Aufmerksamkeit geschenkt, und so findet jeden Mittwoch um 15 Uhr ein Probebetrieb statt, so wie eben samstags um 18 Uhr die Kirchenglocken zum Gottesdienst rufen. Die Sirene im Viertel heult auf, ich wüsste nicht zu sagen, ob es sich um einen Warn- oder um einen Entwarnungston handelt, woraufhin eine blechern klingende, hörbar um klares Hochdeutsch bemühte Frauenstimme einige Sätze spricht, die ich bis heute nicht verstanden habe. Ich zucke nicht zusammen. Ich verspüre keine Angst. Ich habe nicht vor Augen, wie ich so schnell wie möglich die zwei Stockwerke hinunter in den Keller laufe. Doch ich weiß, hier in Dresden leben im Moment Menschen, denen Sirenenheulen durch Mark und Bein geht. Zum Glück hat die Stadtverwaltung rechtzeitig den Hinweis verbreitet, es handele sich lediglich um ein allwöchentliches Routineheulen, ein Luftangriff sei nicht zu befürchten. Rechtzeitig auch wurde der Hinweis ins Ukrainische übersetzt. Einen Augenblick bin ich beruhigt. Also hat mich das Heulen durchaus in Unruhe versetzt. Und was nützt ein gut gemeinter Hinweis, was nützt die Sprache, wenn man vor dem Sirenenheulen geflohen ist. IV
Mittlerweile weiß ich nicht einmal mehr, wann die Unruhe eingesetzt hat oder, genauer: wann sie sich wandelte, beginnend mit den von Tag zu Tag beunruhigender klingenden Nachrichten aus der Ukraine, aus Russland und Belarus, seitdem im Dezember das Großmanöver entlang der ukrainischen Grenze begonnen hatte. Nachrichten auf dem Bildschirm, Nachrichten auf Zeitungspapier – im Laufe des Tages legt man die Zeitung beiseite, schaltet den Bildschirm ab. Irgendwann lässt die Unruhe sich nicht mehr abschalten. Dies passierte, wie ich jetzt rekonstruiere, als ich am 13. Februar Bilder von der Autobahn A4 sah, die, aus dem Westen kommend, mitten durch Dresden nach Görlitz an der Grenze zu Polen führt. Militärkolonnen der US-Armee bewegten sich durch die Stadt, in der ich seit sechsundzwanzig Jahren lebe. Es wurde gemeldet, in den nächsten zwei Wochen würden rund fünfhundert Militärfahrzeuge durch Sachsen ziehen, um an einer lange geplanten multinationalen Nato-Übung in der Slowakei teilzunehmen. Vom 1. bis zum 14. März werde die Abwehr einer möglichen russischen Invasion in Osteuropa »durchgespielt«, ohne dass ein konkreter Bezug zur Ukraine gegeben sei. »Bleibt die aktuell angespannte Lage friedlich«, hieß es abschließend, »kehren die Truppen in der zweiten Märzhälfte wieder zurück.« Die Unruhe kommt mit den Bildern – aber das ist nicht ganz richtig. Mit den Bildern kam zunächst nicht Unruhe, sondern Verwirrung, in Form einer leichten Verschiebung der Wirklichkeit. Ich bin in Kiel und im Rheinland aufgewachsen, Schiffe der Kriegsmarine und Militärkonvois sind mir nicht fremd, auch wenn ich als Kind weniger den Anblick US-amerikanischer als den britischer und belgischer Militärfahrzeuge gewohnt war. In Dresden kam ich an, als die Truppen der ehemaligen Sowjetunion bereits abgezogen waren. Die Kasernen, die Übungsgelände der hiesigen Garnison lagen verwaist, zum Teil waren die Gebäude bereits renoviert und damit ihre sowjetischen Spuren getilgt, so wie man sich in Dresden mit dem Ende der DDR überall im öffentlichen Raum Mühe gab, die sowjetischen Spuren der zurückliegenden vierzig Jahre zu tilgen. Über unserem Wohnzimmertisch hängt bis heute ein zurückgelassener, geretteter sowjetischer Kronleuchter der schlichten Art, mit Tränen aus Plastik behängt statt aus Glas. Die abziehenden Soldaten hatten vergessen, ihn rechtzeitig abzumontieren – Stühle und Tische, selbst Leitern waren anscheinend bereits verladen, also blieb der Kronleuchter als letztes Stück in einem ansonsten bis auf den letzten Rest geleerten Garnisonssaal in Dresden zurück. Mit den Aufnahmen von Militärfahrzeugen der Vereinigten Staaten schoben sich alltägliche Kindheitsbilder in die postsozialistische Sphäre meines Erwachsenenlebens. US-Konvois hatte ich hier bis zum 13. Februar 2022 – ausgerechnet dem Jahrestag der Bombardierung Dresdens – noch nicht gesehen. Die Militärkolonnen waren mir aus der eigenen Biographie vertraut, zugleich aber spürte ich, ich bin kein Westdeutscher mehr. Diese Erkenntnis mischte sich mit dem Gefühl einer latenten Bedrohung. Vor wenig mehr als dreißig Jahren wären Kolonnen von Fahrzeugen der US-Armee auf der Durchfahrt in Dresden ein Signal gewesen, dass der Dritte Weltkrieg begonnen hat. V
Die Unruhe setzt ein. Dass sie sich aber in einem festsetzt, kommt nicht mit den Bildern, sondern mit den Geräuschen. Am frühen Abend ertönt über dem Haus ein tiefes, schnarrendes Brummen, das sich nicht vom Fleck zu bewegen scheint. Dies kann kein Rettungshubschrauber sein, auch nicht der Polizeihubschrauber, der regelmäßig über dem Viertel steht, wenn Dynamo Dresden im nahe gelegenen Stadion ein Heimspiel austrägt. Der Ton, den ich über mir höre, klingt kompakter,...


Klein, Christian
Christian Klein ist Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal.
Veröffentlichungen im Wallstein Verlag: Georg Hermann: Jettchen Gebert. Roman (Hg., 2022) / Georg Hermann: Henriette Jacoby. Roman (Hg., 2022) / Spielkinder. Roman (Hg., 2021) / Der etruskische Spiegel. Roman (Hg., 2021); Kultbücher. Theoretische Zugänge und exemplarische Analysen, (2014); Ernst Glaeser: Jahrgang 1902. Roman (Hg., 2013).

Beyer, Marcel
Marcel Beyer geb. 1965 in Tailfingen / Württemberg, wuchs in Kiel und Neuss auf. Bis 1996 lebte er in Köln, seitdem in Dresden. Marcel Beyer ist einer der vielseitigsten Autoren seiner Generation. Er veröffentlicht seit 1990 Romane, Erzählungen, Essays, Gedichte, hat Libretti geschrieben und mit bildenden Künstlern zusammengearbeitet. Für seine Werke erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, 2014 etwa den Kleist-Preis, 2016 den Georg-Büchner-Preis, 2021 den Peter-Huchel-Preis und den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg.

Martínez, Matías
Matías Martínez, geb. 1960, ist Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal.

Marcel Beyer, geb. 1965 in Tailfingen / Württemberg, wuchs in Kiel und Neuss auf. Bis 1996 lebte er in Köln, seitdem in Dresden. Marcel Beyer ist einer der vielseitigsten Autoren seiner Generation. Er veröffentlicht seit 1990 Romane, Erzählungen, Essays, Gedichte, hat Libretti geschrieben und mit bildenden Künstlern zusammengearbeitet. Für seine Werke erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, 2014 etwa den Kleist-Preis, 2016 den Georg-Büchner-Preis, 2021 den Peter-Huchel-Preis und den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg.


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