Brunner / Dölling | Jugendgerichtsgesetz | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 733 Seiten

Reihe: De Gruyter Kommentar

Brunner / Dölling Jugendgerichtsgesetz

Kommentar

E-Book, Deutsch, 733 Seiten

Reihe: De Gruyter Kommentar

ISBN: 978-3-11-068643-2
Verlag: De Gruyter
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Die Neuauflage des Klassikers ist umfassend überarbeitet und enthält die weitreichenden Änderungen des JGG durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren sowie durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung.
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Jugendgerichtsgesetz (JGG)
In der Fassung der Bekanntmachung vom 11.12.1974 (BGBl. I 3427), zuletzt geändert durch Art. 21 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 25.6.2021 (BGBl. I 2099) Rudolf Brunner Dieter Dölling JGG? ? Einführung
I. Jugendkriminologische Aspekte
1. JKriminalrechtspflege und Kriminologie
1Diese kriminologischen Aspekte wollen weder eine Einführung in die Kriminologie ersetzen, noch die Richtungen der gegenwärtigen kriminologischen Forschung erschöpfen und werten. Es geht vielmehr darum, den in der JKriminalrechtspflege Tätigen Hilfen und Anregungen für eigene Weiterarbeit und dem täterbezogenen Ausgangspunkt und den Zielvorstellungen des JGG den notwendigen Hintergrund zu geben. Wie wichtig es gerade für diesen Personenkreis ist, den Umgang mit Informationen aus der Kriminologie und anderen Erfahrungswissenschaften zu erlernen, ist nicht erst bei H. J. Schneider1 nachzulesen, schon Nietzsche hat in seiner Sammlung 18832 gesagt: „Bevor man den Menschen sucht, muss man die Laterne gefunden haben“ (Nr. 62) und „Über Gut und Böse glaubt sich Jedermann Kenner und irrt sich“ (Nr. 143). Das JGG verlangt deshalb seit 2022 in § 37 I 2, dass JRichter und JStaatsanwälte über Kenntnisse auf den Gebieten der Kriminologie, Pädagogik und Sozialpädagogik sowie der JPsychologie verfügen sollten. 2Mittelpunkt des JStrafverfahrens ist der noch in der Entwicklung stehende, also prägbare junge Mensch, der von uns die rechte Maßnahme zur rechten Zeit fordert. Die schwere Entscheidung des JRichters, ob die Tat nur Episode oder schon Symptom ist3, muss dazu führen, bei vorwiegend entwicklungsbedingten, also zumeist episodischen Tätern nicht durch überschießende Maßnahmen sekundäre Sozialabweichung und Stigmatisierung4 zu riskieren, aber auch die erheblich Gefährdeten frühzeitig zu erkennen, um zu versuchen, sie mit gezielten Maßnahmen rechtzeitig erz. nachhaltig zu beeinflussen und von weiteren Straftaten abzuhalten. Diese verantwortungsvolle Aufgabe erhellt die Bedeutung des JStrafverfahrens, aber auch die Notwendigkeit fördernder und schützender Maßnahmen im präjustiziellen Raum. Der Großteil der JKriminalität ist vorübergehende Gelegenheitsdelinquenz und nicht die ErwKriminalität von morgen5. Andererseits kann erhebliche frühe Kriminalität einen Indikator für einen möglichen Weg in die Intensivtäterschaft darstellen6. 2. Bereiche der Kriminologie
3Die Kriminologie befasst sich als empirische Wissenschaft von der Kriminalität und dem Umgang mit Kriminalität mit den in Wechselbeziehungen zueinander stehenden Bereichen Verbrechen, Verbrecher, Opfer und Verbrechenskontrolle7. Für das Verständnis der und den Umgang mit JKriminalität sind insbes. die Befunde der Kriminologie über die JDelinquenz sowie die Resultate der Sanktions- und der Rechtstatsachenforschung von Bedeutung. 4Für die Erfassung von Umfang und Struktur der JKriminalität kommt neben der Auswertung der Kriminalstatistiken der Dunkelfeldforschung erhebliches Gewicht zu. Registriert werden nur die durch eigene Wahrnehmung der Polizei oder durch Anzeige bekannt gewordenen Straftaten, wobei im Bereich der „herkömmlichen“, gegen die Person sowie gegen Eigentum und Vermögen gerichteten Kriminalität die registrierten Taten zu etwa 90 % durch Anzeige bekannt werden. Der größte Teil der Straftaten bleibt jedoch im Dunkelfeld, also der Polizei und der Justiz verborgen. So betrug bei der Göttinger Opferbefragung 1973/74 das Verhältnis zwischen registrierter und nicht registrierter Kriminalität 1:108. Das erhebliche, von Delikt zu Delikt unterschiedliche Dunkelfeld wird durch schwankendes Anzeigeverhalten beeinflusst und verbirgt vermutlich eher Erw. als J. 5Die Kriminologie versucht, mittels in anonymisierter Form durchgeführter Täter-, Opfer- und Informantenbefragungen das Dunkelfeld aufzuhellen. Jede dieser Befragungen bietet eine Reihe methodischer Schwierigkeiten und stößt an Grenzen des Aussagewertes9. Die Täterbefragungen haben jedoch übereinstimmend die „Normalität“ und „Ubiquität“ der JKriminalität in dem Sinne ergeben, dass es kaum einen männlichen J gibt, der nicht irgendwann einmal gegen die Normen des StGB verstoßen hat10. Zumeist handelt es sich allerdings um gelegentliche relativ leichte Delikte wie Schwarzfahren, kleinere Diebstähle oder Sachbeschädigung11. Mädchen sind weniger belastet als Jungen12. Diese JDelinquenz bleibt überwiegend Episode und klingt im Rahmen des Reifungsprozesses ab13. Daneben steht die relativ kleine Gruppe der Mehrfachtäter (dazu Rn 41–44), auf die ein großer Teil der JKriminalität entfällt14. Des Dunkelfeldes halber unterscheidet Heinz15 nicht zwischen „Kriminellen“ und „Nichtkriminellen“, sondern zwischen „Nicht- und Niedrigbelasteten“ einerseits und „Hochbelasteten“ andererseits16. 6Nach diesen Befunden lässt sich JKriminalität überwiegend aus den Schwierigkeiten der konfliktreichen Reifungs- und Sozialisierungsvorgänge herleiten17 und bleibt dann zumeist episodenhaft, kann aber auch nach der Qualität der Taten und der Persönlichkeitsstruktur der Täter bereits Symptom für ernste Gefährdung sein18. Gerade das macht jrichterliche Entscheidungen so schwer und gewichtig in ihren Wirkungen. 7JKriminalität beschränkt sich nicht auf die Unterschicht, andererseits ist deren Anteil unter Tatverdächtigen und Verurteilten überproportional. Hieraus vor allem leitet der kriminalsoziologische Etikettierungsansatz (Definitionsansatz, labeling approach) her, dass die vom Mehrfaktorenansatz (Rn 17) ermittelten kriminogenen Merkmale lediglich Selektionskriterien der Strafverfolgungsorgane seien, abweichendes Verhalten also Ergebnis gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse sei und die Selektion bestimmter Personen die hierarchische Struktur der Gesellschaft widerspiegele. Dies wird teilweise dahin zugespitzt, dass die Instanzen der Sozialkontrolle, insbes. Polizei und Justiz, durch selektive Sanktionierung die Unterschichten diskriminierten und kriminalisierten19. Nach der sozialpsychologischen Variante des labeling approach führt die Etikettierung einer Person als „kriminell“ dazu, dass diese das an sie herangetragene Fremdbild, ein „Krimineller“ zu sein, in ihr Selbstbild übernimmt und entsprechend handelt, sodass die Strafverfolgung Delinquenz in Form „sekundärer Abweichung“ und verfestigte „kriminelle Karrieren“ produziert20. Der Labeling-Ansatz weist zutreffend auf die mit Stigmatisierungsprozessen verbundenen Gefahren hin und hat als Tendenz zur „Entkriminalisierung“ die jstrafrechtliche Theorie und Praxis sowie die Kriminalpolitik erheblich beeinflusst21. Eine ausreichende empirische Bestätigung der Thesen des Etikettierungsansatzes steht aber noch aus22. Die Problematik der Kriminalität erschöpft sich zudem nicht in Definitionsprozessen23. Kriminelle Handlungen können gravierende materielle und immaterielle Schäden verursachen. Delinquenz hängt ua mit defizitären Lebenssituationen und psychischen Belastungen, aber auch mit der Art und Weise zusammen, mit der sich Menschen mit den auf sie einwirkenden Einflüssen und den zu bewältigenden Aufgaben und Konflikten auseinandersetzen. Kriminalität hat daher auch eine menschlich-ethische Dimension. Gerade auch der junge Täter sollte nicht nur als „Opfer der Verhältnisse“ angesehen werden, sondern auch als „Träger seiner Tat24. Außerdem ist es nicht verantwortbar, die Augen vor Fehlentwicklungen junger Menschen und der Notwendigkeit des Gegensteuerns zu verschließen25. Der labeling approach vermag daher die „traditionelle“ Kriminologie nicht zu ersetzen, kann sie aber in wichtigen Punkten ergänzen. 8Die Sanktionsforschung versucht mit empirischen Erfolgskontrollen der Wirkungen strafrechtlicher Rechtsfolgen dem Richter Entscheidungshilfen und der Rechtspolitik Material zu geben. Die Messung von Sanktionswirkungen wirft freilich erhebliche methodische Probleme auf26. Nach den vorliegenden Befunden ist die durchschnittliche Rückfallhäufigkeit nach ambulanten Maßnahmen geringer als nach stationären Sanktionen27. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass dies zu einem erheblichen Teil auf Auswahlprozesse zurückzuführen ist, die der...


Dieter Dölling, Universität Heidelberg.

Dieter Dölling
, University of Heidelberg, Germany.


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