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E-Book, Deutsch, Band 3, 229 Seiten

Reihe: Kontingenzgeschichten

Brakensiek / Marx / Scheller Wagnisse

Risiken eingehen, Risiken analysieren, von Risiken erzählen

E-Book, Deutsch, Band 3, 229 Seiten

Reihe: Kontingenzgeschichten

ISBN: 978-3-593-43615-9
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Im Erfolgsfall winken dem Wagemutigen Ruhm, ökonomischer Gewinn sowie wachsendes soziales und symbolisches Kapital. Dem Scheiternden bleibt zumindest der Nachruhm: Hat er nicht die Zukunft herausgefordert und sich nicht passiv in sein Schicksal ergeben? Eingegangene Risiken werden jedoch erst im nachträglichen Erzählen zum Wagnis. Was die einen als Wagnis preisen, mag von anderen als Fehler, Übermut, Hybris, ja Verbrechen gesehen werden.
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Inhalt

Wagnisse: Risiken eingehen, Risiken analysieren, von Risiken erzählen7
Stefan Brakensiek, Christoph Marx, Benjamin Scheller

Das oströmische Mordkomplott gegeg den Hunnenherrscher Attila (449 n. Chr.): Verzweiflungstat, Wagnis oder rationales Kalkül? 19
Mischa Meier

Risikostrategien auf den Versicherungsmärkten der Frühen Neuzeit am Beispiel Florenz63
Giovanni Ceccarelli

Vom Dämon des Zufalls: Die Schlacht als kalkuliertes Wagnis im langen 18. Jahrhundert91
Marian Füssel

The concept of Wagnis and the South Sea Bubble of 1720111
Helen Paul

Wagnis und Erwartung. Terrainunternehmer, Hausbesitzer und Immobilienspekulanten in Berlin um 1900127
Alexander Nützenadel

Kontingenzbewältigung in alten und neuen Zeiten:Bemerkungen zur Modellierung einer Differenz151
Hansjörg Siegenthaler

Gun Control and the Power of Vernacular Risk Cultures:A Story of American Exceptionalism167
Arwen Mohun

Kontingenzverteilung: Modernisierung als riskante Um-Differenzierung191
Joachim Renn

Autorinnen und Autoren229


Wagnisse: Risiken eingehen, Risiken analysieren, von Risiken erzählen

Stefan Brakensiek, Christoph Marx und Benjamin Scheller

Der vorliegende Band beruht auf Beiträgen zur Ringvorlesung "Wagnisse" des Graduiertenkollegs "Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln", die im Winter 2015/16 an der Universität Duisburg-Essen stattgefunden hat. Wir danken den Referentinnen und Referenten, dass sie sich auf ein Thema eingelassen haben, das für die konzeptionelle Weiterentwicklung dieses Forschungsvorhabens von zentraler Bedeutung ist.
Allgemein geht es dem Graduiertenkolleg um den aktiven Umgang mit Zukunft, um Haltungen und Handlungsweisen, mit denen sich Menschen - epochenübergreifend und im globalen Maßstab - auf kontingente Ereignisse und Entwicklungen aktiv einstellen. Die empirischen Arbeiten der Kollegiatinnen und Kollegiaten haben sich bislang vor allem auf Schadensabwehr und Chancennutzung durch Vorsorge und Voraussicht konzentriert. Von diesen Forschungen ausgehend und darüber hinausgehend hat sich in internen Diskussionen und in Gesprächen mit zahlreichen Gästen, die auf unsere Einladung nach Essen gekommen sind, die hohe Bedeutung "menschengemachter" Kontingenz herausgeschält. Sie zeigt sich auf zahlreichen Feldern: in kriegerischen Konflikten, im Bereich ökonomischen Handelns, bei der Erkenntnissuche. Auf all diesen Feldern können Akteure durch ihr Handeln in ambivalente Problemlagen geraten: Sie erleben sich gleichermaßen als Gestaltende und als Erleidende. Krieg führen und Frieden suchen, in neue Geschäftsfelder investieren und das Bewährte vervollkommnen, Erkenntnisse suchen und deren Folgen einhegen: Menschliches Handeln ist geeignet, Kontingenz zu generieren, die dann die Bewältigung durch Vorsorge, Voraussicht und Vorhersage herausfordert. Eine solche Perspektivierung der Leitfrage des Graduiertenkollegs ist dessen praxeologischem Ansatz besonders adäquat: Es geht uns um die historisch wandelbaren Formen des Streitens, des Wirtschaftens, des Forschens und ihre sowohl kontingenzgenerierenden als auch kontingenzbewältigenden Aspekte. Deren Untersuchung eröffnet Möglichkeiten zur Reflexion der Vielfältigkeit von Zukunftshandeln in transepochaler und transregionaler Perspektive. Im Zentrum unserer Forschungen stehen Strategien und Handlungsweisen, die Kontingenz nicht lediglich als Problem bewältigen, sondern sie aktiv hervorbringen. In konkreten Fällen lässt sich die Suche nach Kontingenz geradezu als vorausschauendes Handeln deuten, indem sie Handlungsspielräume erweitert und Möglichkeitshorizonte vervielfacht.
Hier knüpfen die Beiträge zum Thema "Wagnisse" unmittelbar an. Aktuell ist der Begriff vor allem in den Wirtschaftswissenschaften gebräuchlich, die Wagnisse als jedweder unternehmerischen Tätigkeit innewohnende Verhaltensweisen ansehen, die zum normalen Geschäftsverlauf gehören und zu Wagniskosten führen. Für den Fall, dass eine gewagte Aktivität von Erfolg gekrönt ist, geht die Betriebswirtschaftslehre davon aus, dass eine Wagnisprämie ausgeschüttet wird. Die Ringvorlesung hat sich demgegenüber eher an einer weiteren Begriffsbestimmung orientiert, wie sie "der Grimm" unter dem Lemma "Wagnis" vermerkt: "aufsspielsetzen, gefahr, kühne unternehmung" . Das Historische Wörterbuch der Philosophie bemerkt, Wagnis sei "von sinnverwandten und zum Teil synonym verwendeten Begriffen wie ›Risiko‹ oder ›Verwegenheit‹ respektive ›Kühnheit‹ nur schwer abgrenzbar". Der Begriff bezeichne "ein Verhalten oder Handeln, das mit Gefahren verbunden und dessen Ausgang ungewiß" sei.
Wer ein Wagnis eingeht, setzt sich demnach willentlich Risiken aus. Wie bei jedem Risiko werden die Folgen des Handelns dem Wagemutigen zugeschrieben, nicht äußeren Bedrohungen oder unabwendbaren Gefahren. Wir gehen davon aus, dass der Wagemutige die Wahrscheinlichkeit von Erfolg oder Misserfolg nicht zwingend berechnet: Chancen und Risiken werden zwar gegeneinander abgewogen, aber - anders als bei einer Risikokalkulation - nicht statistisch bestimmt. Wer ein Wagnis eingeht, kalkuliert vielleicht, aber er rechnet nicht unbedingt.
Ein Sprichwort besagt: "Wer wagt, gewinnt." Der Wagemutige kann zwar auf den ersten Blick scheitern, aber niemals ganz. Denn das Eingehen eines Wagnisses umgibt den Kühnen mit der Gloriole des Ruhms. Im Erfolgsfall winkt ihm in der Tat nicht allein ökonomischer Gewinn, sondern auch wachsendes soziales und symbolisches Kapital. Dem Scheiternden bleibt zumindest der Nachruhm: Hat er nicht wenigstens die Zukunft herausgefordert und sich nicht passiv in sein Schicksal ergeben? Ihn zeichnet Kühnheit aus im Angesicht von Gefahren, im Umgang mit dem Unbekannten, mit dem Wagnis hat er sich einer unbekannten Zukunft ausgesetzt.
Im Erzählen entbrennt freilich ein Kampf um die Deutung einer riskanten Unternehmung: Denn was die einen als Wagnis preisen, mag für andere, die vielleicht gar nicht gefragt wurden, ob sie ein Risiko mittragen wollen, die vom Ausgang der riskanten Unternehmung aber auf die eine oder andere Weise betroffen sind, nicht etwa als Wagnis gesehen werden, sondern als Fehler, Übermut, Hybris, ja Verbrechen. Wer von Wagnissen spricht, stellt sich also auf die Seite der Unternehmungslustigen, die möglicherweise auch Gefahren für andere heraufbeschwören. Eingegangene Risiken werden demnach erst im nachträglichen Erzählen zum Wagnis. Verschiedene Kulturen entwickeln unterschiedliche Umgangsformen mit Wagnissen. Sie gehören als Unterfall in den weiter dimensionierten Bereich der gesellschaftlichen Risiko-Regime. Was sie eint, ist die Bannung von Kontingenz in Erzählungen. So gesehen ist das Wagnis das Ergebnis einer Narrativierung des Umgangs mit Kontingenz. An dieser Perspektivierung orientieren sich die meisten Beiträge dieses Bandes, indem sie nacherzählenden Formen der Sinngebung für gewagte Unternehmungen oder riskante allgemein-gesellschaftliche Verhaltensweisen fragen.
So untersucht der Althistoriker Mischa Meier in seinem Beitrag die Frage, welche Überlegungen die oströmische Führung im Jahr 449 bewogen haben mögen, den Hunnenkönig Attila durch Angehörige einer Delegation unter der Leitung eines Offiziers mit Namen Maximinus ermorden zu lassen. Zwar scheiterte das Mordkomplott, und die Angehörigen der Gesandtschaft gerieten in höchste Lebensgefahr. Doch handele es sich bei dem versuchten Attentat keineswegs um eine Verzweiflungstat, also um einen Typus von Handlungen,
"die von Akteuren vollzogen werden, deren Entscheidungen nicht mehr oder allenfalls noch partiell autonom getroffen werden; äußere Umstände, Kontingenzen oder andere Faktoren definieren in diesem Fall Handlungsräume, die in der Perspektive der Akteure tendenziell durch Alternativlosigkeit gekennzeichnet sind."
Stattdessen sei der Versuch, Attila zu ermorden zu lassen, ein kalkuliertes Wagnis gewesen, eine Handlung, "die unter nüchterner Abwägung der den Akteuren verfügbaren Optionen und - vermeintlich! - ohne Konzessionen gegenüber einem irgendwie gearteten Handlungsdruck" erfolgte. Ziel des Attentats sei die Destabilisierung des hunnischen Herrschaftsverbandes gewesen. Denn zum einen ließen zeitgenössische Quellen erkennen, dass die oströmische Führung über präzises Wissen über die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der losen hunnischen Kriegerkonföderation verfügte und davon ausging, dass diese bei einem Tod Attilas erheblich an Wucht gewinnen würden. Zum anderen habe der Hunneneinfall des Jahres 447, der mit einem schweren Erdbeben koinzidierte, die Legitimität der oströmischen Kaiserherrschaft derart erschüttert, dass es plausibel erscheine, der Entschluss, den Hunnenkönig ermorden zu lassen, sei aus einem rationalen Kalkül gefasst worden angesichts dieses "Katastrophenclusters" und des "gefährlichen Deutungspotenzials", das es barg.
Um den Umgang mit den Gefahren der kaufmännischen Seefahrt im Spätmittelalter geht es in dem Beitrag von Giovanni Ceccarelli. Die Seeversicherung, die seit den dreißiger Jahren des 14. Jahrhunderts in Italien entstand, bedeutete einen wichtigen Neuansatz im Umgang mit dem unternehmerischen Wagnis. Der Versicherungsvertrag "war der erste Vertrag, der das Seerisiko selbst zum Gegenstand des Geschäftes machte." In der Form der Versicherungsprämie erhielt dieses einen Preis. Die Kaufleute, die Versicherungsgeschäfte tätigten, mussten das Risiko daher bewerten und bemessen. Der Artikel geht den Strategien des Risikomanagements im Florenz des 15. und 16. Jahrhunderts nach.
Florenz war der wichtigste Versicherungsplatz im Europa der Renaissance. Bereits Ende des 14. Jahrhunderts spielte es eine führende Rolle auf dem Markt für Seeversicherungen, die die Stadt bis in das frühe 16. Jahrhundert behaupten konnte. Hier wurden Versicherungen für Transporte in ganz Europa und darüber hinaus abgeschlossen: von der Nordsee bis in den mittleren Osten. Auf dem Florentiner Versicherungsplatz des 15. und 16. Jahrhunderts lassen sich Strategien des Umgangs mit dem Risiko beobachten, die die moderne Verhaltensökonomie herausgearbeitet hat, wie Herdenverhalten oder Ankereffekte. Gleichzeitig gab es an zahlreichen Abakusschulen der Stadt Lehrer, die ein ausgeprägtes Interesse an mathematischen Problemen entwickelten. Diese hingen mit Risiko und Wahrscheinlichkeitsrechnung zusammen und stammten teilweise aus der Praxis des Seehandels Auch die Kanonisten und Theologen, die sich mit der moralischen und der kirchenrechtlichen Dimension des Seerisikos und seiner Übernahme gegen Entgelt befassten, kamen bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts fast alle aus Florenz oder der näheren Umgebung der Stadt. Sowohl Abakuslehrer als auch Theologen waren vielfach familiär mit Kaufleuten verbunden, die im Versicherungsgeschäft aktiv waren. Im Austausch zwischen diesen Akteuren verbreiteten sich proto-probabilistisches Denken und andere Strategien des Risikomanagements, die den unternehmerischen Umgang mit dem Seerisiko bis weit in die Neuzeit prägen sollten. Ceccarelli beleuchtet auch die immanenten Grenzen dieser Wahrscheinlichkeitskalküle: Sobald Gerüchte über den möglichen Untergang eines Schiffes, über kriegerische Verwicklungen in einer bestimmten Meeresregion oder über Piraterie aufkamen, waren die Akteure nicht länger bereit, diesen Risikoberechnungen zu vertrauen, sodass die Versicherungsprämien kurzfristig massiven Schwankungen unterlagen. Nur besonders wagemutige Kaufleute waren angesichts solcher Nachrichten noch bereit, Handelsschiffe zu entsenden respektive zu versichern.
Marian Füssel befasst sich in seinem Beitrag mit der Schlacht als dem "Inbegriff eines vormodernen Wagnisses". Bei der Schlacht gingen zwei Formen der Ungewissheit Hand in Hand: die Unabsehbarkeit ihres Verlaufs und die Unsicherheit bezüglich ihres Ausgangs und ihrer Folgen. Denn paradoxerweise entschied der Ausgang einer Schlacht im "Age of Battles" zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und der Schlacht bei Waterloo nur selten über Sieg oder Niederlage einer Kriegspartei. Die Schlacht motivierte Militärtheoretiker, -praktiker und Philosophen der Frühen Neuzeit daher immer wieder, über Zufall und Kontingenz zu reflektieren und unterschiedliche Strategien und Taktiken des Kontingenzmanagements vorzuschlagen und zu verfolgen. Dabei bestand in der Militärtheorie des 18. Jahrhunderts eine grundsätzliche Skepsis gegenüber den Unwägbarkeiten der Schlacht, die letztlich auf die Empfehlung herauslief, sie nach Möglichkeit zu vermeiden und stattdessen die sogenannte Manöverstrategie zu verfolgen.
Friedrich II. von Preußen, "der für viele das Gegenteil eines Manöverstrategen verkörperte", sah sich daher immer wieder genötigt, die Situationen, die ihn für das Wagnis einer Schlacht motivierten, narrativ zu inszenieren, vor allem seine angeblich sorgsame Abwägung der Risiken. In diesen Selbstinszenierungen wird die Schlacht "zu einem kalkulierbaren Risiko, dessen sich der verantwortungsvolle roi connétable stets bewusst zu sein hat." Paradigmatische Qualität hat hierfür die berühmte Ansprache Friedrichs vor der Schlacht bei Leuthen im Dezember 1757, die sogenannte "Parchwitzer Rede".
Die Entgrenzung der Kriegsführung in den Napoleonischen Kriegen und die Vergrößerung des Reichs des Zufalls, die damit einherging, zog ab dem 19. Jahrhundert dann eine Neubewertung der Kontingenz nach sich. Für sie stehe vor allem Clausewitz, der in seinen Schriften zu einer "radikalen Akzeptanz von Kontingenz" gelangte: Den Zufall in der Schlacht könne man mit Erfahrung nicht bändigen, sondern müsse ihn als praktische Herausforderung für eine "reflektierende Urteilskraft" des Feldherrn bereitwillig akzeptieren. Teil dieser Urteilskraft sei die Fähigkeit, Wagnisse einzugehen und zu kalkulieren. Das Wagnis wird damit keineswegs als irrational begriffen: "Auch im Wagen gibt es noch eine Klugheit und ebenso eine Vorsicht, nur daß sie nach einem anderen Münzfuß berechnet sind." Ja mehr noch, das Wagen kann sogar zur Tugend werden: "Es gibt Fälle, wo das höchste Wagen die höchste Weisheit ist."
Der Beitrag von Helen Paul befasst sich mit den Verarbeitungsformen des berüchtigten South Sea Bubble, dem Platzen einer Spekulationsblase an der Londoner Börse im Jahr 1720, dem die Wirtschaftsgeschichtsschreibung - zusammen mit der tulipmania in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts - geradezu paradigmatischen Charakter für die irrationalen Seiten des modernen Finanzgeschäfts zugeschrieben hat. Die Verfasserin bestreitet, dass damit die zeitgenössische Rezeption angemessen erfasst wird. Zwar verloren viele Anleger bedeutende Summen, sodass das Vertrauen in die Seriosität der seit dem späten 17. Jahrhundert überhaupt erst entstandenen europäischen Finanzwirtschaft erschüttert wurde. Die zeitgenössischen Urteile über diesen crash waren zwar davon geprägt, dass sich die Allgemeinheit (und auch die unmittelbar involvierten Akteure) noch nicht darüber im Klaren waren, ob diese neue Welt des Börsenhandels ein dauerhaftes Phänomen darstellte. Zugleich wird deutlich, dass die Krise von den Zeitgenossen nicht auf eine unter den Anlegern allgemein verbreitete gierige und dadurch irrationale "Spielsucht" zurückgeführt wurde, sondern dass sich Frauen und Dienstboten - von Juden und unverantwortlichen Ausländern dazu verführt - auf das glatte Börsenparkett begeben und durch das für sie typische, von Gefühlen geleitete Verhalten den Zusammenbruch herbeigeführt hätten. Das Eingehen von finanziellen Wagnissen war demzufolge den männlichen Angehörigen der Oberschichten vorbehalten, da angeblich nur sie fähig seien, Risiken angemessen einzuschätzen. Die Sichtweise, der South Sea Bubble sei durch ein unter den Anlegern allgemein verbreitetes irrationales Herdenverhalten verursacht worden, wurde erst im späten 18. Jahrhundert geläufig und fand von dort aus Eingang in die ökonomischen Lehrbücher.
Der Wirtschaftshistoriker Alexander Nützenadel untersucht in seinem Beitrag den Wandel im Umgang mit Risiken anhand des entstehenden Immobilienmarktes in Berlin um 1900. Erst im 19. Jahrhundert wurde Boden, der zuvor mit vielfältigen herrschaftlichen Rechten belegt war, zur frei verfügbaren Ware. Im Zuge der rasanten Urbanisierung entstanden neue Unternehmen, die in großem Stil ganze Stadtviertel erbauten. Damit war auch eine rasche Expansion des Kreditwesens verbunden, wobei die Banken wegen der Hypotheken auf Gebäude und Grundstücke, die ihnen Sicherheiten boten, weniger riskant agierten als die Baugesellschaften selbst. Nützenadel findet in den Autobiographien von Bauunternehmern eine positive Konnotierung der Wagnisse, die sie eingingen. In Übereinstimmung mit der neueren Forschung zu Selbstzeugnissen kann er zeigen, dass sich im Zuge der Narrativierung des eigenen Lebens Prozesse nachträglicher Rationalisierung zutrugen, bis hin zur partiellen Fiktionalisierung.
Am Beispiel des Berliner Immobilienmarktes zeigt Nützenadel, dass im Kaiserreich ein neuer Umgang mit finanziellen Risiken aufkam, für den in erster Linie der Haus- und Bodenmarkt verantwortlich war, während die Börsenspekulation bei weitem nicht die Bedeutung erreichte, die ihr oft zugeschrieben wird. Dies sei darauf zurückzuführen, dass in ihrem Alltag wesentlich mehr Menschen mit dem Bau oder Kauf einer Wohnung zu tun hatten, und dass viele auch als Anleger auf den Immobilienmarkt drängten. Erleichtert wurde ihnen dieses veränderte ökonomische Handeln durch die - faktisch nicht zutreffende - Einschätzung, dass Immobilien weniger riskante Geldanlagen seien. Während Schuldenmachen in bürgerlichen Kreisen "an sich" verpönt war und vermieden wurde, fand über die Finanzierung von Immobilien eine akzeptable Form der Verschuldung Verbreitung und leitete einen Mentalitätswandel im Umgang mit finanziellen Risiken ein. Denn diese waren beträchtlich, wie die große Zahl von Zwangsversteigerungen überschuldeter Häuser und Grundstücke belegt. Die damit einhergehende Unsicherheit hatte zur Folge, dass sich Kleinanleger genau informierten und auf Finanzierungsformen wie Pfandbriefe auswichen, die als weniger riskant galten. Die Baugesellschaften ihrerseits präsentierten sich in ihrer Werbung als seriöse Unternehmen, die zwar Wagnisse eingingen, aber niemanden in verantwortungslose Abenteuer stürzten. Der Mentalitätswandel hin zu größerer Verschuldungsbereitschaft war demnach möglich, weil das damit verbundene Risiko mit eigenen "rationalen" Entscheidungen verbunden wurde und damit beeinflussbar erschien. Anleger bildeten ihre Erwartungen aufgrund einer möglichst breiten Informationsbasis, die wiederum der Risikoabwägung dienten und die Entscheidungsfindung leiteten.
Hansjörg Siegenthaler befasst sich in seinem Artikel mit dem "Rätsel", weshalb die westliche Moderne von einem grundlegend anderen ökonomischen Verhalten geprägt war und ist als alle anderen Gesellschaften vor Mitte des 18. Jahrhunderts respektive außerhalb des "westlichen Welt". Mit Simon Kuznets stellt er fest, dass erst in der Moderne Investitionsquoten erreicht wurden, die dauerhaftes Wirtschaftswachstum ermöglichten. Das sei auf den ersten Blick unerklärlich, weil in der gleichen Zeit deutlich zutage trat, dass Erfahrungen, die in der Vergangenheit gemacht worden waren, keine Rezepte für die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen bereithielten: Unsicherheit über künftige Entwicklungen sei für Ökonomie und Gesellschaft im 20. und 21. Jahrhundert derart vorherrschend - mit den Worten Reinhart Kosellecks: Erfahrungsraum und Erwartungshorizont seien soweit auseinandergetreten -, dass die Überführung von Unsicherheit in ein berechenbares Risiko angesichts der Unwägbarkeit globalgesellschaftlicher Entwicklungen völlig unrealistisch geworden sei. Für das Handeln von wirtschaftlichen Akteuren, für deren auf die Zukunft gerichtete Investitionsentscheidungen, sei es aber gerade wesentlich, Unsicherheit in Risiken zu transformieren. Um diesem unlösbaren Widerspruch zu begegnen, hätte die westliche Moderne drei Mittel gefunden:
"Sie macht den Menschen fit, erstens, für Überraschungen durch seine formale Schulung. Sie entwirft, zweitens, neue Formen institutioneller Ordnung des Wirtschaftslebens, zu denen nicht nur, aber doch mit besonders starker Wirkung die Entfesselung des ›Marktes als Entdeckungsverfahren‹ gehört, genauer: sie tendiert dazu, Märkte so zu institutionalisieren, dass sie die Funktion eines Entdeckungsverfahrens wahrnehmen können. Und schließlich nutzt sie neue Formen sozialen respektive medialen Lernens, die auf Zeit, das heißt für begrenzte Zeiträume, das heißt für Zeitspannen von vielleicht zehn, zwanzig Jahren nicht etwa Prognosen liefern, sondern handlungsleitende Denkgewohnheiten, die den Menschen über ihre Unsicherheit hinweghelfen und Handlungssicherheit vermitteln."
Demzufolge gibt es immer wieder kurze Phasen, in denen Übereinkünfte unter den Akteuren herrschen, die ihr Handeln leiten. In diesen Phasen relativer Stabilität generieren Konventionen und Erzählungen Regelvertrauen. In unregelmäßiger Folge treten jedoch ökonomische Krisen auf, in denen das Befolgen dieser Regeln nicht länger zum Erfolg führt, sondern geradezu krisenverschärfend wirkt. Auch das Sammeln von möglichst vielen Informationen hilft nicht, um sich in diesen wirtschaftlichen Krisen zurechtzufinden, die immer auch gesamtgesellschaftliche Krisen sind. Selbst eine Vorhersage über den Zeitpunkt des Eintretens solcher Krisen ist unmöglich, sie treten künftig zwar sicher auf, aber zu unvorhersehbaren Zeitpunkten aufgrund kontingenter Faktoren. Als Ausweg aus diesen wirtschaftlichen Krisen, die zugleich als globale Orientierungskrisen zu deuten sind, werden Kommunikationsprozesse identifiziert, in denen sich neue Übereinkünfte diskursiv herausschälen. Deren Inhalte und Stoßrichtung sind wiederum kontingent und somit nicht vorhersagbar. Gleichwohl ist Siegenthaler optimistisch, dass auch künftig Auswege aus den unvermeidlichen Krisen von Ökonomie und Weltdeutung gefunden werden. Sein Optimismus speist sich aus der historisch belegbaren Fähigkeit von Akteuren, zu lernen, innovative Wege zu finden und damit erneut Regelvertrauen zu begründen, das eine Zeitlang trägt - bis zur nächsten Krise. In diesem kommunikations- und handlungstheoretisch basierten Modell sind Wagnisse systematisch angelegt, vor allem für die Krisenphasen.
Die überaus weite Verbreitung privater Schusswaffen wird in den USA seit über einem Jahrhundert als gesellschaftliches Risiko diskutiert. Arwen Mohun analysiert diese Diskussion und kann die oft behauptete Pfadabhängigkeit einer durch die Tradition der Frontier legitimierten Selbstverständlichkeit widerlegen: Privater Waffenbesitz war gerade keine aus der Pionierzeit kommende Tradition. Stattdessen rekonstruiert sie die Durchsetzung privaten Waffenbesitzrechtes als einen kontingenten Prozess, der erst seit dem späten 19. Jahrhundert einsetzte. Entgegen der Annahme, dass ein modernes Verständnis von Risiko in einen globalen, nationale Kulturen übergreifenden Konsens einmünden müsse, zeigt sie, wie ein spezifisch amerikanisches Risikoverständnis entstand und bis heute besteht, trotz vieler, davon fundamental abweichender Stellungnahmen von Experten.
Ihre historische Rekonstruktion weist nach, dass die amerikanischen Siedler keineswegs erpicht auf die Anhäufung von Schusswaffen waren, was nicht zuletzt mit deren mangelnder technischer Verlässlichkeit zusammenhing. Erst im späten 19. Jahrhundert wurde der Gebrauch von Handfeuerwaffen für den Schützen (!) sicher genug, so dass die Hersteller eine Erschließung des internen Marktes privater Waffenbesitzer anstreben konnten. Aggressive Vermarktungsstrategien zeitigten schließlich Erfolg, doch kamen kontingente Verschiebungen in den gesellschaftlichen Diskursen hinzu. So wurden Waffen von Kriminellen eingesetzt, was die Waffenindustrie nutzte, um ihre Produkte als Schutz vor Gangstern anzupreisen. Experten warnten dagegen vor der Verbreitung von Handfeuerwaffen und empfahlen, ihren Verkauf streng zu kontrollieren und an Lizenzen zu binden, da gerade Kriminelle diese leicht zu verbergenden Waffen verwendeten. Während die Fachleute auf das Risiko der unkontrollierten Waffenverbreitung hinwiesen und eine weitgehende Entwaffnung der Bevölkerung befürworteten, konnte sich die konträre Sicht allmählich durchsetzen, die für eine Bewaffnung zum Selbstschutz für den unbescholtenen Bürger plädierte. Gegen ein regional im Staat New York bestehendes Verbot machte der bestens vernetzte Jurist Karl Frederick mobil, dem es gelang, die staatlichen Behörden so zu beeinflussen, dass von dem weitgehenden Verbot privaten Waffenbesitzes, wie es die Regierung Roosevelt anstrebte, ausgerechnet die Handfeuerwaffen ausgenommen wurden. Als Präsident der National Rifle Association nutzte Frederick stereotype Erzählungen über Fälle heroischer Selbstverteidigung, mit denen die NRA bis heute die private Aufrüstung begründet, dem Risiko eines ubiquitären Schusswaffengebrauchs entgegentritt und eine staatliche Kontrolle ablehnt. Die Durchsetzung des spezifisch amerikanischen Umgangs mit dem Risiko, das die massenhafte Verbreitung von Schusswaffen in Privatbesitz darstellt, erweist sich als kontingenter Vorgang, ein Ineinanderfließen geschickter Vermarktung seitens der Produzenten und eines Diskurses über Wagnisse, der die Expertenmeinungen geradezu überrollte.
In seinen theoretischen Überlegungen zur Kontingenz widerspricht der Soziologe Joachim Renn der verbreiteten Annahme, die Moderne hätte einen Zuwachs an Kontingenzbewusstsein mit sich gebracht, deren "tragende Rückseite" das sich hartnäckig haltende "Zutrauen in die Gestaltbarkeit der Verhältnisse" gewesen sei. Der aktuelle Moderne-Diskurs konstatiere darüber hinaus, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Wandel stattgefunden habe, weshalb die heutige Gesellschaft von "Krisengewissheit und Risikovermutung" geprägt sei, ohne dass die "Situationsdeutung in eine handlungsleitende Zieldefinition überführt" werde. Renn macht statt eines Zuwachses an Kontingenz seit der Koselleckschen Sattelzeit vielmehr eine veränderte "Kontingenzverteilung" aus, die genau den Anschein einer Kontingenzvermehrung erwecke, das heißt Kontingenz verlagere sich in Bereiche, in denen sie sichtbarer ist, sie nehme jedoch nicht insgesamt zu. Sobald man "die Selektivität der Untersuchung des Kontingenzbewusstseins offensiv in Rechnung" stelle, müsse
"die Notwendigkeit der Beziehung zwischen sozialem Kontingenzbewusstseins und ›objektiver‹ oder ›struktureller‹ Kontingenz der modernen gesellschaftlichen Institutionen gar nicht mehr unterstellt werden."
Nach einer in die Evolutionsbiologie ausholenden Analyse der Entstehung von Kontingenz, diagnostiziert er eine "Steigerung der Unsicherheit durch die Vermehrung der Optionen, die sich allein durch den Einsatz der symbolischen Funktion und des Zeichens bei der Abstimmung des Verhaltens" einstellen. Damit sei Kontingenzbewusstsein historisch früh angelegt, denn Zeichen, die auf anderes verweisen, erzeugten Kontingenz der Kommunikation und des Verstehens. Die durch Normen sowie die Etablierung eingespielter Verfahren verheißene Kontingenzreduktion wirke einerseits entlastend, da man Normen widersprechen könne, würden andererseits neue Kontingenzen zugelassen. Darum finde sich im kulturellen Prozess grundsätzlich eine "Gleichzeitigkeit von Kontingenzreduktion und Kontingenzerzeugung". In der Moderne würden Kontingenzen zunehmend in die individuelle Lebensführung verlagert, woraus die Fehlwahrnehmung resultiere, es gebe einen Zuwachs an Kontingenz. Joachim Renn plädiert demgegenüber dafür, von Prozessen der (Um-)Verteilung und Verlagerung von Kontingenz auszugehen.


Stefan Brakensiek ist Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Duisburg-Essen, Christoph Marx ist dort Professor für Außereuropäische Geschichte, Benjamin Scheller ist dort Professor für die Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit.


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