Boyle | Ein Freund der Erde | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 360 Seiten

Boyle Ein Freund der Erde

Roman

E-Book, Deutsch, 360 Seiten

ISBN: 978-3-446-23967-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Wir schreiben das Jahr 2025: Der Treibhauseffekt hat voll zugeschlagen, im Loiretal wird nicht mehr Wein, sondern Reis angebaut, die meisten Säugetiere sind ausgestorben und das Essen ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Ty Tierwater, militanter Umweltschützer, verbrachte mehr Zeit im Knast als in der freien Natur. Da taucht eines Tages seine zweite Frau Andrea mit einem ganz besonderen Anliegen auf.
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PROLOG
Santa Ynez, November 2025 Ich verfüttere gerade Kraftkekse und Hühnerrücken an die Hyäne und tue mein Bestes, um nach dem letzten Unwetter einigermaßen aufzuräumen, als das Telefon klingelt. Es meldet sich Andrea. Meine Exfrau Andrea Knowles Cotton Tierwater, meine Ehegattin von vor tausend Jahren, als ich noch jung und kraftvoll und gnadenlos männlich war – die Frau, die sich damals, als wir noch glaubten, so etwas hätte einen Sinn, regelmäßig an Kräne, Bulldozer und siebenhunderttausend Dollar teure Holzharvestermaschinen ketten ließ, die Frau, die mir half, meine Tochter großzuziehen, die Frau, die mich in den Wahnsinn trieb. Verdammt noch mal. Wenn schon jemand von damals wiederauftaucht, wieso dann nicht Teo? Bei dem wäre es leichter – ihn könnte ich einfach umbringen. Peng. Dann hätte Lily auch gleich was anderes als Hühnerfleisch zum Abendessen. Auf jeden Fall sind hier überall Bäume umgestürzt, und der Schlamm zerrt an meinen Gummistiefeln wie ein gierig saugendes Maul, das mich irgendwann bestimmt in den Abgrund reißen wird, aber einstweilen noch nicht. Mag sein, daß ich fünfundsiebzig bin und meine Schultern sich anfühlen, als wären sie mit Angelhaken an den Gelenken befestigt, aber die neue Niere, die sie mir eingesetzt haben, verrichtet ihre Klärfunktion ganz hervorragend, danke der Nachfrage, und ich kann immer noch besser arbeiten als die meisten der verzärtelten Halbidioten hier. Außerdem kann ich Dinge, die nicht jeder kann – ich bin ein Tierexperte, von denen sind heutzutage nicht mehr viele übrig, und Maclovio Pulchris, mein Chef, weiß das zu schätzen. Übrigens will ich hier nicht unnötig mit Namen um mich werfen, keineswegs – ich nenne nur die Fakten. Mir untersteht seine Privatmenagerie, die letzte dieser Art in unserem Teil der Welt, und es ist ein wichtiges – ich korrigiere: ein essentielles – Reservoir für das Zoocloning und die Verteilung dessen, was von den bekannten Säugetierarten noch geblieben ist. Und man kann sagen, was man will, über Popstars im allgemeinen oder die Qualität von Macs Musik im speziellen oder sogar darüber, wie es aussieht, wenn er seinen Hut und die Sonnenbrille abnimmt und man sehen kann, mit was für einer lächerlichen kleinen Quetschkartoffel von Kopf er gesegnet ist, aber eines sag ich euch: er ist ein echter Tierfreund. Allerdings wird von seiner Menagerie nicht allzuviel übrigbleiben, wenn dieses Wetter nicht nachläßt. Es ist nicht mal Regenzeit – oder was wir früher die Regenzeit genannt haben, als verstünden wir irgendwas davon –, trotzdem reihen sich über dem Pazifik die Gewitter wie Billardkugeln auf einem Pooltisch, und nirgends eine Tasche zum Einlochen. Vor zwei Tagen blies nachts ein starker Wind, der von einem der hinteren Gehege das Dach abriß und wie ein Riesenfrisbee in die Apartmentsiedlung Lupine Hill gegenüber krachen ließ. Mac war das eher egal – niemand ist heute noch gegen Wetterschäden versichert, Klagen vor Gericht werden automatisch abgewiesen, also was soll’s –, aber das Bittere daran war, daß der Patagonische Fuchs ausbüxen konnte, vermutlich das letzte in Freiheit geborene Exemplar seiner Art auf diesem abgewrackten Planeten, und bis jetzt haben wir das Vieh noch nicht wiedergefunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Keine Spuren, gar nichts. Die Füchsin ist einfach weg, als hätte der Sturm sie mitgerissen wie Dorothy Gale und in irgendeinem Zauberland abgesetzt, wo die ausgestorbenen Fleischfresser aller Epochen zwischen Massen von gefesseltem Wildbret wahre Orgien feiern – oder aber mitten auf einer Schnellstraße, wo das Tier für den Durchschnittsfahrer wohl nichts als ein Hund auf Stelzen wäre. Und die Pangoline sind auch alle weg. Dabei gibt’s weltweit nicht mal mehr fünfzig dieser Schuppentiere. Es ist eine Schande, aber was soll man machen – den Suchdienst anrufen? Es hat uns alle hart getroffen. Überschwemmungen, Sturm, Donner und Blitz, sogar Hagel. Eine Menge Leute haben kein Dach mehr überm Kopf, und zwar hier bei uns in Santa Barbara County, nicht nur in Los Andiegoles oder San José Francisco. Jetzt aber Lily. Sie betrachtet mich lange aus ihren eidottergelben Augen, und ich bin froh, daß ich angesichts der Fleischsituation in letzter Zeit wenigstens Hühnerrücken habe, als das Bildtelefon läutet (man denke hier an Dick Tracy, denn inzwischen ist die ganze Welt ein Comic strip). Der Himmel ist schwarz – nicht grau, schwarz –, dabei kann es kaum drei Uhr nachmittags sein. Alles ist still, und ich rieche ihn wie eine sich ballende Wolke: den Tod, den Tod von allem, hoffnungslos und stinkend und kaputt, die Farben haben kein Pigment mehr und die Gebäude keine Farbe, Autos liegen verlassen neben der Fahrbahn, und schon fängt es wieder an zu regnen. Ich spreche zu meinem Handgelenk (ohne Bild allerdings – der Bildknopf ist fest und für immer auf OFF geschaltet: weshalb sollte ich diese Ruine von einem Gesicht irgendwem zeigen wollen?). »Ja?« rufe ich, und der Regen wird jetzt heftiger, vom Wind gepeitscht, schlägt mir ins Gesicht wie ein nasses Handtuch. »Ty?« Die Stimme klingt rissig und zerfurcht, wie die Erde hier, wenn die Unwetter nach Nevada und Arizona weiterziehen und die Sonne zurückkehrt, um mit ihrer vollen ungefilterten melanomischen Macht auf uns niederzuknallen, aber ich erkenne sie sofort, auch nach zwanzig Jahren. Es ist eine Stimme, die mich körperlich berührt, mich aus dem Nichts heraus anspringt und an der Gurgel packt wie ein Wesen, das vom Blut anderer Wesen lebt. »Andrea? Andrea Cotton?« Kurze Pause. »Gütiger Gott, du bist es, oder?« Leise und verführerisch, während der Wind auffrischt und Lily mich hinter dem Maschendrahtzaun fixiert, als wäre ich der Hauptgang, fragt sie: »Kein Bild für mich?« »Was willst du, Andrea?« »Ich möchte dich sehen.« »Tut mir leid, mich kriegt keiner zu sehen.« »Ich meine persönlich, von Angesicht zu Angesicht. So wie früher.« Der Regen rinnt von meinem Hut herunter. Einer der inzüchtigen Löwen fängt an, sich seine armselige Lunge rauszuhusten, ein rasselndes, eigenartig mechanisches Geräusch, das über die mit Unkraut bewachsene Wiese schallt und an der monolithischen Fassade der Apartmenthäuser als Echo abprallt. Ich bemühe mich, einen ganzen Schwall von Gefühlen zu unterdrücken, aber sie tauchen dauernd wieder auf, durchstoßen die Oberfläche, drohen sich loszureißen und ein für allemal aus dem Ruder zu laufen. »Wozu?« »Was glaubst du wohl?« »Ich weiß nicht – um meine Kontokarten zu überziehen? Mir ins Hirn zu scheißen? Die Erde zu retten?« Lily rekelt sich und gähnt, zeigt mir ihre langen gelben Fangzähne und die großen, malmenden Molaren weiter hinten im Maul. Eigentlich sollte sie draußen auf der Steppe sein und Giraffenknochen knacken, das Mark aus den Wirbelkörpern saugen, Hufe zernagen. Nur daß es keine Steppe gibt, nicht mehr jedenfalls, und Giraffen auch nicht. In meinem Hirn hat sich etwas losgerissen und schreit: ES IST ANDREA! Und sie ist es. Andreas Stimme meldet sich wieder. »Nein, du Narr«, sagt sie. »Aus Liebe.« Ja, ich bin ein Narr, ein Narr der tausend Kostüme und bunten Hüte, und zum Beweis dafür willige ich in ein Treffen mit ihr ein, ohne viel Gegenwehr und nach nur höchst kümmerlichem Vorspiel, denn die vertraute Stimme wütet in meinem Kopf wie eine Faust, die einen abgenagten Knochen hält. Wann genau haben wir uns zum letztenmal gesehen? Entweder 2002 oder 03. Wir gingen damals gemeinsam klettern, wir tanzten, bis die Musik uns taub werden ließ, und wir vögelten, bis die Vögel erwachten und sangen und an Altersschwäche starben. Einmal brachten wir dreißig Tage nackt in der Sierra Nevada zu, und wenn das auch nicht gerade so wie in Die blaue Lagune ablief, war es doch eine Erfahrung, die man nie vergißt. Und, na ja, meine edelsten Teile sind durchaus noch in Ordnung, Viagra Supra hab ich nicht nötig und auch keine Penisimplantate, besten Dank, und ich frage mich, wie sie nach so langer Zeit wohl aussieht. Sie ist acht Jahre jünger als ich, und falls die Regeln der Mathematik nicht ebenso zusammengebrochen sind wie alles andere, dann müßte sie jetzt siebenundsechzig sein, was aus meiner Perspektive ein höchst interessantes Alter für eine Frau ist. Also klar, ich werde mich mit ihr treffen. Aber nicht hier. So ein großer Narr bin ich auch wieder nicht. Ich vereinbare für heute abend sechs Uhr ein Stelldichein in Swensons Wels-und-Sushi-Restaurant in Solvang, trotz des strömenden Regens und der ausgewaschenen Straßen, denn ich hab den Geländewagen von Mac, und was sie hat oder wie sie hinkommt, ist nicht mein Problem. Jedenfalls noch nicht. Aber sie wird dasein, darauf wette ich. Sie will irgendwas – Geld, ein Bett zum Übernachten, Kleider, eine gute Flasche Wein, meine letzte Dose mit Alaska-Königskrabben (inzwischen ausgestorben, so wie alles andere, was im Meer schwimmt oder krabbelt, außer vielleicht Zebramuscheln) –, und sie kriegt immer, was sie will. Ich versuche, sie mir vorzustellen, wie sie damals war, Mitte Vierzig, und ich sehe als erstes ihre Augen – Augen, die einen packen und nicht wieder loslassen, heiß und hart und versengend wie zwei Fackeln. Und ihre Brüste. An die erinnere ich mich auch. Ich glaube, sie ist nie im Leben aus dem Haus gegangen, wenn sie nicht etwas anhatte, das an ihr klebte wie frischer Lack. Bis auf diesen Monat in der Sierra Nevada; da trug sie nichts als eine Schicht Dreck und Mückenstiche. Andrea. Ja, sicher, es wird Laune machen, sie wiederzusehen, auch wenn gar nichts passiert – und wie gesagt, ich bin noch nicht jenseits von Gut und Böse, was Sex...


Boyle, T.C.
T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, unterrichtete an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Willkommen in Wellville (Roman, 1993), América (Roman, 1996), Riven Rock (Roman, 1998), Fleischeslust (Erzählungen, 1999), Ein Freund der Erde (Roman, 2001), Schluß mit cool (Erzählungen, 2002), Drop City (Roman, 2003), Dr. Sex (Roman, 2005), Talk Talk (Roman, 2006), Zähne und Klauen (Erzählungen, 2008), Die Frauen (Roman, 2009), Das wilde Kind (Erzählung, 2010), Wenn das Schlachten vorbei ist (Roman, 2012), San Miguel (Roman, 2013), die Neuübersetzung von Wassermusik (Roman, 2014), Hart auf hart (Roman, 2015), die Neuübersetzung von Grün ist die Hoffnung (Roman, 2016), Die Terranauten (Roman, 2017) und Good Home (Erzählungen, 2018).


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