Christopher | Isla Schwanenmädchen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Christopher Isla Schwanenmädchen

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-646-92099-4
Verlag: Carlsen
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Jedes Jahr warten wir auf sie. Sie kommen, wenn es kalt wird. Papa sagt, sie kündigen Wundervolles an. Wir stehen ganz früh auf und beobachten, wie sie über dem See kreisen, im Wasser landen und dann weiterziehen. Sie sind so schön und stolz - und auch ein bisschen unheimlich. Aber in diesem Jahr ist gar nichts wundervoll. Papa muss ins Krankenhaus, weil er was Schlimmes am Herzen hat. Und ein einzelner Schwan bleibt einfach auf dem See zurück, ganz allein. Irgendwas stimmt nicht mit ihm, so wie bei Papa. Wenn ich es schaffe, dass der Schwan wieder fliegt und seine Familie findet, vielleicht wird Papa dann ja wieder gesund ...
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Kapitel 2 Papa fährt an den Masten und Werkshallen der Stahlfabrik und am Eingang zum neuen E-Werk vorbei. Er biegt links ab zum Parkplatz beim Schutzgebiet, fährt durch schlammige Pfützen. Wir sind die Einzigen. Sogar für die ganz harten Vogelgucker ist es noch zu kalt und zu früh. Es ist noch nicht mal jemand da gewesen, um das Dixi-Klo aufzusperren. Wenn ich alleine hier wäre, würde ich es total unheimlich finden. Ich steige aus dem Auto und lausche. Aber da ist überhaupt nichts zu hören … nicht mal das Grummeln von der Stahlfabrik oder das Rauschen des Verkehrs auf der Autobahn weiter weg. Der Himmel ist schwer und grau wie eine Decke. Es könnte gut sein, dass es bald schneit. Papa holt die Ferngläser aus dem Kofferraum und wir laufen los. Es ist nicht weit bis zu den Seen. Der Forstweg führt am Bach entlang und eine kleine Anhöhe hoch, wo uns der Wind voll ins Gesicht schlägt, und von dort durchs Schilf. Papa geht schnell, er achtet nicht groß darauf, ob ich hinterherkomme. Ich bin außer Atem und der Hals tut mir weh von der kalten Luft. Papa bleibt stehen und hebt eine zerknitterte Chipstüte auf, die am Wegrand liegt. Sein Atem steht weiß in der Luft, als er sich herunterbeugt. Wir horchen. Ich kann das übliche Rufen und Zischen nicht hören. Es ist still, zu still. Vielleicht sind sie ja doch im Norden geblieben. Papa wäre furchtbar enttäuscht. Er schaut hoch in den Himmel, sucht ihn ab. Aber da ist nichts. »Bist du sicher, dass es heute ist?« Papa nickt abwesend. »Muss so sein.« Inzwischen ist es Papa, der weiß, wann sie kommen. Wirklich immer. Es klingt verrückt, aber wenn es irgendwas gibt, womit er immer Recht hat, dann das. Manchmal denke ich, das ist das Einzige, was er von Opa geerbt hat … das Einzige, woran man sieht, dass die beiden verwandt sind. Wir biegen um die letzte Kurve vor dem größten See, den sie am liebsten mögen. Legen die letzten Meter zurück. Aber da sind keine Vögel, überhaupt gar keine. Nicht mal Stockenten oder Blässhühner. Der See liegt vollkommen still da, die Wasseroberfläche kräuselt sich nicht. In diesem Moment kommt es mir vor, als wären alle Vögel von der Welt verschwunden. »Das kapier ich nicht«, murmelt Papa. Stirnrunzelnd schüttelt er den Kopf. Er dreht sich nach allen Seiten um und betrachtet prüfend den Himmel. Ich gucke auch nach oben. »Vielleicht sind wir zu früh dran?«, schlage ich vor. Papa läuft los, weg vom See. Ich denke über die wilden Singschwäne nach, darüber, wie schlau sie sein müssen, um auf dem Weg von Island hierher Hunderte oder sogar Tausende von Kilometern zurückzulegen. Vielleicht sind sie in diesem Jahr einfach zu müde und haben das letzte Stück nicht mehr geschafft. Vielleicht haben sie diesen Winterplatz aufgegeben, genau wie sie Opas See irgendwann aufgegeben haben. Vielleicht müssen wir stattdessen einfach die Höckerschwäne anschauen. Ich muss fast lachen, als ich mir vorstelle, Papa könnte sich für Höckerschwäne begeistern. Wir wissen beide, dass ihnen die Stimme und die geheimnisvolle Ausstrahlung der Singschwäne fehlt. Sie haben keinen Zauber. Papa läuft den Hauptweg Richtung Fluss entlang. Er will eine bessere Aussicht suchen. Er drückt sich das Fernglas dicht an die Augen und späht damit herum. Dann wird sein Körper ganz ruhig, er hat was entdeckt. Er nimmt das Fernglas runter, blickt hoch zum Himmel, schaut dann wieder durch. »Was ist?«, frage ich. »O nein.« Er lässt das Fernglas los, es baumelt an seiner Brust. Auf einmal rennt er los. Sein Gesichtsausdruck schockiert mich so sehr, dass ich ein paar Sekunden lang ganz starr bin und nur zusehe, wie er den Weg entlangläuft, weg von mir. Das ist nicht die Richtung, aus der die Schwäne sonst kommen. Aber er hat irgendwas gesehen. »Was?«, schreie ich wieder. Aber er ist schon zu weit entfernt für eine Antwort. Ich renne hinter ihm her. Unterwegs schiele ich zum Himmel hoch und versuche herauszukriegen, was Papa da gesehen hat. Ich habe keine Zeit, um stehen zu bleiben und durch mein eigenes Fernglas zu gucken. Er rennt jetzt rüber zum andern Ende des Geländes, dorthin, wo das E-Werk steht. Mit hektischen Blicken suche ich es ab, mustere den Betonbau mit den langen Abfallrinnen ganz genau. Sehe die hoch aufragenden Elektrizitätsmasten, die erst vor ein paar Monaten hier errichtet worden sind. Auf einmal begreife ich, was Papa gesehen haben muss, was er sich offenbar vorstellt. Mein Magen krampft sich zu einem Klumpen zusammen. Und ich renne schneller, rase ihm hinterher. Ich bin fast bei Papa angekommen, als ich die Schwäne entdecke. Es sind etwa zwanzig, weniger als sonst, aber sie sind groß und ganz eindeutig Singschwäne. Sie bilden ein riesiges V quer über den Himmel und bewegen ihre Flügel alle im gleichen Rhythmus. Wie es aussieht, wollen sie zu dem großen See, sie stoßen beim Fliegen tiefe, posaunenartige Rufe aus. Ich bleibe stehen und schaue ihnen zu. Ich habe das schon oft gesehen, aber es packt mich immer wieder. Das Morgenlicht auf ihren Federn. Das leise Schlagen ihrer Flügel. Dass sie so riesig und plump sind und trotzdem so anmutig aussehen … so unerwartet elegant. In diesem Moment verstehe ich jedes Mal, warum Papa sie liebt. Doch da fängt er an zu schreien und mit den Armen zu wedeln und holt mich mit einem Ruck zurück in den eiskalten Morgen. »Wir müssen sie stoppen«, brüllt er. Ich schäle mich aus meiner Jacke und wedele sie über meinem Kopf herum. Ich springe auf und ab. Aber es nützt nichts. Sie haben nur den See im Sinn. Sie nehmen uns gar nicht wahr. »Die knallen da rein«, sagt Papa. Und mir wird schlecht, richtig schlecht, denn ich weiß, er hat Recht. In dem schwachen Licht können die Schwäne die Drähte zwischen den neuen Strommasten nicht sehen; sie merken nichts von dem elektrischen Zischen direkt vor ihnen. Anders als von der Stadtverwaltung versprochen sind keine roten Markierungskugeln an den Drähten angebracht worden, nichts zeigt den Vögeln, dass dort etwas ist. Ich schreie ihnen zu. »Weg hier! Haut ab!« Aber sie sehen uns nicht. Und selbst wenn sie es täten, könnten wir sie nicht aufhalten. »Isla, nein«, flüstert Papa. »Schau nicht hin.« Aber ich muss. Mein Mund wird trocken. Ich lasse die Arme sinken. Der Schwan ganz vorne sieht so entschlossen aus, sein Kopf wippt mit jedem Flügelschlag auf und ab. Er weiß ganz genau, wo er hinwill, ist voller Hoffnung, so kommt es mir vor. Die andern im Schwarm vertrauen ihm. Papa stößt einen kleinen, erstickten Ton aus, als die Schwäne kurz zögern. Sie werden langsamer, ändern die Richtung ein wenig und für einen kurzen Augenblick glaube ich, sie haben die Drähte gesehen. Ich stoße eine Art atemloses Lachen aus, während sie wild mit den Flügeln schlagen, um höher zu steigen. Vielleicht schaffen sie’s doch noch. Aber es ist zu spät. Das Knistern, mit dem der erste Vogel in den Draht kracht, höre ich bis hierher. Er taumelt zur Erde, sein Kopf verdreht vor lauter Überraschung. Seine Flügel sind schlaff, Federn wirbeln nach unten. In mir ist ein Schmerz, ich spüre ein Stechen hinter meinen Rippen. Ich keuche. Papa schlingt die Arme um mich und zieht mich zu sich. Sein Körper ist total angespannt und ich spüre, wie er zittert. Ich vergrabe meinen Kopf in seiner Jacke, die nach Lagerfeuer riecht, aber trotzdem höre ich den Knall und das Knistern, als noch ein Vogel in die Leitung kracht. Und dann noch einer. Ich halte die Luft an. Der Schmerz in mir drin wird schlimmer. Dann höre ich ein lautes, heiseres Kreischen, mit dem sich die Vögel gegenseitig warnen. Auch andere Vögel stimmen ein. Ein unaufhörliches Tosen von Panik und Flügelschlägen. »Ich hätte wissen müssen, dass das passiert«, murmelt Papa. Ich höre, wie seine Stimme zittert. »Diese Idioten stellen ihre Masten hier auf ohne Markierung …« Er zieht mich dichter zu sich, so dicht, dass ich mir für einen Augenblick einbilde sein Herz schlagen zu hören. Ich konzentriere mich mit aller Kraft darauf und lausche. Das Kreischen der Vögel um uns herum will ich nicht hören. Dudumm-dudumm. Papas eigener Flügelschlag. Eine Windböe peitscht mir um die Ohren und fährt unter den Kragen, wirbelt mir die Haare übers Gesicht. Papa hebt meine Jacke auf, die ich auf den Weg geschmissen habe, und legt sie mir um die Schultern. »Zieh sie an«, sagt er. »Ist kalt.« Ich schaue auf und sehe, dass seine Augen feucht sind. »Ist es jetzt vorbei?« Er nickt. Ich mache einen Schritt zurück, damit ich besser sehen kann. Vögel sind keine mehr da, nur noch die Federn an den Drähten. »Sind sie … wie viele hat’s erwischt?« Papa hält mir meine Jacke hin und wartet darauf, dass ich die Arme reinstecke. »Die Tiere weiter hinten hatten genug Zeit, um auszuweichen, ist also nicht ganz so schlimm.« Ich drehe mich um und schaue zurück. »Sind sie auf dem großen See?« Papa schüttelt den Kopf und blickt zum Himmel. »Die sind noch da oben. Und sie werden wohl kaum hier überwintern, nachdem ihnen das passiert ist.« Ich halte mir die Hand über die Augen. Ganz weit oben sehe ich eine Reihe von dunklen Punkten, die sich schnell Richtung Stadt bewegen – die Schwäne, die am Fluss entlangziehen. Papa beobachtet einen einzelnen Schwan, der hier in der Nähe herumfliegt, langsam immer wieder über das Schutzgebiet kreist. Es ist ein junger Schwan, noch ein bisschen grau und ziemlich klein … muss wohl ein Weibchen sein. Das Schwanenmädchen ist ganz allein. Übrig geblieben. An der Art, wie sie sich immer wieder dem Boden nähert und dann nach oben abdreht, merke ich, dass sie...


Christopher, Lucy
Lucy Christopher wurde 1981 in Wales geboren und wuchs in Australien auf. Bis zum Hauptstudium lebte sie in Melbourne. Nachdem sie sich als Schauspielerin, Kellnerin und Wanderführerin versucht hatte, zog sie nach England und machte ihren Magister in Kreativem Schreiben. Heute unterrichtet sie an der Bath Spa University. Ihr Debüt Stolen wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Weitere Informationen unter: www.lucychristopher.com

Lucy Christopher wurde 1981 in Wales geboren und wuchs in Australien auf. Bis zum Hauptstudium lebte sie in Melbourne. Nachdem sie sich als Schauspielerin, Kellnerin und Wanderführerin versucht hatte, zog sie nach England und machte ihren Magister in Kreativem Schreiben. Heute unterrichtet sie an der Bath Spa University. Ihr Debüt Stolen wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Weitere Informationen unter: www.lucychristopher.com


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