Bolik / Hübner | Zur gleichen Zeit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 376 Seiten

Bolik / Hübner Zur gleichen Zeit

Zwei Biografien von zwei ungleichen Leben

E-Book, Deutsch, 376 Seiten

ISBN: 978-3-7562-9924-9
Verlag: Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Zur gleichen Zeit haben zwei deutsche Wissenschaftler ihr Leben im Osten und im Westen Deutschlands gelebt. Beide sind ungefähr zur gleichen Zeit in Schlesien geboren, ihre Familien sind nach Kriegsende aus dem polnisch besetzten Gebiet vertrieben worden, beide haben studiert und Familien gegründet, der eine im Osten und der andere im Westen Deutschlands. In dieser Autobiografie haben sie ihre Lebensläufe gemeinsam aufgeschrieben, aus denen hervorgeht, in welchem Ausmaß die unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen in der DDR und in der BRD ihrer beider Leben beeinflusst haben. Als nach der Wiedervereinigung die beiden deutschen Staaten eins wurden, blieben dennoch viele Unterschiede bestehen, die auf die über 40-jährige Deutsche Teilung zurückzuführen sind.

Henryk Bolik, geboren 1946 in Schlesien ist Schriftsteller und Planer. Er hat Ingenieurwesen studiert, war in jungen Jahren im Auftrag der Vereinten Nationen in Afrika unterwegs und fand in Aachen seine zweite Heimat. Er ist Autor zahlreicher Fachbücher und hat lange Zeit die Bundesregierung in Verkehrsfragen beraten. Jetzt schreibt er spannende Geschichten aus der aufgeregten Welt für unaufgeregte Menschen. Und für die, die es werden wollen.
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1. Mit der Hakenkreuzfahne um den Esstisch
(Wolfgang 1939-1949) Der junge Lehrer Heinz Hübner und seine Frau Käthe hatten es endlich geschafft: eine feste Anstellung. Zwar war das Dorf alles andere als idyllisch, die Straßen unbefestigt, nahezu unpassierbar im Herbst und im Frühjahr, weit weg von Geschäftsleben und Kultur. Aber es gab im Schulhaus eine Dienstwohnung, groß genug, um endlich an Kinder denken zu können. Und mit Platz für das Klavier. Sie hatten sich eingewöhnt, Kontakte zu den Bauern und Handwerkern in der Nachbarschaft geknüpft. Es hätte eine fröhliches Jahr voller guter Hoffnung werden können. Aber es war das Jahr 1938. Als die Synagogen in der Kreisstadt brannten und Vater die zerschlagenen Schaufenster sah, war Mutter im siebten Monat. Im Januar 1939 wurde ich geboren, in Bunzlau, wo die Großeltern wohnten, wo ärztliche Hilfe nahe war. Als ich ein fröhliches Baby war, das mit strampelnden Beinen in die Kamera lacht, wurde mein Vater Soldat und marschierte nach Polen. Ein Jahr später kam mein Bruder dazu, ein kleines zartes Baby, das meinen Schutz brauchte. So jedenfalls sieht es auf Bildern aus. Wir spielten im Garten und im Bauernhof der Nachbarn mit deren Tochter Ingrid. Es gab Ziegen und Kaninchen, die ohne Umzäunungen in einem Stall zusammen lebten, es gab Kühe und, unvergessen, Pferde, die einen Göpel antrieben. Und Ingrids Bruder schnitt eine Höhle in ein Robiniengestrüpp. Aber auch die Kriegszeit hinterließ ihre Spuren. Als Fünfjähriger war ich stolz, mit den großen Jungs von der Hitlerjugend, der HJ, exerzieren zu dürfen, und dabei lernte ich ihre Kriegslieder. »Wir werden weiter marschieren, bis alles in Scherben fällt …«, so marschierten auch mein Bruder, unsere Spielkameradin und ich mit Holzgewehren und einer Hakenkreuzfahne mit abgebrochener Stange um den Tisch. Dort stand an meinem sechsten Geburtstag ein Pudding in Hasenform. Und am Abend dieses Tages kam eine Nachbarin mit der Aufforderung zu packen. Die Rote Armee stand nur 75 Kilometer von Reinberg entfernt, der Gauleiter Schlesiens hatte aber erst an diesem Tag die Evakuierung befohlen. Das war der Ortsleitung bekannt, aber die ordnete an, dass das Dorf erst am 23. Januar zu räumen sei. Mutters Evakuierung war gewissermaßen ein Geheimauftrag, aus unbekannten Gründen hatte man für die Hochschwangere »schon« am 22.1.45 einen Sonderweg gefunden: erst einmal zu den Eltern nach Bunzlau. Ein Handwerker hatte dafür eine Sonderration Benzin für sein Tempo-Dreirad zugeteilt bekommen. Zwei Tage später wurde meine Schwester geboren. Aber Bunzlau konnte ja nicht der Endpunkt der Flucht sein, tagtäglich rollten Trecks durch die Stadt, die Front rückte weiter vor. Wieder kam der Räumungsbefehl. Es gelang, einen Militärkonvoi Richtung Westen zu finden, Kettenfahrzeuge, lediglich mit Planen geschützt, für den Transport von Zivilisten in einem strengen Winter kaum geeignet, für Mutter, meinen Bruder und mich und für das Baby von nicht einmal 14 Tagen. Zum Glück waren Oma und meine Patentante dabei. Der Konvoi fuhr bis Dresden, dann ging es per Bahn in ein Dorf am Rande des Erzgebirges, wo ein Onkel von Mutter wohnte. Das war der westlichste Wohnort eines Familienmitglieds. Ein harter Schnitt, ein Blackout. Von alledem, was seit dem sechsten Geburtstag passierte, habe ich nichts mehr in Erinnerung. Nichts vom plötzlichen Aufbruch, nichts von den Tagen bei den Großeltern, vom neuen Baby, von den Militärfahrzeugen, nichts vom übervollen Dresdener Bahnhof ist haften geblieben. Alles ist Familienerzählung. War es zu furchterregend, dass der kleine Junge das alles sofort verdrängen musste? Auch von der ersten Bleibe in dem Erzgebirgsdorf ist kein Bild, nur ein Gefühl geblieben, Angst. Angst auch in diesem Bild: Mutter hat ihre Jungs auf dem Schoß, das Baby in der Mitte, so sitzt sie, den Blick zur Tür. Eine Angst, die nicht gleich wieder wegging, eher durch Erlebnisse verstärkt wurde. Die erste Erinnerung des kleinen Jungen ist ein Bach. Das Wehr fesselte mich besonders, Holzstücke konnten nicht wegschwimmen, weil sie immer wieder im Strudel rotierten, ließen mich nicht los. Der Bach fließt am Haus vorbei, unserer ersten Bleibe, das andere Ufer ist ein steiler Hang, und die Bauernhöfe stehen oben auf dem Berg. Von dort kamen die Russen, querfeldein, durch den Bach gewatet. Ohne Waffen, sie wollten bei den verängstigten Bewohnern Eier kaufen. Kaufen! Umsonst gezittert. Oma wohnte auf der anderen Straßenseite. Sie hatte einen Herd, konnte auch für uns kochen. Als es im Ofen eine Verpuffung gab, stand sie mit schwarzem Gesicht vor mir, sonst war nichts passiert. Ein verräterisch braunes HJ-Hemd versenkte Mutter vorsichtshalber in der Jauchegrube und nun, die Gefahr schien vorbei, fischte sie es wieder heraus. Es lag tagelang im Bach zum Spülen, mit einem Stein beschwert. Ich habe es später getragen, mit gekürzten Ärmeln. Ein blinder alter Herr wohnte in diesem Haus, sägte und hackte Brennholz, als Blinder! Ein kleines Mädchen gab es, seine Puppe hieß Zipp, ein Sofakissen, dem sie ein Kleid angezogen hatte, Kopf und Arme waren die Zipfel des Kissens. Wie ein Bilderbuch. Blatt für Blatt anzusehen, keine Erzählung. Nach vier Wochen zogen wir um, ins Erbgericht, einen Gasthof. Wieder in ein einziges Zimmer, über der Gaststube, mit einer Kochgelegenheit in einer Ecke, aber Platz genug, dass jeder sein eigenes Bett hat. Im Mai 1945 war Schluss mit den Gehaltszahlungen für die Lehrersfrau. Sie bekam eine Arbeitsbefreiungsbescheinigung, nun blieb Fürsorgeunterstützung. Von Vater fehlte jede Spur. Mutter wusste schon, dass er als ehemaliges NSDAP-Mitglied seinen Beruf nicht weiter würde ausüben können und suchte, ob vielleicht in der Umgebung eine Kantorenstelle frei wäre. Das war die Zeit, in der es an allem fehlte. Mutter hatte kein Geld mehr, kaum Möbel in dem Zimmer, keine Bekleidung, musste sich um Lebensmittel und Feuerholz kümmern. Woher hatte sie eigentlich das Geld für Möbel? Die Wohnungssuche wird ermüdend gewesen sein. Hilfe war kaum zu bekommen, und Mitgefühl mit diesen »Fremden« gab es selten. Auf Mutters Meldezettel stand die Notiz »Schlesien«, die später in »Polen« korrigiert wurde. Kennzeichnete das meine Mutter als Fremde oder sollte das nur »politisch korrekt« die Herkunft bezeichnen, weil ja die Neiße inzwischen die »Friedensgrenze« war? Der Bürgermeister beschimpfte sie: »Jetzt kommen Sie Nazi und fordern«. Ja, sie war Mitglied der NSDAP gewesen, hatte sich aber ohne Aufforderung der Entnazifizierung gestellt. In dem Dorf aber hatte es scheinbar nie einen Nazi gegeben! Erst sechzig Jahre später erfragte ich, wer dort Ortsbauernführer war und welcher Bauernsohn zu Heydrichs Gefolge in Prag gehört hatte. Im Erbgericht lebten auch Mutters Eltern. Tagsüber waren wir alle zusammen, zum Schlafen hatten sie ein ungeheiztes Zimmer. Sie zogen leider Anfang 1948 in die Oberlausitz zu ihrer älteren Tochter. Damit fiel eine große Hilfe für Mutter weg, sie hatte niemanden mehr, der bei ihren Beschaffungs-Aktionen ihre Kinder behütet. Mein Bruder und ich begleiteten Mutter oft bei diesen Beschaffungsaktionen. Für sie war das eine Notwendigkeit, für uns waren es Abenteuer. Barfuß auf Stoppelfeldern, mit einer eigenen Hacke beim Kartoffelstoppeln, im Wettbewerb mit denen, die aus den Städten angereist waren. Im Wald und auf Wiesen Pilze suchen, Fallobst sammeln an den Straßenbäumen. Opa rüttelte an manchen Ästen und kam sich mit dem Straßenwärter in die Haare. Opa, der Fremdkörper im Dorf, immer im Anzug (er hatte nichts anderes als diese Bekleidung, der Herr Versicherungsagent a.D.), oft mit Hut und Spazierstock, den er aber nur als Accessoire bei sich hatte – und zum »Äppel knitteln«. Er hatte eine Geschäftsidee, um die finanzielle Lage etwas aufzubessern: Er bot den Menschen, die wegen Kartoffeln, Getreide oder Eiern im Dorf waren, an, das schwere Gepäck mit dem Handwagen zum Bahnhof zu fahren, drei Kilometer. Ins Fenster hängte er ein Schild, selbst verfertigt mit seiner schönen Schrift: »Hier wird Handgepäck zur Bahn gebracht (1. Stock links)«. Wir durften ihn manchmal begleiten und auf dem Heimweg im Wagen sitzen. Allerdings konnte Opa im Dunkeln schlecht sehen, und wir landeten mehrmals im Straßengraben. Leider hatte er keine Genehmigung für dieses Dienstleistungsunternehmen, es wurde ihm untersagt. Der Bach floss unter dem Erbgerichtssaal durch, Mutter legte dort auf der Wiese Beete an. Uns interessierte eher der Bach, damals noch mit Fischen, Fröschen und allerlei Getier. Dass wir mit den anderen nicht drin baden durften, grenzte uns aus. Wie unsere Sprache, ich sagte Ratt statt Forod, ein großer Spaß für die anderen, ich fühlte mich sehr einsam in solchen Momenten. Und sonst? Nichts vom kleinen Bruder, nichts vom Baby? Doch, doch, aber stimmen diese Erinnerungsschnipsel? Ich fuhr »Rennen« mit dem Kinderwagen: Unter dem Griff hindurch gebückt, die Hände auf den Wänden der Wanne, die...


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