Bollinger | Oktoberrevolution. Aufstand gegen den Krieg 1917-1922 | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Bollinger Oktoberrevolution. Aufstand gegen den Krieg 1917-1922

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-360-51043-3
Verlag: Das Neue Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Im Oktober 1917 wurde die bürgerliche russische Regierung gestürzt. "Frieden" und "Brot" hießen die Losungen. Die neuen Kräfte beendeten den Krieg und leiteten den Aufbau einer gänzlich anderen Gesellschaft ein, was weitere Revolutionen nach sich zog: 1921 die Wende zu einer Neuen Ökonomischen Politik, die Beendigung des Bürgerkrieges und die Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken 1922. Die russischen Revolutionen werden heute als Teil einer revolutionären Welle im Gefolge des Ersten Weltkrieges gesehen und als Signal zur Ablösung des Kapitalismus. Der Historiker und Politikwissenschaftler Bollinger beschäftigt sich mit deren unterschiedlichen Auswirkungen bis in die Gegenwart. Er geht der Frage nach, ob der heutige globale Kapitalismus "revolutionär perfektioniert" oder nach dem Muster von 1917 überwunden werden sollte.
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II. Revolution – Epoche – Erbe – Tradition Revolutionsgeschichte staatsmännisch –
Die Große Russländische Revolution 1917–1922 Es ist für einen Nachfolgestaat schwierig, sich dem Erbe und den Traditionen seiner Vorgänger zu stellen. Zumal dann, wenn dieser neue Staat den mehr oder minder radikalen Bruch mit diesem Vorgänger und den Übergang zu einem anderen Eigentums- und Wirtschaftssystem bedeutet. Und der Nachfolgestaat sich wieder zu einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung durchgearbeitet hat. Dennoch, der sowjetische Staat, seine Gesellschaft, seine Wirtschafts- und Lebensverhältnisse wirken immer noch nach. Für die neuen Führer seit 1991, wohl auch schon für den späten Michail Sergejewitsch Gorbatschow, war es zunehmend schwierig, eine neue, nun kapitalistische Gesellschaft mit dieser 70-jährigen Vergangenheit zusammenzubringen. Mit Boris Nikolajewitsch Jelzin begann die kritiklose Ausrichtung an den westlichen einstigen Gegenspielern. Kapitalismus sollte mit schocktherapeutischen Mitteln in diese bis dato realsozialistische, gelegentlich noch kommunistisch-gleichmacherische und oft einfach anarchistische Gesellschaft eingepflanzt werden. Es blieb letztlich ein frühkapitalistisches Piratenwesen, in dem gerade einstige Wirtschafts-, Partei- und Komsomolfunktionäre geplant, spontan und/oder verbrecherisch sich das bisherige Volks-, genauer Staatseigentum unter den Nagel rissen, es privatisierten. In dem Moment, da eine russische Führung dieses zerstörerisch-konstruktive Chaos beendete, eine neue staatliche Ordnung mit einer starken Zentrale anstrebte und die Russländische Föderation wieder zu einer Großmacht aufsteigen lassen wollte, musste sie auch mit der Geschichte ins Reine kommen. War in der Perestroika- und Jelzin-Zeit die schonungslose Abrechnung mit der kommunistischen Vergangenheit das Topthema, wurden wirkliche oder vermeintliche Geheimnisse um das Verhalten der KPdSU und der Sowjetunion enthüllt, wurde versucht, die Verbrechen der Stalinzeit ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, die Opfer zu rehabilitieren und ihrer zu gedenken, so war nun eine umfassendere Neuorientierung erforderlich. Dabei zeigt sich, dass spätestens unter Wladimir Wladimirowitsch Putin nicht erfolglos eine Neuinterpretation der jüngsten Geschichte zwischen 1917 und 1991 anstand. Diese vergangene Phase ähnelte für viele den Wirren der Jahre zwischen 1598 und 1613, der Zeit der ungesicherten Macht und der polnischen Aggression. Der traditionelle Feiertag des 7. Novembers zur Erinnerung an die Oktoberrevolution verschwand 2005 in der historischen Versenkung, um als »Tag der Einheit des Volkes« nun jedes Jahr drei Tage früher, am 4. November, unter neuen Vorzeichen begangen zu werden. Er griff die Tradition des 1649 eingeführten Tages der Ikone der Gottesmutter von Kasan auf. Faktisch bezieht sich dieser Feiertag damals wie heute auf jenen 4. November 1612, als russische Aufständische die polnischen Eroberer aus Moskau verjagten. Russlands November-Feiertag wurde also »nationalisiert«, der Bezug auf jene internationalistische Revolution mit ihrem Gleichheits- und Demokratieanspruch kassiert. Heute diskutiert man immer noch, ob endlich der einbalsamierte Leichnam Lenins der Erde übergeben werden sollte; die 1918 erschossene Zarenfamilie ist von der Russisch-Orthodoxen Kirche im Jahre 2000 heiliggesprochen worden. Marx’ nüchterne historische Bilanz trifft hier voll zu: »Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.«139 Die heutige russische Führung will bezüglich ihrer Geschichte clever sein. Einerseits kann und will sie nicht diese Geschichte gänzlich verleugnen, ist doch das heutige russische Staatswesen wesentlich eine Fortsetzung des neuen russischen, richtiger sowjetischen Staates als Groß- und Supermacht, ungeachtet seines Scheiterns. Zum anderen kann sie nicht besonderen Wert auf die klassenmäßigen Ursachen der Ereignisse von 1917 legen. Denn dann müsste sie den kapitalistischen Charakter der heutigen Ordnung, die Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm, in Kapitalbesitzer und einfache Arbeiter, Angestellten und dergleichen als revolutionserheischend anerkennen. Denn hier ist die Mission des Oktober 1917 wieder aktuell und immer noch nicht erfüllt. Diese defensive Sicht auf die Oktoberereignisse sind eng verwoben mit der in Moskau berechtigten Furcht vor »bunten Revolutionen«: d.h. der besonderen Verbindung hausgemachter sozialer und politischer Konflikte mit der Einflussnahme westlicher Mächte auf diese Vorgänge. Die Erfahrungen mit Kiew, Tbilissi, mit Belgrad und anderen prowestlichen, vermeintlich demokratieträchtigen Umsturzversuchen lassen hier die Alarmglocken schrillen. Darum ist die oberste Parole, im Vorfeld des Revolutionsjubiläums 2017: Versöhnung und Russland zuerst. Präsident Putin ließ es sich nicht nehmen, in seiner Grundsatzrede zur Lage vor der Föderationsversammlung im Dezember 2016 dafür die Orientierung zu geben. Der Jahrestag sei »ein guter Moment für den Blick zurück auf die Ursachen und die Natur dieser Revolutionen in Russland. Nicht nur Historiker und Gelehrte sollten dies tun; die russische Gesellschaft braucht im Allgemeinen eine objektive, ehrliche und tiefgreifende Analyse dieser Ereignisse.« Denn »dies ist unsere gemeinsame Geschichte, und wir müssen sie mit Respekt behandeln«. Es gehe um ein gemeinsames Erbe. Putin mahnte: »Wir brauchen die Lektionen der Geschichte in erster Linie zur Versöhnung und für die Stärkung der sozialen, politischen und zivilen Eintracht, die wir erreichen konnten. Es ist inakzeptabel, Groll, Zorn und Bitterkeit der Vergangenheit in unser Leben heute zu übertragen und bei der Suche nach den eigenen politischen und anderen Interessen auf Tragödien zu spekulieren, die praktisch jede Familie in Russland, egal auf welcher Seite der Barrikaden unsere Vorfahren standen, kennt. Lasst uns erinnern, dass wir ein einziges Volk, ein vereintes Volk sind und wir nur ein Russland haben.«140 Der russische Präsident hat kein Problem, sich zu seiner eigenen wie der Vergangenheit seines Landes als kommunistisch zu bekennen. In einer Beratung im Januar 2016 betonte er: »Die Ideen des Sozialismus und Kommunismus haben mir immer sehr gefallen und tun es immer noch. Wenn wir das ›Gesetzbuch des Erbauers des Kommunismus‹ betrachten, das in der Sowjetunion weit verbreitet war, dann erinnert es sehr an die Bibel. Das ist kein Witz von mir, es ist tatsächlich eine Zusammenfassung aus der Bibel. Die Ideen sind gut: Gleichheit, Brüderlichkeit, Glück. Aber die praktische Verwirklichung dieser wunderbaren Ideen in unserem Land war sehr weit entfernt von dem, was die utopischen Sozialisten Henri de Saint-Simon und Robert Owen dargelegt hatten.« Und er schränkt diese Gefühlswallung als Politiker der neuen Ordnung mit dem Wissen um das Versagen und die Verbrechen der alten sofort ein. »Alle warfen dem Zarenregime dessen Repressionen vor. Aber womit begann die Sowjetmacht ihre Existenz? Mit Massenrepressionen. Ich will mich jetzt gar nicht über deren Maßstab äußern, aber ich gebe Ihnen ein schlagendes Beispiel: die Vernichtung und Erschießung der Zarenfamilie einschließlich ihrer Kinder. Natürlich konnte man noch vom Standpunkt der sozialistischen Idee argumentieren, dass man, sozusagen, mögliche Thronanwärter präventiv habe beseitigen müssen. Aber warum ist dann der Leibarzt […] erschossen worden? Warum das Gesinde, Leute proletarischer Herkunft immerhin. Zu welchem Zweck? Um das Verbrechen zu vertuschen. Wir haben früher über dieses Thema nie nachgedacht. O.k., wir haben gegen Leute gekämpft, die mit der Waffe in der Hand gegen die Sowjetmacht gekämpft haben. Aber warum haben wir dann die Geistlichen vernichtet? Allein im Jahre 1918 wurden 3000 Geistliche erschossen, 10000 im Verlauf von zehn Jahren. Am Don haben sie sie zu Hunderten unter die Eisschollen gestoßen. Wenn man beginnt, darüber nachzudenken, wenn man neue Informationen darüber bekommt, dann bewertet man auch viele Dinge anders.«141 Den Ausweg aus diesen Widersprüchen und die Begründung für die eigene Politik des russischen Wiederaufstiegs nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Demütigung durch den Westen sieht die russische Führung im Beschwören des einzigen und ewigen Gedankens eines russischen Staatswesens. Das hat, trotz aller Wirren und Kriege, trotz Katastrophen und Revolutionen Bestand. Es verkörpert eine tausendjährige Tradition, und die heutigen Politiker und Militärs verkörpern es in der Gegenwart. In einer Grundsatzrede hat der russische Kulturminister Wladimir Rostislawowitsch Medinski 2015 eine von allen klassenmäßigen Betrachtungen abgehobene...


Stefan Bollinger, Jahrgang 1954, Studium der Philosophie, Politikwissenschaften und Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, Hochschuldozent, seit 1990 in der Erwachsenenbildung tätig, Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, Mitglied der Leibniz-Sozietät und der Historischen Kommission beim Parteivorstand der Partei Die Linke, ehrenamtlicher Stellvertretender Vorsitzender Helle Panke e.V. und Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin.
Dr. sc. Stefan Bollinger arbeitet zur Geschichte der DDR und der BRD, zur osteuropäischen Geschichte und zu den Zusammenhängen von Ideologie- und Politikgeschichte.
In der edition ost erschien von ihm u. a. "Weltbrand, ›Urkatastrophe‹ und linke Scheidewege. Fragen an den ›Großen Krieg‹", 2014.


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