Brühlmann-Jecklin | Weite Wege nach Daheim | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 186 Seiten

Brühlmann-Jecklin Weite Wege nach Daheim

Heim- und Verdingkinder erzählen

E-Book, Deutsch, 186 Seiten

ISBN: 978-3-99064-316-7
Verlag: novum pro Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ein dunkles Kapitel Schweizergeschichte begann in den 20-er-Jahren des letzten Jahrhunderts und dauerte bis in die 70-er-Jahre. Kinder wurden behördlich fremdplatziert, in Heime versorgt oder an Bauern- und Pflegefamilien verdingt. Ein Daheim fanden sie da nicht. Sie waren harter Arbeit ausgesetzt, oft auch Schlägen und sexuellem Missbrauch. Sieben Betroffene, heute zwischen 56- und 83-jährig, erzählten der Autorin ihre Geschichten, die in eine je eigene traurige Kinder- und Jugendzeit führen. Die hier porträtierten Menschen haben ihren Weg gefunden, doch sie tragen ihre Geschichten lebenslang in sich. Jedes einzelne Schicksal ist ein berührendes Zeitdokument. Das Buch wird vom Historiker Dr. Thomas Huonker zur Geschichte der Verding- und Heimkinder in einem eindrücklichen Vorwort eingeleitet.
Brühlmann-Jecklin Weite Wege nach Daheim jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


René Schüpbach * 21. Juni 1937 Wir Verdingbuben mussten draussen auf der Treppe essen. Auf der einen Seite waren die Hundeschüsseln, auf der andern hockten wir und assen die Resten aus der Küche. Einer zu viel am Tisch René ist das erste Kind seiner Eltern. Ein Brüderlein stirbt bald nach der Geburt. Warum die Mutter danach ein Leben lang auf der Suche ist, wissen wir nicht. Ihre Geschichte ist uns nicht bekannt. Aber dass sie Liebe sucht, wissen wir, den richtigen Mann. Fünfmal – wird René später erzählen – fünfmal war sie verheiratet. Aber jetzt ist René noch ein Kleinkind, als sich die Eltern scheiden lassen. Als er zweijährig ist, heiratet der Vater wieder, und René bekommt eine Stiefmutter. Sie schaut ihm recht, daran will er nie etwas aussetzen, aber als sie eigene Kinder bekommt, drei Mädchen und einen Jungen, ist René der Ungeliebte. Wenn er ungehorsam ist, auch nur ganz wenig, erzählt sie es abends dem Vater und der schlägt ihn. Die Stiefmutter steht daneben. Regungslos. Die richtige Mutter lebt jetzt in Genf, und manchmal darf er zu ihr zu Besuch. Aber ach, auch der Mann, den sie jetzt hat, schlägt das Kind. Schlägt es brutal. Danach ist es dem Bub recht, wieder ins andere Zuhause zu kommen. Wenn der Postbote einen Brief aus Genf bringt, von der Mutter, kommt eine kurze Freude in ihm auf. Doch dann schmeisst die Stiefmutter den Brief vor das Kind hin, sagt: „Da! Die Hure hat dir geschrieben!“ Das schmerzt. Sie ist doch seine Mutter. In der Schule dürfen die Kinder Handarbeiten anfertigen, die Mädchen stricken, die Buben werken. René will der Stiefmutter zum Muttertag ein Geschenk machen. Wie wohl täte ihm ein wenig Anerkennung, ein Lob, ein bisschen Liebe. Sorgfältig arbeitet er an einer Holzkelle, und voller Stolz trägt er sie heim. Aber wohin verstecken, bis der Muttertag da ist? In der Stube steht das Buffet. Die Kinder wissen, dass sie dort nichts zu suchen haben. Doch ein besseres Versteck gibt es nicht. René öffnet die unterste Schublade und legt die in Papier eingewickelte Kelle hinein. Am Muttertag schleicht er leise in die Stube, öffnet achtsam die Schublade, erschrickt, als er hört, wie jemand hereintritt. Dann sieht er die Stiefmutter. „Was machst du da. Du Bengel. Weisst genau, dass du da nichts verloren hast. Aber der Apfel fällt halt nicht weit vom Stamm. Du unnützer Kerl. Du Dieb!“ Jetzt sitzen alle in der Küche. Die Stiefgeschwister bringen ihre Muttertagsgeschenke, legen sie auf den Tisch, ernten viel Lob. „Und du?“, richtet sich der Vater an René, „hast wohl nichts zuwege gebracht. Warst zu faul?“ Der Bub ist den Tränen nah. Endlich traut er sich zu sagen, dass sein Geschenk in der Schublade des Stubenbuffets liege. Jetzt darf er es holen. Die Stiefmutter packt es aus. „Doch“, sagt sie kleinlaut, „das ist wirklich eine schöne Kelle geworden.“ René sieht, dass sie sich ein klein wenig schämt. Das ist ihm Trost. Es ist Nachkriegszeit und die Menschen haben selbst in der Schweiz nicht üppig zu essen. Der Vater arbeitet hart. Auch an Sonntagen. Dann hilft er dem Vermieter, um etwa einen Monatszins abzuverdienen. Er muss so viel arbeiten, denn inzwischen sind sie am Tisch zu siebent, und so beschliesst der Vater, es sei ein Maul zu viel. Der Älteste müsse weg. Soll zu einem Bauern. Soll seine Kost selber verdienen. Der Vater bringt den Achtjährigen zu einer Bauernfamilie, die selber drei Kinder hat. René versucht den Vater zu verstehen, sieht wie hart der arbeitet, um genügend Geld für die Familie zusammenzubringen. Gleichwohl schmerzt es ihn, dass er fort muss. Und weil die Eltern geschieden sind, bekommt er nun einen Vormund. Dass sein Lehrer dieses Amt übernimmt, ist gut. Und doch ist er jetzt mehr Arbeiter als Schulbub. Niemanden interessiert, dass er ein guter Schüler ist. Für den Bauern ist einzig wichtig, dass er eine tüchtige Arbeitskraft ist. Kein Patisserlie-Stückli für René René ist ein Bettnässerkind. Oft, wenn er morgens erwacht, ist das Bett nass. Und jedes Mal erschrickt er, weil er weiss, dass man ihn schelten wird. Immer am Freitag kommt der Bäcker vom Dorf bei den Bauersleuten vorbei. Bringt feine Patisserie. Ein Stückli für die Kinder. Für alle – ausser für ihn. „Wenn du dann einmal nicht mehr ins Bett machst, bekommst du auch eines“, sagt die Bäuerin. Jetzt grübelt René darüber nach, wie er das anstellen könnte. Er weiss ja nicht, weshalb sein Bett morgens oft nass ist. Er weiss nicht, weshalb er nicht erwacht. Es passiert ihm einfach. Aber jetzt hat er eine Idee: Er nimmt eine Schnur und bindet sie um die Vorhaut seines Glieds, bindet so die Harnröhre ab. Damit nichts auslaufen kann, denkt René und schläft ein. Als er morgens erwacht, zeigt sich sein Penis wie ein Ballon. Er öffnet die Schnur, kann normal Wasser lösen. Das Bett ist trocken. Voller Stolz sagt er zur Bäuerin: „Ich habe jetzt nicht ins Bett gemacht. Bekomme ich jetzt auch ein Stückli?“ Die Bäuerin antwortet: „Aha! Es geht also, wenn du willst. Du machst also immer extra ins Bett! Für so einen gibt es ganz gewiss kein Stückli.“ Die Bäuerin will den Bettnässerbub nicht mehr. Jetzt kommt er auf einen anderen Hof. Und dann noch auf einen andern. Während seiner Kinderzeit wird er bei fünf verschiedenen Bauern gewesen sein. Nirgends kann er wirklich Fuss fassen. Kaum hat er sich an eine Situation gewöhnt, und sei sie noch so schwierig, muss er wieder weg. Er wird sich später nicht mehr daran erinnern, welches der erste und welches der letzte Bauer war, aber er wird sich an einen ganz besonders erinnern. Essen wie die Hunde und der Lehrer, der einschreitet Nun ist er zusammen mit einem anderen Verdingbuben auf einem Bauernhof. Dass er geschlagen wird, ist er gewohnt, aber der Bauer hier übertrifft alles. Er schlägt die Verdingbuben für nichts. Obwohl beide hart arbeiten. Morgens muss René um fünf Uhr in den Stall. Dann bekommt er etwas Frühstück, bevor er den weiten Weg zur Schule geht. Und weil der Heimweg zu weit ist, kann er in der Schule bleiben, wo er einen Apfel und die Schulmilch bekommt. René hat immer Hunger. Nie genug zu essen. Die beiden Verdingbuben dürfen nicht in der Küche essen. Vor dem Haus, unter dem Vordach sitzen sie auf der Treppe, die direkt in die Küche führt. Sie essen die Resten, die man ihnen von dort bringt. Auf der anderen Seite der Treppe sind die Fresssnäpfe für die Hunde. Wenn bei den Resten ein klein wenig Fleisch dabei ist, sind die Buben schon fast ein wenig glücklich. Aber das ist nicht oft der Fall, denn sie bekommen genau das, was noch übrig ist. Mehr nicht. Einmal muss René Zuckerrüben schnetzeln. Runggeln, sagt man denen. Er kann die Maschine, mit der man die Runggeln zerschnetzelt, selber bedienen. Die Zuckerrübenstücke bekommen die Kühe als Futter. René nimmt sich ein kleines Stücklein, eines oder zwei, steckt sie in den Mund. Der Bauer sieht es, holt die Geissel, schlägt den Bub erbarmungslos, schreit: „Nein, das geht nicht. Du kannst nicht den Kühen das Futter wegfressen.“ René weiss nicht, ob der Hunger oder die Schläge mehr schmerzen. In der Schule sitzt er nun auf der harten Bank am Pult. Der Lehrer will, dass die Kinder hinten anlehnen. Ihr Rückgrat soll gerade wachsen. Aber der Rücken des Buben ist von der Geissel so verschlagen, dass René kaum sitzen und schon gar nicht anlehnen kann. Das merkt der Lehrer. Gottseidank. Weil er auch sein Vormund ist, schaut er immer ein wenig zum ihm anvertrauten Kind. „Warte nach der Schule“, sagt er zu ihm. „Aber ich muss sofort heim. Ich bekomme Schläge, wenn ich zu spät bin!“ – „Nein. Du bekommst bei diesem Bauern keine Schläge mehr, dafür sorge ich.“ René wird es warm ums Herz. Da ist einer, der ihn versteht. Einer der sich für ihn einsetzt. Vertrauensvoll berichtet er ihm alles. Erzählt von den Schlägen, vom Essen auf der Treppe, vom Hunger, von den Zuckerrüben, und der Lehrer sagt tröstend: „Komm. Das wird jetzt sofort ändern.“ Er führt den Bub zu seinem kleinen Auto und fährt mit ihm schnurstracks auf den Bauernhof. Als der Bauer ihn kommen sieht, hört man ihn fluchen. „Was kommt dir in den Sinn, so spät heimzukommen. Und dann noch mit einem Auto.“ Dann hängt er seinen Worten ein paar grobe Flüche an. Der Lehrer tritt auf den Bauern zu, sagt: „Wir diskutieren hier nicht. René packt jetzt sein Bündelchen.“ Der andere Verdingbub steht staunend daneben. „Und der da kommt auch gleich mit. Geht, holt eure Sachen.“ Dem Bauern bleiben die Worte weg. Er hört den Lehrer noch sagen: „Ihr habt für alle Zeiten Verdingbuben gesehen. Dafür werde ich sorgen!“ Dann steigt er zusammen mit den Buben in sein Auto und fährt davon. Vorübergehend darf René heim. Bis ein neuer Bauer gefunden wird. Aufatmen? Der Bub Aber ach: Daheim hat sich nichts geändert. Er ist der Stiefbub. Und wenn er etwas angestellt hat, schlägt zuerst einmal die Stiefmutter zu. Und abends, wenn der Vater von der Arbeit heimkommt, müde und mit schlechten Nerven, erzählt ihm die Stiefmutter das Vergehen. Und nochmals gibt es Schläge. Brutale Schläge. Der Vater nimmt den Hosenriemen aus den Schlaufen, hält diesen so, dass die Schnalle in der Mitte des Gurtes ist, schlägt damit dem Kind auf den Hintern. René beisst auf die Zähne. Der Schmerz ist unendlich gross. Inwendig und...


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.