Psychoanalyse und Allgemeine Psychologie
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-17-030742-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Autoren/Hrsg.
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1 Einleitung
Einführung
Freuds Anliegen ist es von Beginn an gewesen, Erkenntnisse über allgemeine psychische Prozesse, wie das Denken, die Wahrnehmung und das Gedächtnis, zu gewinnen. Zur Untersuchung dieser Prozesse wählte er die Perspektive ihrer konflikthaften und damit dynamisch unbewussten Aspekte. Folgt man diesem Verständnis der Psychoanalyse als allgemeiner Theorie der Psyche, ergeben sich auch in zeitgenössischer Perspektive Verbindungen zwischen Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie. Lernziele
• Eine Perspektive auf die Psychoanalyse als allgemeine Theorie der menschlichen Psyche einnehmen, die über Krankheitslehre hinaus reicht • Ein Verständnis dafür entwickeln, an welchen Punkten sich Psychoanalyse und Allgemeine Psychologie berühren und an welchen Stellen Abgrenzungen zwischen den Disziplinen bestehen Mit den Bereichen Denken, Lernen, Wahrnehmung und Gedächtnis sind vier jeweils große Bereiche der menschlichen Psyche benannt (vgl. zu Denken und Lernen im Besonderen: Storck & Billhardt, 2021). Unsere Wahrnehmung der äußeren und inneren Welt und wie wir in Auseinandersetzung mit ihr denken, lernen, wahrnehmen und erinnern, berührt alle Bereiche der Psychologie und alle Bereiche unseres täglichen Lebens. Neben dem Gefühlsleben bilden diese Prozesse die Grundlage für viele Merkmale unserer Individualität, etwa dafür, wie wir zu anderen Menschen und zu uns selbst in Beziehung treten und für unser Gefühl von persönlicher Identität. Psychische Vorgänge finden nicht innerhalb eines von der Außenwelt abgeschnittenen Bezugsrahmens statt, sondern basieren maßgeblich auf der Wahrnehmung unserer Umwelt und auf Erinnerungen an vergangene Eindrücke und Beziehungserfahrungen. Unser Erleben beruht dabei ebenso auf der äußeren Wahrnehmung dessen was wir sehen, hören und spüren als auch auf der Interozeption, also der Wahrnehmung von inneren Reizen, wie Körperempfindungen und Emotionen. Neben der Wahrnehmung von gegenwärtigen Eindrücken wird unser Leben auch von unserer Geschichte bestimmt, die durch Prozesse des Erinnerns – und Nicht-Erinnerns – Einfluss auf unsere Gedanken, Wahrnehmungen und Emotionen ausüben kann. Die Allgemeine Psychologie befasst sich mit psychischen Prozessen, die allen Menschen gemein sind. Entsprechend stellen Wahrnehmung und Gedächtnis einen zentralen Forschungsbereich für sie dar. Aber auch die Psychoanalyse beschäftigt sich seit Freuds Zeiten mit ihnen (vgl. zur Skizze einer »allgemeinen Psychoanalyse« Storck & Billhardt, in 2021, Kap. 2). Freud wählte zwar mit dem Ausgangspunkt im klinischen Arbeiten einen anderen Forschungsansatz als die Allgemeine Psychologie, ihm lag aber immer auch daran, etwas Allgemeines über die menschliche Psyche herauszufinden. Bereits in seinem 1895 verfassten und zu Lebzeiten unveröffentlichten Entwurf einer Psychologie geht es ihm um eine Gesamttheorie der Psyche, damals noch auf unter starkem Einbezug eines biologisch-neurologischen Modells, ein Ansatz, den er aufgrund des damaligen unzufriedenstellenden Forschungsstandes jedoch bald zurückstellte und sich der Untersuchung des Psychischen zuwandte (Freud, 1950a), ohne gleichwohl die Biologie gänzlich fallen zu lassen. Das Anliegen, eine allgemeine Theorie des Psychischen und damit einhergehend mit den Prozessen des Wahrnehmens und des Erinnerns, zu entwickeln, steht also am Ausgangspunkt und im Zentrum der psychoanalytischen Theorie. In der Darstellung der psychoanalytischen und allgemeinpsychologischen Perspektiven auf Gedächtnis und Wahrnehmung wird sich immer wieder zeigen, dass neben Bewusstem auch Unbewusstes berührt wird. Dabei wird jedoch auch deutlich werden, dass das Verständnis des Unbewussten in Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie voneinander abweicht. Neben den unbewussten Aspekten von Wahrnehmung und Gedächtnis müssen wir im vorliegenden Band darauf verzichten, eine umfassende Gegenüberstellung von psychoanalytischen und allgemeinpsychologischen Theorien des Bewussten und Unbewussten vorzulegen, auch wenn Theorien des Bewusstseins in der jüngeren Vergangenheit zunehmend in den Fokus der Allgemeinen Psychologie rücken (zu einer psychoanalytisch begründeten interdisziplinären Sicht auf das Unbewusste vgl. Leuzinger-Bohleber & Weiß, 2014, in der vorliegenden Reihe). Die genannten Berührungspunkte zwischen Allgemeiner Psychologie und Psychoanalyse lassen einen interdisziplinären Austausch naheliegend erscheinen und werfen die Frage auf, wieso es bisher nur vereinzelt und überwiegend auch erst in jüngerer Zeit zu einem solchen gekommen ist. Anstelle von Interdisziplinarität ist die Geschichte von Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie von einer teils scharfen Abgrenzung der beiden Disziplinen gegenüber einander gezeichnet. Dies liegt vermutlich auf Seiten der Allgemeinen Psychologie im hohen Abstraktionsgrad der psychoanalytischen Konzepte begründet, der ihre Überführung in experimentell überprüfbare Untersuchungsdesigns erschwert. Auf psychoanalytischer Seite lassen sich als Gründe für die Abgrenzungsbestrebungen einerseits ein anderes Wissenschaftsverständnis identifizieren sowie andererseits vermutlich die Vorstellung, dass eine interdisziplinäre Verbindung, anstelle einer stärkeren Einbindung in den akademischen Diskurs, zu einem Verlust der Eigenständigkeit der Psychoanalyse führen könnte. Unsere Perspektive ist es, dass eine Annäherung von Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie für beide Disziplinen gewinnbringend sein kann. Die Allgemeine Psychologie könnte etwa davon profitieren, über die Vermittlung von psychoanalytischen Konzepten ihren Forschungsbereich auf das dynamisch Unbewusste auszuweiten, während die Psychoanalyse durch die Rezeption von allgemeinpsychologischer Forschung eine Anreicherung oder Konkretisierung ihres theoretischen Fundaments erreichen könnte. Granzow (1994) befasst sich mit der Aufnahme von allgemeinpsychologischen Befunden in die psychoanalytische Theorie und stellt fest, dass eine Integration auf vier Ebenen möglich ist (a. a. O., S. 197): • auf einer deskriptiven Ebene (bzgl. der Befunde) • auf der Ebene der (gemeinsamen) Modellbildung • auf der Ebene einer Reformulierung der psychoanalytischen Gedächtnistheorie angesichts kognitionspsychologischer Befunde • auf der Ebene einer Reformulierung der psychoanalytischen Metapsychologie (mit dem Ziel des Schaffens einer gemeinsamen methodologischen Rahmung). Eine Integration auf der deskriptiven Ebene, also eine Beschreibung und Gegenüberstellung des Status quo der psychoanalytischen und allgemeinpsychologischen Theorien, ist eine notwendige Voraussetzung, um eine gemeinsame Modellbildung oder eine Aufnahme allgemeinpsychologischer Befunde in psychoanalytische Theorien zu ermöglichen. Im vorliegenden Band nehmen wir eine solche deskriptive Integration von Allgemeiner Psychologie und Psychoanalyse im Hinblick auf die Bereiche Wahrnehmung und Gedächtnis vor. Dabei geht es uns neben einer Bestandsaufnahme und einer Gegenüberstellung der Theorien auch darum, Wege für eine weiterführende interdisziplinäre Zusammenarbeit zu skizzieren. Entsprechend ist die Struktur des Bandes so gewählt, dass wir zunächst die allgemeinpsychologischen und psychoanalytischen Theorien zu Gedächtnis und Wahrnehmung darstellen, um am Ende der beiden Hauptteile des Buches jeweils den Versuch zu unternehmen, Kontakt zwischen beiden Perspektiven herzustellen. Zum Abschluss des Buches werden wir ein Fazit ziehen und Vorschläge für eine psychoanalytisch informierte Allgemeine Psychologie und eine kognitionswissenschaftlich anschlussfähigere Psychoanalyse machen. Philosophische Positionen zu Wahrnehmung und Gedächtnis, in denen sich historisch auch Vorläufer einer psychologischen und psychoanalytischen Sicht finden, können wir im Kontext dieses Bandes nicht aufgreifen. Auch werden Aspekte von Motivation und Emotion als Teile der Allgemeinen Psychologie und als Kernstück psychoanalytischer Theorie keine Berücksichtigung finden (vgl. dazu Benecke & Brauner, 2017). Ebenso werden wir Fragen nach Repräsentation, Symbolisierung oder Mentalisierung nur teilweise berühren (vgl. dazu Deserno, 2020, in der vorliegenden Reihe), und auch den Bereich der psychoanalytischen Behandlungstechnik (Mertens, 2015) sowie die allgemeine und spezielle Krankheitslehre nicht vertieft behandeln. Ein weiterer Aspekt ist eingangs noch von besonderer Bedeutung. Wahrnehmung und Gedächtnis sind nicht schlicht der Sphäre des Psychischen allein zuzuordnen, sondern es handelt sich, je nach Betrachtungsweise, um leibliche Prozesse, um Prozesse, die man als »embodied« bezeichnen kann bzw. deren neurobiologisches Korrelat untersucht wird. Wir werden kursorisch auf neurobiologische Befunde eingehen (ein entscheidender Bereich der Kognitionspsychologie), ebenso auf die leibliche bzw. psychosomatisch-ganzheitliche Betrachtungsweise der erörterten Konzeptbereiche. Der Schwerpunkt liegt dabei...