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Cankiran Das geraubte Glück

Zwangsheiraten in unserer Gesellschaft

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ISBN: 978-3-451-81566-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Zwangsverheiratung und Ehrenmord sind in unserer Gesellschaft noch immer präsent. Vor allem in türkischstämmigen Familien sind diese Phänomene anzutreffen. Warum zwingen Eltern ihre Kinder zu einer Ehe? Warum wehren sich die Töchter und Schwiegertöchter nicht gegen diese Form der Gewalt? Warum beugen sich Söhne und Schwiegersöhne? Warum betrachten Männer Frauen als ihren Besitz? Und wie kommt es zu Ehrenmorden? In ihrem Buch klärt Rukiye Cankiran über ein dunkles Geheimnis auf.
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2. Falsche Toleranz

Warum wir extreme Entwicklungen ablehnen müssen
Die erste Generation der türkischen Einwanderer in Deutschland kommt langsam in die Jahre. Während einige dieser Generation noch immer zwischen der Türkei und Deutschland hin und her pendeln, verbringen andere ihren Lebensabend gänzlich in der alten Heimat. Sie sind in ihr Dorf zurückgekehrt, leben an einem schönen Ort am Meer oder in einer Großstadt. In jedem Fall versuchen sie, ein Zuhause zu finden. Viele dieser »Gastarbeiterinnen« (und teilweise auch ihrer Ehemänner), die in ihrem Heimatdorf bereits früh verheiratet wurden, waren als Analphabetinnen nach Deutschland gekommen. Doch weder ihre neuen Arbeitgeber noch ihre Nachbarn oder die deutschen Behörden haben sich jemals daran gestört, dass ihnen ein grundlegendes Menschenrecht, das Recht auf Bildung, verwehrt worden war. Ohnehin dachten alle, dass diese »Gastarbeiter« nach einigen Arbeitsjahren in ihre Heimat zurückkehren würden. Und auch dass diese Familien ihre Kinder früh mit Partnern aus der Heimat verheirateten, wurde toleriert. Eine dörfliche Denkweise, die darauf zielt, Sexualität zu kontrollieren und persönliche Freiheit der Kinder einzuschränken, wurde hingenommen, selbst wenn der Preis, den die Kinder häufig dafür zahlen mussten, der Abbruch von Schule oder Ausbildung war. Von dieser nächsten Generation wird hierzulande erwartet, dass sie sich mit der Mehrheitsbevölkerung vermischt und sich so weit integriert, dass sie ein Teil der Bevölkerung des Landes wird. Das ist trotz der widrigen Umstände zum großen Teil tatsächlich gelungen, denn inzwischen sind viele junge Türkeistämmige in der Politik aktiv, sie arbeiten in qualifizierten Jobs und tragen als Selbstständige zum wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands bei. Gleichzeitig aber erwarten konservative Familien von ihren Kindern und Enkelkindern, dass sie die Traditionen der Großeltern weiterführen und sich auch mit der ursprünglichen Heimat ihrer Familien identifizieren. Das ist das Dilemma der Generation, die mit zwei Kulturen aufgewachsen ist. Inzwischen lebt die dritte und vierte Generation dieser ehemaligen Gastarbeiterfamilien hier, teilweise weiterhin jung verheiratet mit EhepartnerInnen aus der Heimat. Aber es gibt auch eine kleine Minderheit, vielleicht sind es drei bis fünf Prozent der Türkeistämmigen (also Kurden oder Türken), die immer wieder für Schlagzeilen in den Medien sorgt, sei es, weil ein »Ehrenmord« geschah, sei es, weil andere Formen unfassbarer, extremer Gewalt an Familienmitgliedern die Menschen schockieren. Zu einer sachlichen Diskussion dieses Themas gehört es, zu benennen, dass Gewalt gegen Frauen alltäglich ist – weltweit. In allen Details berichten die Medien über sogenannte »Ehrenmorde«, »gewöhnliche« Beziehungstaten, wie sie in unserer Gesellschaft gang und gäbe sind, werden jedoch von vielen kaum beachtet. Dabei sind auch diese Taten Gewalt an Frauen, und auch hier sind der verletzte Stolz des Mannes und seine Wut bzw. Frustration der Auslöser für die Tat. Auch wenn kein Familienclan hinter solch einer Tat steht, ist doch der Grund meist eine von der Frau initiierte Trennungssituation. Auch hier spielt also der Kampf der Frauen um Befreiung, Selbstbestimmung und um die Entscheidung über das eigene Leben eine wichtige Rolle. Anders formuliert: Es gäbe wahrscheinlich insgesamt wesentlich mehr Morde, würden Frauen verschiedene Formen der Gewalt in ihrer Beziehung nicht ertragen. Viele Frauen sind finanziell oder emotional von ihren Partnern abhängig, sie finden einen Weg, ihre Beziehung weiter zu führen und tun dies häufig wegen der Kinder. Dies gilt weltweit für sehr viele Frauen. Es ist bedauerlich, dass Journalisten sogenannte Ehrenmorde bis ins Detail hinterfragen und darüber ausführlich berichten, dass sie aber all die anderen Morde und Gewalttaten an Frauen als Normalität in einer Gesellschaft abtun. Natürlich ist der durch einen Clan legitimierte und in einem Akt der Selbstjustiz in Auftrag gegebene Ehrenmord in keiner Hinsicht zu verharmlosen. Und dennoch gilt: Wir dürfen all diese Formen von Gewalt in unserer Gesellschaft nicht tolerieren. Die Lebenssituationen türkischer MigrantInnen sind äußerst vielfältig. Man findet sie überall; sie sind mehrheitlich in der hiesigen Gesellschaft angekommen. Und das, obwohl viele von ihnen aufgrund ihrer Herkunft und der Migrationsgeschichte ihrer Eltern schlechte Startbedingungen in Schule und Beruf hatten. Etliche wurden aufgrund ihrer Religion, ihres Aussehens, ihrer Sprache oder Herkunft diskriminiert, immer wieder hatten sie mit Vorurteilen zu kämpfen, und mancherorts ist das bis heute so. Ein großer Teil der gläubigen Türkeistämmigen bejaht die Vereinbarkeit von Islam und Europa, und zwar in Form eines liberalen Islam, den viele hierzulande frei ausleben können. Massive Probleme haben die Menschen, und zwar auch die Türkeistämmigen selbst, mit den strenggläubigen, rückständigen und politischen Islamisten, die westliche Werte und demokratische Strukturen ablehnen und entsprechend ihre Familien gegenüber allem öffentlichen Leben abschotten. Damit gemäßigte und moderate junge Muslime nicht aus Frustration oder Perspektivlosigkeit zu den Extremisten abdriften, ist es besonders wichtig, dass sie Zukunftschancen bekommen. Dazu gehören Bildung und Ausbildung, die Integration auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, die Anerkennung der Vielfalt, eine Kultur, die fördert und fordert, kurz gesagt: Normalität. Das kann nur auf Augenhöhe gelingen, die Menschen müssen ernst genommen werden. Gleichzeitig müssen wir klar kommunizieren, welches Verhalten und Denken die hiesige Gesellschaft nicht duldet, weil es gegen demokratische und freiheitliche Grundsätze verstößt. Nur so können Menschen auch zeigen, dass sie Verantwortung für eine gemeinsame friedliche Zukunft übernehmen wollen. Eine Kultur des Schweigens toleriert Extremismus. Es muss klar definiert werden, wo die Grenzen der Toleranz liegen. Ein anschauliches Beispiel hierfür sind die Kopftücher und Schleier, die viele praktizierende Musliminnen tragen. Ein legeres, dunkles oder buntes Kopftuch, ein Schleier oder ein konservatives Gewand werden ohne große Probleme in weiten Teilen Europas akzeptiert. Aber ein Niqab (bedeckt den ganzen Körper und die untere Gesichtshälfte, wird insbesondere auf der Arabischen Halbinsel getragen) oder eine Burka (bedeckt den Körper und zusätzlich das Gesicht mit einem undurchsichtigen Gitter, wird in Afghanistan getragen), die den Frauen das Gesicht nehmen und die sie tragen sollen, um sich so zu schützen, sind für Europa nicht akzeptabel. Selbst in Iran, wo das Leben den Regeln der Scharia gehorcht, wird kein Gesichtsschleier getragen, was schon sehr viel aussagt, da in vielen anderen Bereichen Freiheiten und Rechte, insbesondere der Frauen, eingeschränkt werden. Zurzeit kämpfen Frauen in Iran um die Abschaffung des Kopftuchzwanges, wobei sie häufig ihr Leben riskieren. Die Ablehnung des Extremen muss deutlich artikuliert werden, auch wenn es im ersten Moment wie eine Diskriminierung klingt und viele Muslime meinen, sie würden in ihrer Religionsausübung eingeschränkt. Gemeinsam in Frieden zu leben bedeutet, dass beide Seiten aufeinander zugehen und Kompromisse eingehen müssen. Im Streitfall müssen gemeinsame Werte ausgehandelt werden. Gesellschaften unterliegen einem Wandel, der sich nicht aufhalten lässt. Daher ist es umso wichtiger, dass alle Beteiligten diesen Wandel gemeinsam gestalten. Wenn verschiedene Weltanschauungen und Wertesysteme aufeinanderprallen, bleiben Konflikte nicht aus. Und diese Konflikte zu bewältigen, ist eine zentrale Herausforderung in gemischten Gesellschaften. Eine gemeinsame Basis von Recht und Ordnung, aber auch klar definierte Freiheiten müssen für alle gelten. Bezogen auf mein Thema ist der Punkt der Gleichberechtigung von Frauen von großer Bedeutung. Ihnen soll genauso wie Männern die Möglichkeit gegeben werden, ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen. Immer häufiger vermitteln uns die Medien die Existenz einer »islamischen Parallelgesellschaft«, die sich hermetisch abschottet. Die Familienmitglieder, so heißt es, schirmten ihren kleinen gesellschaftlichen Kreis ab. Insbesondere die Frauen sprächen kaum Deutsch, hätten keinen Kontakt zu Deutschen und lebten wie Sklavinnen. Die Freiheiten, die europäische Frauen nach langen Kämpfen für sich errungen haben und die inzwischen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft selbstverständlich sind, gälten kaum für muslimische Frauen, die in strenggläubigen und traditionellen Familien leben. Und tatsächlich, solche Strukturen gibt es leider, aber sie bestimmen nicht die Mehrheit der hier lebenden Muslime. Dies zu betonen finde ich wichtig, damit wir die modernen MigrantInnen als MitstreiterInnen für den Kampf um ein demokratisches, freies und unabhängiges Leben gewinnen. Denn insbesondere moderate Muslime werden weltweit und auch hierzulande von Islamisten immer wieder angegriffen und zurechtgewiesen. Ein aktuelles Beispiel ist die Anwältin und Menschenrechtlerin Seyran Ates, die anlässlich der Gründung ihrer liberalen Moschee in Berlin fast täglich Morddrohungen erhält, von den Beleidigungen ganz zu schweigen. Es dringt nur das äußerliche, oberflächliche Bild einer solchen strenggläubigen und traditionellen Familie in die Öffentlichkeit, die eigentlichen Probleme und Schwierigkeiten liegen auf einer viel tieferen Ebene. Zunächst ist hervorzuheben, dass nicht nur die Frauen in den Zwängen ihrer Gesellschaft gefangen sind, sondern auch die Männer. Dies fällt bei ihnen nicht so sehr auf, da die Männer die Familie nach außen vertreten und somit mehr Freiheiten genießen als die Frauen. Doch...


Rukiye Cankiran, geb. 1971 in Hamburg, studierte Angewandte Kulturwissenschaften in Lüneburg und arbeitete 1997 bis 2004 als Dolmetscherin, Übersetzerin, Kinoredakteurin und freie Journalistin. 2004 bis 2014 war sie hauptberuflich in EU-Projekten mit Themenschwerpunkten Integration und Diversity tätig. Bei Terre des Femmes engagiert sie sich für die Rechte der Frau.


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