Boyle | Wenn das Schlachten vorbei ist | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

Boyle Wenn das Schlachten vorbei ist

Roman

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

ISBN: 978-3-446-23952-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Zwei Fraktionen von Umweltschützern liefern sich einen erbitterten Kampf. Schauplatz sind die Channel Islands vor der Südküste von Kalifornien, wo die Umwelt vom Menschen empfindlich gestört wurde. Soll man das Gleichgewicht des Ökosystems mit viel Steuergeldern wiederherstellen - was zwangsläufig die Ausrottung mancher Tierarten bedeutet -, oder soll man um jeden Preis das Töten verhindern? T. C. Boyles furioser, apokalyptischer Roman handelt von der Ausbeutung der Natur durch den Menschen und den katastrophalen Folgen. Boyle hat eines seiner ältesten Themen weiterentwickelt, nie war er so bitter und böse, nie war es ihm so ernst.
Boyle Wenn das Schlachten vorbei ist jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


RATTUS RATTUS
Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie so durstig gewesen. Sie hatte Durst nie gekannt, hatte nie gewusst, was es wirklich bedeutete, durstig zu sein, wenn sie in einer Zeitschrift von Beduinen gelesen hatte, die von ihren Kamelen gefallen waren, von Kamelen, die unter ihren Reitern zusammengebrochen waren, von amerikanischen Soldaten, die in den Dünen Nordafrikas, wo Wasser nichts weiter war als eine Luftspiegelung, den Gerüchten über Rommels Panzer nachgegangen waren, denn sie war in einem Haus mit fließendem Wasser aufgewachsen, wo das Gras morgens nass vom Tau gewesen war und man in einem Schnellimbiss oder am Automaten in der Tankstelle nebenan jederzeit eine Cola kriegen konnte. Wenn sie durstig war, trank sie etwas. So einfach war das. Jetzt wusste sie es. Jetzt wusste sie, wie es war, wenn man nichts zu trinken hatte, wenn Klauen sich in die Kehle bohrten, wenn die Zunge pelzig und geschwollen im Grab des Mundes lag und man kaum noch schlucken oder atmen konnte. In der Kühlbox war Eis – und Bier, kaltes Bier, die Flaschen klirrten im Rhythmus der Wellen –, doch sie wagte es nicht, den Deckel zu öffnen, nicht einmal für einen Augenblick. Die Luft darin hielt sie über Wasser, und wenn sie den Deckel öffnete, würde die Luft entweichen, und was würde dann aus ihr werden? Die Flaschen klirrten. Ihre Kehle war geschwollen. Die Sonne brannte auf ihr Gesicht. Doch dies war eine besondere Folter, für sie allein erdacht, schlimmer als alles, was der sadistischste japanische Kommandant hätte anordnen können, und sie fragte sich immer wieder, was sie getan hatte, um dies zu verdienen: Das Eis, das Bier, die herrliche, kalte, schäumende blassgoldene Flüssigkeit in der von Kondenswasser glänzenden Flasche war nur Zentimeter entfernt, und sie war dabei zu verdursten. Bei dem Gedanken daran schluckte sie unwillkürlich, dabei war ihre Kehle so wund wie damals, als sie als kleines Mädchen eine Mandelentzündung gehabt hatte: Sie hatte sich vor Schmerzen im Bett hin und her gewälzt, die Jalousien waren zugezogen gewesen, der steif gestärkte Bettbezug hatte gescheuert, und dann war ihre Mutter gekommen wie ein barmherziger Engel und hatte ihr Ginger Ale in einem großen, kalten Glas gebracht und Scherbet und Weingummi und Eiswürfel aus gefrorenem Traubensaft, die sie zwischen den Zähnen halten und auf der Zunge zergehen lassen konnte, bis sie sich aufgelöst hatten. Die Hand ihrer Mutter kam näher, sie sah sie vor sich, vor dem Hintergrund der Wellen, sie sah das Gesicht ihrer Mutter und das beschlagene Glas in ihrer Hand. Es war unerträglich. Sie gab nach und benetzte die Lippen mit Meerwasser, obwohl sie wusste, dass sie das nicht tun sollte, dass es falsch war und alles nur noch schlimmer machen würde, doch sie konnte nichts dagegen tun, und ihre Zunge streckte sich und leckte das Wasser, als gehörte sie nicht ihr. Die Erleichterung war sofort spürbar und durchpulste sie wie eine Droge: Wasser floss in ihren Körper. Aber dann, fast gleich darauf, schwoll ihr die Kehle zu, und ihre aufgesprungenen Lippen begannen zu bluten. Blut. Das war das zweite Problem. Beide Ellbogen waren aufgeschürft, und auf dem Rücken der linken Hand, die nicht vom Kaffee verbrüht worden war, klaffte ein unregelmäßiger Riss. Woher er stammte, wusste sie nicht, und die Kälte machte sie so gefühllos, dass sie den Schmerz nicht spürte. Es war klar, dass die Wunde würde genäht werden müssen und eine Narbe zurückbleiben würde, und sie hatte den Riss schon seit einer Weile immer wieder betrachtet und daran gedacht, dass sie nach ihrer Rückkehr zu einem Arzt gehen würde, ja sie hatte sich bereits überlegt, was sie zu ihm sagen würde, nämlich dass sie einen erstklassigen Arzt wolle, denn sie wolle unter keinen Umständen eine entstellende Narbe, nicht in ihrem Alter. Doch hier und jetzt blutete sie, und jede Welle wusch die Wunde aufs neue aus und schwemmte etwas rosarote Flüssigkeit heraus, die sich sofort im Wasser verteilte. Diese Flüssigkeit war Blut. Und Blut lockte Haie an. Wieder ein Anfall von Panik. Ihre Beine hingen im Wasser wie Köder, wie eine Provokation, und sie konnte sie nicht sehen und kaum spüren. Wenn Haie kamen – sofern sie kamen –, würde sie sich nicht verteidigen können. Sie war in einem kindlichen Alptraum gefangen, einem uralten Traum aus der Zeit, als es noch kein Land gegeben hatte, als alle Wesen, die es gab, im Wasser geschwommen waren, mitten unter den Tieren mit den scharfen Zähnen, die sie auffraßen. Sie versuchte, ihre verletzte Hand über Wasser zu halten, versuchte, nicht an das zu denken, was sich unter ihr, hinter ihr befand, was vielleicht gerade jetzt langsam, träge aus den Tiefen emporschwebte wie ein Ballon, der langsam über den Abendhimmel trieb. Doch sie musste denken. Sie musste sich angst machen, um am Leben zu bleiben. Seit sie auf die Kühlbox gestoßen war, hatte sie sich auf verschiedene Weisen daran festgehalten: Sie hatte sich wie ein Reiter darauf gesetzt und sie zwischen die Beine geklemmt, hatte sie tief unter Wasser gedrückt, sich mit den Füßen darauf gestellt und auf dieser schwankenden Unterlage gehockt, hatte sich, den Rücken gekrümmt und die Beine weit gespreizt, um das Gleichgewicht zu bewahren, auf den Deckel gelegt, so dass dieser zwischen ihren Brüsten und dem Unterleib eingeklemmt war. Jetzt versuchte sie, sich mit dem ganzen Gewicht darauf zu knien, als würde sie beten – und sie betete, o ja, sie betete –, und sie mühte sich, die verletzte Hand über Wasser zu halten und wie ein Artist auf dem Hochseil zu balancieren, doch die Wellen ließen es nicht zu. Immer wieder rutschte sie herunter, so dass die Box sich von ihr entfernte und sie einige Schwimmzüge machen musste, um sich mit weißglühender Angst daran festzuhalten, und dabei konnte sie an nichts anderes denken als an die lautlos dahingleitende Gestalt, die aus der Tiefe heranschoss, um sie mit einem Korb aus Zähnen zu packen. Sie hatte nur einmal einen Hai gesehen. Es war auf der Pier von Santa Monica gewesen, kurz nachdem Till aus dem Krieg zurückgekehrt war. Sie waren untergehakt stundenlang am Strand entlang und dann bis zum äußersten Ende der Pier gegangen; die nackten, hellen Bohlen hatten unter ihren Schritten leicht gefedert, und die Meeresbrise war herrlich kühl gewesen. Sie hatte sich so lebendig gefühlt, so in Anspruch genommen von Till und seiner Verwandlung aus etwas Erinnertem in etwas tatsächlich Vorhandenes aus Fleisch und Blut, in die Hand, die er um ihre Taille gelegt hatte, in die Stimme, die ihr etwas ins Ohr flüsterte, dass winzige Kleinigkeiten ihr erregend neu erschienen, als wären sie noch nie zuvor von jemandem bemerkt worden. Ein Pappbecher voller Zuckerwatte, so leuchtend rosarot, dass sie nicht von dieser Welt zu sein schien, kam ihr so seltsam vor, als hätten Marsmenschen ihn überbracht. Ebenso der tätowierte Mann, der sich in der Hoffnung auf ein paar Münzen nur mit einer Badehose bekleidet präsentierte, und die achtzigjährige Schönheitskönigin in ihrem zweiteiligen Badeanzug und sogar der Burger mit Zwiebelringen und reichlich Ketchup, den sie im Stehen unter der sonnenbeschienenen Markise des Standes am Fuß der Pier verzehrten, schmeckte besser als jeder, den sie je gegessen hatte. Ihre Füße schienen den Boden gar nicht zu berühren. Sie beide waren da, sie und Till, und sie schlenderten dahin wie irgendein ganz normales Paar. Sie konnten nach Hause und ins Bett gehen, wann immer sie die Lust dazu überkam, sie konnten sich in irgendeiner dunklen Kneipe Highballs bestellen, sich in eine Ecke setzen und der Jukebox zuhören, sie konnten langsam und gemütlich den Ocean Boulevard entlangfahren, mit heruntergekurbelten Fenstern, so dass der Wind mit ihren Haaren spielen konnte. Ihr Traum war wahr geworden. Doch dann, mitten in diesem Traum, war da der Hai. Am Ende der Pier stand eine Menschenmenge, und aus Neugier schlenderten sie hin. Erwachsene reckten die Hälse, Kinder drängten sich durch die Menge, um besser sehen zu können, und da war er, eine weitere Neuigkeit, der erste echte Hai, den sie je zu Gesicht bekommen hatte. Er war, noch tropfend, mit einem dicken Strick am Schwanz aufgehängt, die Schnauze hing nur Zentimeter über den ausgebleichten Bohlen der Pier. Der Angler, der ihn gefangen hatte – ein Neger, und auch dies war etwas Neues: ein Neger, der auf der Pier von Santa Monica angelte –, stand links daneben, während sein Freund, ebenfalls ein Neger, mit einer Boxkamera ein Foto machte. »Nicht bewegen jetzt«, sagte er. »Und lächeln. Na los, lächel doch mal.« Eine Frau neben Beverly machte ein kehliges Geräusch, aus dem eine Mischung aus Abscheu und Faszination sprach. »Was ist das?« fragte sie. »Ein Schwertfisch?« Der Angler lächelte breit, und die Kamera klickte. »Sehen Sie vielleicht irgendwo ein Schwert?« fragte er rhetorisch. »Ich nicht.« »Das ist ein Delphin«, sagte jemand. »Das ist kein Delphin«, entgegnete der Angler, der sich köstlich amüsierte. »Und auch kein Thunfisch.« Er beugte sich zum Kopf des Tiers, zu den Kiemenschlitzen und dem starrenden Auge, packte die leblose Schnauze und zog sie hoch. »Sehen Sie die Zähne?« Und da waren sie, plötzlich enthüllt, eine ganze Landschaft aus hintereinander angeordneten, gezackten Zähnen, die sich in der Terra incognita des dunklen Schlundes verlor, und ihr wurde bewusst, dass dies ein Hai war, die Geißel der sieben Meere, das einzige Tier, das alle anderen fraß, das in einer Explosion von Schaum an die Oberfläche kam, um einen Seelöwen zu packen oder einen Surfer zu verstümmeln und am Strand von La Jolla oder Redondo für Schlagzeilen zu sorgen, die schon eine Woche später wieder vergessen waren. »Wissen...


Gunsteren, Dirk van
Dirk van Gunsteren, 1953 geboren, studierte Amerikanistik und lebt in München. Er übersetzte u.a. T.C. Boyle, Peter Carey, Jonathan Safran Foer, Patricia Highsmith, John Irving, Colum McCann, V.S. Naipaul, Thomas Pynchon, Philip Roth, Richard Stark, Oliver Sacks und Castle Freeman. 2007 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis.

Boyle, T.C.
T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, unterrichtete an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Willkommen in Wellville (Roman, 1993), América (Roman, 1996), Riven Rock (Roman, 1998), Fleischeslust (Erzählungen, 1999), Ein Freund der Erde (Roman, 2001), Schluß mit cool (Erzählungen, 2002), Drop City (Roman, 2003), Dr. Sex (Roman, 2005), Talk Talk (Roman, 2006), Zähne und Klauen (Erzählungen, 2008), Die Frauen (Roman, 2009), Das wilde Kind (Erzählung, 2010), Wenn das Schlachten vorbei ist (Roman, 2012), San Miguel (Roman, 2013), die Neuübersetzung von Wassermusik (Roman, 2014), Hart auf hart (Roman, 2015), die Neuübersetzung von Grün ist die Hoffnung (Roman, 2016), Die Terranauten (Roman, 2017) und Good Home (Erzählungen, 2018).


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.