Braig | Über die Sinne des Lebens und ob es sie gibt | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 100 Seiten

Braig Über die Sinne des Lebens und ob es sie gibt

Eine philosophische Anprobe

E-Book, Deutsch, 100 Seiten

ISBN: 978-3-7776-2962-9
Verlag: S. Hirzel
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Mit der Philosophie hält es der Musiker, Arzt und Philosoph Axel Braig ein wenig wie mit dem Wetter: Er sucht sich für jede Situation die passende Kleidung. Braig geht es vor allem um lebenspraktisch Wirksames aus dem über zweieinhalb Jahrtausende umfassenden Fundus des (abendländischen) Denkens, etwa um Hilfestellungen für existenzielle Krisen. In seinem Buch 'Über die Sinne des Lebens und ob es sie gibt' stellt er uns philosophische Denker vor – von Platon über Montaigne bis zu Levinas oder Feyerabend. Braig erzählt dabei nicht nur seine eigene philosophische Biografie, sondern ermutigt vor allem dazu, selbst zu philosophieren.
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Die Welt
»Ich möchte nicht tot und begraben sein
Als Kaiser zu Aachen im Dome;
Weit lieber lebt ich als kleinster Poet
Zu Stukkert am Neckarstrome.« Heinrich Heine, »Deutschland. Ein Wintermärchen« Sechs Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde ich, wie Martin Heidegger sagen würde, in die Welt geworfen und bin dabei weich gefallen. Obwohl die Folgen des Krieges noch spürbar waren, sorgten meine Eltern dafür, dass ich als jüngster von drei Brüdern behütet aufwachsen konnte. Zwar hat man nicht viel Aufhebens um mich gemacht, doch andrerseits kann ich mich nicht erinnern, dass mir während der Kindheit ein größeres seelisches Trauma zugefügt worden wäre. Über zwei Themen wurde in unserer Familie praktisch nicht gesprochen: Religion und Sexualität. Ersteres habe ich nicht vermisst. Die Vorstellung, dass die Welt von einem lieben Gott geschaffen wurde, »der alles so herrlich regieret«, war mir daher nie sonderlich nahe. Das Schweigen über Sexualität sollte ich erst später als einen Mangel empfinden. Nachdem meine Eltern ihren pädagogischen Ehrgeiz schon an die älteren Brüder verschwendet hatten, konnte ich in deren Windschatten aufwachsen. »Der wird von alleine groß«, so die Einschätzung meiner Mutter. Immerhin gab ich den Eltern offensichtlich Anlass zu dem Rat, mich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Diese Empfehlung habe ich insofern beherzigt, als ich tatsächlich nicht sonderlich viel über mich selbst nachgedacht habe. Umso mehr wollte ich schon früh wissen, wie »die Welt« funktioniert, und nervte die Erwachsenen mit Warum-Fragen. Aus der gängigen Antwort: »Das verstehst Du noch nicht« zog ich zwei Schlüsse: erstens, dass jedes Ding tatsächlich eine eindeutige Ursache habe. Zweitens folgerte ich aus dem noch nicht, dass ich diese ursächlichen Zusammenhänge irgendwann einmal alle begreifen würde. Sehr empfänglich war ich für die Mahnung: »Sei doch vernünftig!« Heute hätte ich meine liebe Not, zu erklären, was Vernunft ist. Das altkluge Kind damals war aber entschlossen, genauso vernünftig wie die Erwachsenen zu denken, und war fest davon überzeugt, dass es daher schon bald erfahren werde, was die Welt im Innersten zusammenhält. Meine häusliche Erziehung hatte keinen eindeutigen weltanschaulichen Hintergrund, aber da mein Vater Zeitungsredakteur war, standen zuhause immer mehrere Tageszeitungen zur Verfügung. So gewöhnte ich mir schon als Kind an, über ein bestimmtes Ereignis ganz unterschiedliche Berichte zu lesen. Dabei entwickelte ich eine Vorliebe, mich für verschiedene Versionen einer Geschichte zu interessieren. Sogar die Neigung zur Rechthaberei verlagerte sich insofern, als mein notorischer Widerspruchsgeist besonders dann angestachelt wurde, wenn mir nur eine Version als »die Wahrheit« präsentiert wurde. Doch bald nahm die diffuse Vorstellung von der Ordnung der Welt doch noch konkretere Formen an. Die räumliche Nähe zum Elternhaus führte mich auf ein mathematisch-naturwissenschaftliches Gymnasium. Obwohl ich mich langfristig nicht sonderlich zu den Naturwissenschaften berufen fühlte, prägte dies zunächst meine Weltsicht. Diagonal über dem Biologieunterrichtsraum hing die Doppelhelix des DNA-Modells von Watson und Crick. Der Biologielehrer erklärte uns, dass die beiden Nobelpreisträger von 1962 damit »das Rätsel des Lebens« gelöst hätten. Somit fühlte ich mich auf dem richtigen Weg: Der Schlüssel zum Verständnis der Welt ist in den Naturwissenschaften zu finden; zumindest diese Botschaft hatte ich bald verinnerlicht. Auch wenn ich in den nächsten Jahren nach und nach erfahren sollte, dass noch ein paar Rätsel übrig blieben, war ich von den Fortschritten der Naturwissenschaften so sehr beeindruckt, dass ich deren Weltsicht für die einzig richtige hielt. Selbst wenn man mich nach Sterben und Tod oder über moralische Konfliktsituationen befragt hätte, wäre ich bemüht gewesen, naturwissenschaftliche Antworten zu finden. Wenigstens in dieser Hinsicht war ich ein guter Schüler. Ich glaubte den Lehrern, dass die metaphysischen Reden von Theologen, Geisteswissenschaftlern und Philosophen nicht mehr zeitgemäß seien und dass man sich darum nicht mehr weiter kümmern müsse. Der Darwinismus mache ohnehin die Vorstellung eines Gottes überflüssig. Die Welt hat sich über die Jahrmillionen durch unendlich viele Zufälle entwickelt, und hinter der Evolution steckt nicht der Masterplan eines Gottes, sondern es blieb zu jedem Zeitpunkt einfach übrig, was funktionierte. So wähnte ich die Naturwissenschaften auf dem besten Weg in Richtung des göttlichen Allwissens. Ohne dass ich den Begriff »Wiener Kreis« damals je gehört hätte, war meine jugendliche Weltsicht indirekt geprägt von dieser Vereinigung Wiener Intellektueller, in der sich in den 1920er Jahren Männer wie der Sozialreformer Otto Neurath, die Philosophen Moritz Schlick und Ludwig Carnap sowie der Mathematiker Kurt Gödel zusammenfanden. Auch Ludwig Wittgenstein und Karl Popper standen dieser Gruppierung zeitweise nahe. Der Wiener Kreis propagierte den als »logischen Empirismus« bezeichneten Versuch, alle Teilwissenschaften in das große Gebäude einer Einheitswissenschaft zu integrieren, wobei die Physik als Basiswissenschaft galt. Darüber hinausgehende Überlegungen wurden als weitgehend überflüssig angesehen und jegliche Art von »Metaphysik« dementsprechend abgelehnt. So lebte auch ich in dem Glauben, dass wir in nicht allzu ferner Zukunft in der Lage sein werden, alle menschlichen Regungen und Gefühle letztlich als physikalische Prozesse zu verstehen und versprach mir das Heil der Welt davon, dass die Menschen nach und nach zu einer vor allem naturwissenschaftlich verstandenen Vernunft kommen werden. Doch diese übersichtliche Weltanschauung bekam mit der Zeit Risse und Kratzer. Merkwürdig, dass einige der Verunsicherungen meines fest gefügten Weltverständnisses ausgerechnet der modernen Physik entsprangen, die mir doch als Garantin dafür galt, dass bald für alles eine Erklärung gefunden werde. Ganz von Ferne hörte ich läuten, dass die Quantenphysik einige bis dahin als vollkommen unangefochten geltende Wahrheiten ins Wanken brachte. So irritierten mich Berichte über Beobachtungen, dass man allein durch die Vornahme von Messungen an Quanten deren Verhalten beeinflusse und so die Vorstellung eines klaren Verhältnisses von Ursache und Wirkung infrage gestellt werde. Besonders seltsam erschien mir der sogenannte Teilchen-Wellen-Dualismus des Lichts. Kann es wirklich sein, dass Physiker nicht mehr entscheiden können, ob Licht aus Wellen oder Teilchen besteht und sich stattdessen mit der Lehrmeinung zufriedengeben, dass es jeweils einige Phänomene gebe, die sich mit der einen oder anderen Hypothese besser erklären lassen, auch wenn sich diese beiden Betrachtungsweisen gegenseitig auszuschließen scheinen? Ich habe mich in den Jahren, bevor ich begann, mich ernsthaft mit Philosophie auseinanderzusetzen, mit derartigen Merkwürdigkeiten nicht weiter beschäftigt. Auch für wissenschaftstheoretische Fragen, wie z. B. den Gedanken, dass durch das spürbare Auseinanderdriften der Fachsprachen verschiedener Einzelwissenschaften das Ideal der Einheitswissenschaft in immer weitere Ferne rückte, interessierte ich mich erst viel später. So wurde mir auch erst während meines Philosophiestudiums bewusst, dass durch dieses Auseinanderdriften die gängige Annahme in Zweifel gezogen wird, dass es nur eine einzige Wahrheit gebe. Stattdessen gewöhnte ich mir in meiner Arbeit als Mediziner an, derartige Fragen auszublenden. Wie viele meiner Kollegen neigte ich dazu, ganz einfach das zu tun, was sich in konkreten Situationen als hilfreich erwies, ohne mir über die Idee einer Einheitswissenschaft weiter Gedanken zu machen. Obwohl ich es als befriedigend empfand, Patienten ganz praktisch zu helfen, verfolgte mich das ungute Gefühl, dass die von mir praktizierte Medizin nicht wirklich wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Mediziner beschreiben diese Situation gelegentlich mit dem etwas ironischen Satz »Wer heilt, hat Recht.« Schon Aristoteles hatte dieses Phänomen in der »Nikomachischen Ethik« beschrieben: »Auch der Arzt fasst offenbar nicht die Gesundheit an sich ins Auge, sondern die des Menschen oder vielmehr die dieses Menschen in concreto.« Doch ich hatte über viele Jahre immer wieder Probleme, einen Weg zwischen einem pragmatischen, am jeweiligen Einzelfall orientierten Verhalten und dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu finden. Erst die Lektüre des aus Wien stammenden Wissenschaftsphilosophen Paul Feyerabend hat mir aus diesem Dilemma geholfen. Feyerabend wurde nach dem Krieg zunächst von Viktor Kraft, einem ehemaligen Mitglied des Wiener Kreises, wissenschaftlich im Sinne des »logischen Empirismus« geprägt. Als junger Student hatte er noch Gelegenheit, mit Wittgenstein zu diskutieren. 1951 setzte er seine Ausbildung bei Karl Popper in London fort, der ihm auch eine erste akademische Lehrstelle verschaffte. Ab 1958 wurde Feyerabend Professor im kalifornischen Berkeley und kam in direkten Kontakt mit Rudolf Carnap, dem prominentesten während der Nazizeit ausgewanderten Mitglied des Wiener Kreises. Wirklich bekannt wurde Feyerabend aber erst, als er sich vom »logischen Empirismus« distanzierte. In seinem 1974 erschienenen Buch »Wider den Methodenzwang« kritisiert er die Lehre seiner früheren Mentoren und wendet sich polemisch gegen deren Vorstellung, dass die vom Wiener Kreis beschriebene Methode die zur Weltbeschreibung einzig richtige sein soll: »Es ist also klar, dass der Gedanke einer festgelegten Methode oder einer festgelegten Theorie der Vernünftigkeit auf einer allzu...


Braig, Axel
Axel Braig war als Orchestermusiker und Allgemeinarzt tätig, studierte dann Philosophie und arbeitete an-schließend als Palliativmediziner und Psychoonkologe. In Tübingen, wo er als philosophischer Gesprächspartner zur Verfügung steht, veranstaltete er über viele Jahre den offenen monatlichen Salon 'Café Philo'.


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