Bostridge | Das Lied & das Ich | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 148 Seiten

Bostridge Das Lied & das Ich

Betrachtungen eines Sängers über Musik, Performance und Identität

E-Book, Deutsch, 148 Seiten

ISBN: 978-3-406-80867-8
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



«Wenn man als Sänger auftritt, dann nimmt man eine Stimme an, aber bis zu welchem Grad ist diese Stimme Deine eigene? Oder die des Komponisten? Oder die des Dichters oder Librettisten? Und inwieweit bringt das Musikstück, das Du interpretierst, eine stille, manchmal unterschwellige Geschichte mit sich, die vielleicht Fragen aufwirft, welche im Konzertsaal selten gestellt werden können?»

Ian Bostridge, dessen unvergleichlich schönes Buch über Schuberts «Winterreise» hierzulande mit über 30 000 verkauften Exemplaren zu einem Bestseller geworden ist, erkundet in seinen eleganten Essays die hochkomplexe Interaktion zwischen der Identität des aufführenden Künstlers und den Identitäten, die intentional in einem Kunstwerk zum Ausdruck gelangen oder doch darin verborgen eingelagert sind. Claudio Monteverdis Oper «Il combattimento di Tancredi e Clorinda», Robert Schumanns «Frauenliebe und Leben» und die «Chansons Madécasses» von Maurice Ravel bilden dabei Anschauungsmaterial, an dem sich sowohl die «ewigen» Fragen der Interpretationskunst wie auch aktuelle Herausforderungen, etwa das Problem der «kulturellen Aneignung», diskutieren lassen.
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Vorwort
Diese Essays entstanden ursprünglich als Vorlesungen, die Berlin Family Lectures an der University of Chicago, und ich möchte zunächst der Familie Berlin und der University of Chicago für diese Einladung danken. Sie war eine wertvolle Gelegenheit nachzudenken. Als Sänger hatte ich 2020 und 2021 aufgrund der Pandemie kaum Gelegenheit, live aufzutreten. Daher war ich, wie alle Künstler weltweit, gezwungen, eine Identität, ein Selbst, in Frage zu stellen, das in den vergangenen 20 oder 30 Jahren dadurch definiert war, auf der Bühne zu stehen und dem Publikum in Konzertsälen und Opernhäusern Musik unmittelbar physisch und in Echtzeit nahezubringen. Meine Karriere war insofern ungewöhnlich, als ich vor meiner professionellen Laufbahn als Sänger, die erst mit Ende 20 begann, akademischer Historiker war. Die erzwungene Stille des vergangenen Jahres gab mir die Möglichkeit, mich wieder auf meine Identität als Historiker zu besinnen und nachzudenken. So konnte ich mich intensiver, als ich es sonst getan hätte, mit den Hintergründen einiger der großartigsten Werke klassischer Musik befassen, die ich in der Vergangenheit interpretiert habe oder gerne noch interpretieren möchte, von Komponisten, angefangen bei der italienischen Renaissance mit Claudio Monteverdi bis hin zu Benjamin Britten im England des 20. Jahrhunderts. In diesen Essays werde ich mich auf eine Reise unter die Oberfläche jener Werke wagen, um meine Funde zu teilen und Fragen zu stellen, die im Konzertsaal für gewöhnlich nicht gestellt werden. Die Tradition der westlichen klassischen Musik ist keineswegs dem Untergang geweiht oder kulturell autoritär, sondern weiterhin lebendig, da sie uns immer wieder dazu einlädt, Fragen zu stellen. Die einzelnen musikalischen Werke, die ich erkunden möchte, erweisen sich als fluide und offen, bewirken aber zugleich, dass wir uns emotional mit den Konflikten und Widersprüchen menschlicher Erfahrung auseinandersetzen, einschließlich genderspezifischer oder kolonialer Machtverhältnisse und der Art und Weise, wie wir der ultimativen Auflösung von Identität, dem Tod, begegnen – ein Aspekt, der während der seit über einem Jahr andauernden globalen Pandemie gedanklich in den Vordergrund gerückt ist. Im besten Falle verkörpert Musik mit seltsamer Kraft das, was der Dichter John Keats «Negative Capability» («negative Fähigkeit») nannte, die kreative Fähigkeit, mit Zweifeln und Mysterien zu leben. Sie bringt uns zum Nachdenken und trägt uns zugleich über das Denken hinaus. Die Frage (und Hinterfragung) der Identität ist der Ausgangspunkt dieser Essays, aber sie bleiben doch immer noch Essays: provisorisch, experimentell, suggestiv. Sie legen keine These dar; sie haben keine Agenda. In ihren Gedankengängen streben sie danach, Komplexität ans Licht zu bringen oder hervorzuheben, Textur hinzuzufügen, zu problematisieren. Da ich mich instinktiv auf meine Praxis als Interpret berufe, widme ich mich diesen Themen nicht als Philosoph oder Sozialtheoretiker, sondern aus dem Gefühl heraus, dass sich persönliche Identität aus einer Begegnung des Selbst mit dem, was außerhalb des Selbst liegt, bildet: dass sie sowohl kulturell konstruiert als auch durch intuitive Subjektivität geformt wird. Wenn Identität zum Teil performativ ist, dann sollen diese Essays wiederum eine Performance mit offenem Ausgang bieten, in der ich den Leser – das Publikum – dazu einlade, auf die verschiedenen Stränge, Themen und Variationen zu reagieren, wie sie es vielleicht auch bei einem Musikstück selbst tun würden. Der erste Essay befasst sich damit, wie die Vokalwerke von Monteverdi, Schumann und Britten – keines direkt opernartig – die Geschlechtergrenzen verwischen können. Im zweiten Essay gehe ich den historischen und politischen Wurzeln eines einzelnen Liedes aus Ravels Chansons Madécasses (Madagassische Lieder) nach, das mich immer verfolgt und verunsichert hat. Ich hoffe, unsere Resonanz darauf intensivieren und schulen zu können, und möchte über Vergangenheit und Zukunft nachdenken, indem ich den unklaren, oft verstörenden Kontext des Liedes und die Art ergründe, wie es koloniale und «alterisierte» Identitäten, «verAnderte» («othered») Identitäten konstruiert und dekonstruiert. Im dritten Essay schließe ich mit dem Tod, weil er das Ende von allem ist; weil die Musik zum Tod spricht; und weil der Tod die Abwesenheit ist, in deren Angesicht jede menschliche Identität konstruiert ist. * Bei jeder Aufführung ist Identität etwas, womit wir Interpreten uns auseinandersetzen müssen. Wir spielen eine Doppelrolle. Jedes Mal, wenn wir auf der Bühne stehen, um einen Text vorzutragen, ihn zu reproduzieren oder zu übermitteln, sei er musikalisch oder literarisch oder eine Kombination aus beidem, müssen wir (bewusst oder unbewusst) eine Entscheidung über den Charakter dieses Textes und die Haltung, die wir ihm gegenüber einnehmen, treffen. Wie sollen wir ihn, ganz buchstäblich, verkörpern? Übernehmen wir die Identität des Textes, den wir verinnerlicht haben, oder verändert sich der Text, indem er der Identität des Interpreten angepasst wird? Es gibt viele Herangehensweisen und viele Orthodoxien, die, manchmal unreflektiert, im Zentrum kritischer Diskurse stehen. Zentral für die Wertschätzung der westlichen Kunstmusiktradition ist die Idee der «Interpretation», wobei Interpretation als ein teils schamanisches, teils wissenschaftliches Streben nach der «richtigen» Darbietung verstanden wird. Es handelt sich um eine seltsame Vorstellung, die wir allerdings nicht in exakt derselben Weise im Sprechtheater anwenden. Wenn ein großer Schauspieler oder eine große Schauspielerin Macbeth, Hedda Gabler oder Archie Rice «interpretiert», dann ist es ganz einfach seine beziehungsweise ihre Performance. Der Schauspieler nimmt den Text und geht damit um, und die Vorführung, die daraus entsteht, ist normalerweise keine Suche nach etwas Gesetzmäßigem oder Autoritativem. Der Interpres ist im Lateinischen ein Akteur zwischen zwei Parteien, ein Vermittler oder Verhandlungsführer. Eine Theateraufführung ist eine Verhandlung zwischen Text und Schauspielern. In der klassischen Musik herrscht ein Paradox, da die ideale Interpretation im Grunde genommen eine Nicht-Interpretation ist. Lange Zeit gab es eine Tendenz, dem Text, in diesem Fall der Partitur, den Vorzug zu geben, eine Tendenz, die in der abstrakten Musik des 20. Jahrhunderts mit der Vorstellung, dass der Interpret im besten Fall ein transparentes Individuum ist, ihren Höhepunkt erreichte. Komponisten wie Strawinsky wollten die Freiheit des Vortragenden durch Genauigkeit in der Notation aufheben. Nicht umsonst experimentierte er in den 1920ern mit der mechanischen Notenrolle, um auf diese Weise der ärgerlichen Notwendigkeit der Vermittlung durch einen Interpreten zu entkommen.[1] Einem solchen Verständnis von Interpretation folgend, nutzt man den Text des Komponisten, um eine ideale Interpretation zu erspüren, die zwar unerreichbar bleibt, nichtsdestotrotz jedoch ein absolutes regulatorisches Prinzip und ein Ziel darstellt. Bei den Proben wird viel Zeit auf Diskussionen darüber verwandt, was der Komponist «meinte» (auch wenn das in der Praxis sehr oft ignoriert wird …). Die ultimative Ausdrucksform dieses Konzepts wurde durch den Theoretiker Heinrich Schenker (1868–1935) artikuliert. Im Grunde, so Schenker, benötige eine Komposition keine Aufführung um zu existieren … das Lesen einer Partitur genüge.[2] Darin liegt etwas zutiefst Theologisches, das zurückreicht bis zu den Debatten der Renaissance über Form und Substanz, aber für den Interpreten ist es sicherlich ein Schlag ins Gesicht. Der klassische Sänger steht gewissermaßen zwischen diesen beiden Polen, und das ein wenig ungünstig. Für den Opernsänger stehen die Erfordernisse des Theaters und eine schauspielerische Attitüde weitgehend im Vordergrund. Ein Opernsänger ist ein Schauspieler. Im Konzertrepertoire und ganz besonders im Bereich des Liedes sind die Dinge verworrener, und es herrscht oft eine Forderung oder ein gefühltes Bedürfnis, die Dramatisierung zu vermeiden, eine sich selbst verleugnende Beschränkung im Dienste der Vorstellung einer uninterpretierten natürlichen Vortragsweise, die gleichsam mit Strawinskys Argwohn gegenüber der Expressivität in der klassischen Musik verbunden ist. Diese Idee einer natürlichen Interpretation ist gewiss ein Mythos – Kunst ist immer artifiziell –, aber die Debatte, wie man Lieder auf der Bühne singen soll, reicht zurück bis in Schuberts Zeit. Glücklicherweise hat man durch eine neue performative Wende in der Musikwissenschaft anerkannt, dass Musik schlichtweg Aufführung und nicht nur der...


Ian Bostridge ist ein auf der ganzen Welt gefragter Liedsänger, der auch in Deutschland regelmäßig Konzerte gibt und mehrfach mit dem Echo-Klassik ausgezeichnet wurde. Sein in viele Sprachen übersetztes Buch «Schuberts Winterreise. Lieder von Liebe und

Schmerz» liegt in der 5. Auflage vor.


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