Butler | Ein wenig Glaube | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 382 Seiten

Butler Ein wenig Glaube

Roman

E-Book, Deutsch, 382 Seiten

ISBN: 978-3-608-11573-4
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ein schmerzhaft-schöner Familienroman, der die Macht und die Grenzen des Glaubens mit besonderem Feingefühl erkundet: Lyle und Peg Hovde empfinden es als großes Glück, dass ihre Tochter Shiloh samt Enkelsohn wieder nach Hause zurückgekehrt ist. Doch bald treibt Shilohs neue Glaubensgemeinschaft einen Keil in das harmonische Familienleben. Als sich abzeichnet, dass auch der fünfjährige Isaac in die Fänge der Sekte geraten könnte, müssen die Großeltern eine folgenschwere Entscheidung treffen, die die Familie vollends entzweien könnte.

Lyle und Peg Hovde genießen im ländlichen Wisconsin ihr Großelternglück. Gerade ist ihre alleinerziehende Adoptivtochter Shiloh mit dem fünfjährigen Isaac nach Wisconsin zurückgekehrt, und die Familie zum ersten Mal seit Jahren wieder vereint. Doch es gibt einen Wermutstropfen, denn während ihrer Abwesenheit hat sich Shiloh einer radikalen Glaubensgemeinschaft angenähert. Lyle beobachtet Shilohs Entwicklung mit Skepsis, vor allem als deutlich wird, welche Rolle der Enkelsohn Isaac in der religiösen Gemeinde spielt. Doch je stärker er sein Unbehagen zum Ausdruck bringt, umso heftiger reagiert Shiloh. Lyle versucht alles, um das Vertrauen seiner Tochter wieder zurückzugewinnen, doch als das Glaubensdogma der Sekte Isaacs Sicherheit bedroht, ist Lyle gezwungen, eine folgenschwere Entscheidung zu treffen. Nickolas Butler widmet sich mit großem Einfühlungsvermögen einem hoch sensiblen Thema. Was darf der Glaube und welche Macht kann er entfalten? Wann muss man Menschen vor ihrem Glauben beschützen und kann das überhaupt gelingen?
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1
Der kleine Junge kicherte und ließ seine zarten, zierlichen Hände über die zerfurchte Stirn des alten Mannes gleiten, über seine ergrauenden Augenbrauen, seine Lider und seine Wimpern. Schließlich legte er ihm die Augenbinde knapp oberhalb der Nase an, band sie hinter den Ohren fest und lief über den sonnendurchfluteten Friedhof, um sich zu verstecken. »Zähl bis zwanzig, Opa«, rief der Junge. »Eins … zwei … drei …«, begann der alte Mann laut und ohne jede Eile, mit der Geduld einer staubigen Standuhr in der Ecke eines Esszimmers. Das Gelächter entfernte sich. Lyle Hovde zählte langsam weiter. Das rote, verschlissene Taschentuch, das der Junge ihm auf Augenbrauen und Lider gepresst hatte, roch nach seinen Wrangler-Bluejeans – nach Diesel, Benzin und Sägemehl, nach den goldfarbenen Karamellbonbons, die er so gerne aß, und nach dem scharfen, metallischen Aroma des losen Kleingelds, das er in der Hosentasche mit sich herumtrug. Als er bei sechs anlangte, konnte er gerade noch den Atem des Jungen hören, seine kleinen Schritte, die sich immer weiter entfernten, hier und da einen Kiefernzapfen oder einen zur Erde gefallenen Weißkiefernzweig, der unter der Sohle eines Turnschuhs knirschte, den quietschenden Laut des hochgeschossenen Frühlingsgrases im dichten Schatten und ein leises Kichern. Als er die Zwölf zählte, war da nur noch das wiederholte Krächzen einer Krähe, die im Wipfel einer Kiefer saß. Bei siebzehn spürte er, wie sich sein Herzschlag verlangsamte. Er genoss es, wie ihm die Strahlen der Aprilsonne das Gesicht wärmten, genoss das Gefühl der Geborgenheit, das ihm seine behagliche alte Scheunenjacke gab, die ihn wie in eine warme Bettdecke einhüllte. Er verspürte das Verlangen, einfach einzunicken und sich in das weiche, schwarze Meer des Schlafes fallen zu lassen. Er zählte immer langsamer, bis er schließlich bei zwanzig das Tuch hochschob und die Augen öffnete. Die Welt war immer noch da, mit ihren tausend unterschiedlichen Tönen aus zart knospendem Grün und sanft verblassendem Braun und Gelb. Auf der Friedhofsstraße herrschte nicht der geringste Verkehr. Es war kein einziges Auto zu sehen. Nirgendwo ein Traktor, der ein Feld bestellte. Über ihm im Himmel zogen zwei Kanadakraniche im Sinkflug einem weit entfernten See entgegen. Er hatte sich im Sitzen mit dem Rücken gegen den Grabstein seines Sohnes Peter gelehnt, und als er sich nun ganz langsam erhob, hörte er das protestierende Knacken seiner Kniegelenke. Einen Moment lang stützte er sich an der Granitplatte ab, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. »Jetzt pass auf«, rief er. »Ich krieg dich!« Es war ein kleiner Friedhof, mit kaum mehr als zweihundert Grabsteinen. Als Lyle aufstand, kippte sein Schatten nach vorn, huschte von seinen Stiefeln fort und zog sich im schwindenden Sonnenlicht in die Länge. Dieses Kind dort, sein Isaac, das einzige Enkelkind, das er hatte, dieser fünfjährige Junge – was besaß er doch für eine Energie. Den ganzen Tag schon, während Lyles Frau Peg und ihre gemeinsame Tochter Shiloh zum Einkaufen nach Minneapolis gefahren waren, war es Lyles Aufgabe gewesen, sich um Isaac zu kümmern, was ihm jedoch keineswegs Mühe bereitete, o nein, nicht die geringste. Aber, meine Güte, wie unermüdlich dieser Junge doch durch die Gegend lief, wie er rannte und rannte und rannte … Es war erst später Nachmittag, noch nicht einmal Abend, und Lyle war jetzt schon so müde, als hätte er den ganzen Tag schwerste körperliche Arbeit geleistet, als hätte er Holz gehackt oder Felsbrocken von einem Feld aufgelesen und sie auf einer Schubkarre gestapelt. »Warte nur, bis ich dich finde«, rief Lyle. »Warte nur …« Er ging langsam zwischen den Grabsteinen entlang, kam an den Gräbern alter Frauen und Männer vorbei, die er gekannt hatte, vor so vielen Jahren. Damals waren sie etwa in dem Alter gewesen, in dem Lyle sich jetzt selbst befand. Sie hatten die Bänke der evangelischen Kirche St. Olaf bevölkert oder sich durch die schmalen Gänge von Hansons Baumarkt gedrängt, hatten mit den Fingern auf Farbmuster gezeigt, Kanister mit Insektengift begutachtet oder sich einen prall mit Viehfutter gefüllten Jutesack auf den Rücken gehievt. Oder sie hatten im IGA-Supermarkt Einkaufswägen mit wackligen Rollen durch die Gänge geschoben; der Ehemann hatte sich zu orientieren versucht, während die Ehefrau ihre lange Einkaufsliste ausgerollt hatte, auf der in zierlicher Schreibschrift so unendlich viele Einzelheiten ihres gemeinsamen Lebens vermerkt waren. Ehemalige Lehrer, Farmer, Briefträger, Holzarbeiter, Milchmänner, Automechaniker, Schnellrestaurantköche, Sekretäre, Zahnärzte, Allgemeinärzte, Feuerwehrmänner, Metzger, Bankkassierer, Barkeeper, Tierpräparatoren … Beinahe wäre er schnurstracks an Isaac vorbeimarschiert, aber dem Jungen entfuhr ein leises Kichern, und so entdeckte Lyle ihn im Schatten des Grabsteins vom alten Egdahl. Gefunden zu werden, war, wie Lyle nur zu gut wusste, der halbe Spaß an der Sache, und so stürzte er sich auf den Jungen, kitzelte ihn an seinem zarten, weichen Kinderbauch, unter den Achseln und am Hals, so lange, bis Isaac vollkommen außer Atem war. Dann erst setzte sich Lyle zufrieden neben seinen Enkel auf die Erde. Ihm fiel auf, dass sich die Schnürsenkel des Jungen gelöst hatten, also machte er sich sogleich daran, sie wieder fest zuzubinden. »Ich musste heute gar keinen Mittagsschlaf machen«, sagte Isaac und leckte sich die aufgesprungenen Lippen. Lyle gab ihm einen Klaps auf die zugebundenen Schuhe, steckte dann die Hand in die Tasche und reichte dem Jungen eine kleine gelbe Dose mit Lippenbalsam. »Du bist jetzt schon fünf Jahre alt. Du kannst nicht bis in alle Ewigkeit Mittagsschlaf halten.« »Oma hat gesagt, dass man nie zu alt ist für Mittagsschlaf. Sie hat gesagt, jeder sollte Mittagsschlaf machen. Jeden Tag. Sie hat gesagt, in Spanien und Portugal machen nachmittags immer alle Geschäfte zu, damit die Leute ihre Siesta halten können.« »Was weißt du denn über Portugal?«, fragte Lyle. Der Junge blinzelte Lyle an, tupfte dann einen Finger in den Lippenbalsam und bemalte sich damit die Lippen. »Du machst auch ab und zu ein Schläfchen, Opa.« »Was sagst du da?« »Du machst ein Schläfchen. In deinem Sessel. Wenn du Fernsehen guckst. Dann schnarchst du sogar.« »Das sind keine Schläfchen, das sind Pausen. Dein Opa macht dann einfach nur eine Pause.« »Während einer Pause sollte man aber doch nicht schnarchen, Opa.« »Ich schnarche nicht.« Der kleine Junge lachte. »Doch, tust du wohl. Mama hat es mit dem Handy aufgenommen. Und Oma hat mir erzählt, dass du sogar manchmal von deinem eigenen Schnarchen wach wirst.« Lyle zerzauste die blonden Haare des Jungen. »Na, komm, lass uns den Grabstein deines Onkels sauber machen, und dann können wir Hoot besuchen gehen. Er erwartet uns schon. Vielleicht hat er ja sogar noch ein bisschen Eiscreme für dich.« Sie gingen zu dem alten Wasserrohr in der Mitte des Friedhofs und füllten zwei Aluminiumeimer mit kaltem Brunnenwasser. Lyle fügte noch ein paar Tropfen blaues Spülmittel aus einer kleinen Plastikflasche hinzu, die er von zu Hause mitgebracht hatte, ließ seine Hand im Wasser kreisen, sodass winzige, in allen Farben des Regenbogens schimmernde Bläschen aufstiegen, und trug die beiden überschwappenden Eimer dann zurück zum Grab seines verstorbenen Sohnes. Und während ihnen die Sonne auf die Schultern schien und durch die dünne durchsichtige Haut ihrer Ohren leuchtete, wuschen er und Isaac den Grabstein mit Stahlwolle, die sie zwischen ihren Fingern zusammenknüllten. Mit jeder Minute, die verging, kühlte sich die Nachmittagsluft noch ein wenig weiter ab, und schließlich waren ihre Hände rot vor Kälte. »Erzähl mir die Geschichte noch mal«, sagte der Junge. »Warum ist er … was ist mit ihm passiert?« Lyle rückte dem Grabstein mit der Stahlwolle zu Leibe und schrubbte Schmutz und Flechten herunter. Dann sah er seinen Enkel an und spürte, wie ihn eine gewaltige Welle der Liebe durchströmte. Er war ein solch sensibles, wissbegieriges und liebenswürdiges Kind – und das waren Eigenschaften, die Lyle in seinem Leben immer mehr zu schätzen gelernt hatte. Mehr als alles andere auf der Welt. »Er war eben einfach nicht gesund genug«, antwortete er schließlich, wobei er die tragischen Einzelheiten ausließ. »Es hat nicht sollen sein, dass er hier bei uns blieb, denke ich.« »Wie lange war er denn hier? Ich meine, wie alt war er, als …« »Etwa neun Monate.« Der Junge nickte und fuhr fort,...


Merkel, Dorothee
Dorothee Merkel lebt als freie Übersetzerin in Köln. Zu ihren Übertragungen aus dem Englischen zählen Werke von Edgar Allan Poe, John Banville, John Lanchester und Nickolas Butler.

Butler, Nickolas
Nickolas Butler, geboren 1979 in Allentown, Pennsylvania, wuchs in Eau Claire, Wisconsin auf. Er studierte an der University of Wisconsin und beim University of Iowa Writers' Workshop. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Im Herbst 2013 erschien sein Roman 'Shotgun Lovesongs'.

Nickolas Butler, geboren 1979 in Allentown, Pennsylvania, wuchs in Eau Claire, Wisconsin auf. Er studierte an der University of Wisconsin und beim University of Iowa Writers' Workshop. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Im Herbst 2013 erschien sein Roman 'Shotgun Lovesongs'.

Dorothee Merkel lebt als freie Übersetzerin in Köln. Zu ihren Übertragungen aus dem Englischen zählen Werke von Edgar Allan Poe, John Banville, John Lanchester und Nickolas Butler.


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