Daase / Engert / Kolliarakis | Politik und Unsicherheit | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 329 Seiten

Daase / Engert / Kolliarakis Politik und Unsicherheit

Strategien in einer sich wandelnden Sicherheitskultur

E-Book, Deutsch, 329 Seiten

ISBN: 978-3-593-42245-9
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Unsicherheit ist zu einem zentralen Thema der Politik geworden: Sowohl das Ausmaß der neuen Bedrohungen als auch die Effektivität von Gegenmaßnahmen sind ungewiss. Der damit verbundene Wandel der Sicherheitskultur fordert die staatliche Politikfähigkeit heraus.
Der Band thematisiert Optionen und Strategien im Umgang mit vier Dilemmata: objektive und subjektive Gefahrenabschätzung; Verantwortung und Haftung bei komplexen Sicherheitsgefährdungen; Kommunikation zwischen Verharmlosung und Dramatisierung von Risiken sowie intendierte und nicht intendierte Konsequenzen der Sicherheitsforschung. Die Autoren sind Wissenschaftler, politische Entscheidungsträger und Praktiker der Sicherheitspolitik.
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Inhalt
Einleitung: Politik und Unsicherheit
Christopher Daase/Stefan Engert/Georgios Kolliarakis9
Unsicherheit und Politik: Eine Hinführung
Christopher Daase19
I. Politische Entscheidungen zwischen objektiver und subjektiver Sicherheit
Der Leviathan im Dilemma: Politische Entscheidungen zwischen objektiver und subjektiver Sicherheit
Stefan Engert33
Sicherheitsforschung als Brückenschlag: Sicherheitspolitik und der vermeintliche Widerspruch zwischen objektiver und subjektiver Sicherheit
Tim H. Stuchtey/Constance P. Baban49
Objektiver denken! Politische Institutionen im Vermittlungsdilemma zwischen objektiver und subjektiver Sicherheit
Rolf-Dieter Wilken65
Die Überwindung des Subjektivitäts-Objektivitäts-Dilemmas: Die strategische Kommunikation wissenschaftlicher Unsicherheit
Gaby-Fleur Böl81
Moderne Sicherheitspolitik im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft
Armin Schuster93
II. Verteilung von Verantwortung und Haftung bei komplexen Sicherheitsgefährdungen
Diffusion von Verantwortung und Haftung in komplexen Handlungszusammenhängen
Valentin Rauer105
"No soul to damn, no body to kick": Fragen nach Verantwortung im Kontext der Herstellung von Sicherheit
Regina Ammicht Quinn119
Massenpanik als systemisches Versagen: Eine Analyse der Loveparade-Katastrophe
Dirk Helbing/Pratik Mukerji135
Verantwortung und Haftung neu denken? Überlegungen aus dem Projekt ›Sicherheit bei Großveranstaltungen‹ im Anschluss an die Loveparade-Katastrophe in Duisburg
Bettina Gayk151
Sicherheitsverfassungsrecht im Wandel
Ralf Poscher165
III. Öffentliche Sicherheitskommunikation zwischen Alarmismus und Verharmlosung
Sicherheitskommunikation zwischen Alarmismus und Verharmlosung
Julian Junk/Philipp Offermann191
›Terrorwarnungen‹: ein Instrument der Sicherheitsgewährleistung
Jürgen Maurer/Sonja Kock197
Der Liveticker zur Jahrhundertflut: Über die Rolle der Medien in der Sicherheitskommunikation
Steffen Hebestreit205
Was ist sicher? Über die Kommunikation von tatsächlichen oder vermuteten Infektionsrisiken
Susanne Glasmacher217
Regierungskommunikation und digitale Medien
Gabriele Hermani239
Digital Citizens und Schweigende Mehrheit: Kommunikative Voraussetzungen für eine veränderte Sicherheitskultur
Gerhard Vowe243
IV. Intendierte und nicht-intendierte Folgen der Sicherheitsforschung
Sicherheitsforschung und ihre Schnittstelle zur Sicherheitspolitik: Intendierte und nicht-intendierte Folgen der Wissenschaftsförderung
Georgios Kolliarakis265
Aktuelle Weichenstellungen in der zivilen Sicherheitsforschung
Gabriele Roth281
Sicherheitsforschung und ihre Förderung durch die Bundesregierung
Petra Sitte289
Sicherheitsforschung: Beiträge zu einer Bilanz
Wolf R. Dombrowsky295
Zum Stellenwert der Technikfolgenabschätzung für eine sozial-integrative Sicherheitsforschung
Ortwin Renn303
Autorinnen und Autoren325


Unsicherheit und Politik: Eine Hinführung
Christopher Daase
Sicherheit, so die naheliegende Definition von Arnold Wolfers, ist die Abwesenheit von Unsicherheit (Wolfers 1962: 148). Was aber Unsicherheit ist, wandelt sich über Zeit. Das Forschungsprojekt ›Sicherheitskultur im Wandel‹ hat, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert, diesen Wandel untersucht und sich dabei auf drei Fragen konzentriert: Was sind die Ursachen dieses Wandels, was sind seine Folgen, und wie kann darauf politisch reagiert werden?
Am besten lässt sich der Wandel der Sicherheitskultur anhand der Ausweitung des Sicherheitsbegriffs beschreiben. Dabei zeigt sich, dass seit den 1950er Jahren eine graduelle Erweiterung in vier Dimensionen stattgefunden hat: der Referenzdimension, die darüber entscheidet, wessen Sicherheit gewährleistet werden soll; der Sachdimension, die bestimmt, in welchem Problembereich Sicherheitsgefährdungen wahrgenommen werden; der Raumdimension, die das geographische Gebiet der Sicherheitsgewährleistung beschreibt; und der Gefahrendimension, die festlegt, wie Unsicherheit konzeptualisiert wird, auf die Sicherheitspolitik antworten soll (Daase 2010; Daase 2011). Deutlich wird in der ersten Dimension eine zunehmende Individualisierung des Sicherheitsbegriffs, insofern der einzelne Mensch in den Mittelpunkt rückt. Ähnlich wird in der zweiten Dimension eine Humanisierung des Sicherheitsbegriffs deutlich, insofern nicht mehr abstrakte Dinge wie militärische oder wirtschaftliche Sicherheit im Zentrum stehen, sondern die unmittelbaren Grundbedürfnisse des Menschen. Gleichzeitig lässt sich in der dritten Dimension eine Globalisierung des Sicherheitsverständnisses nachweisen, insofern sich Sicherheit nicht länger auf einen klar begrenzten nationalen Raum bezieht, sondern als unteilbar und global betrachtet wird. Schließlich ist in der vierten Dimension eine Potentialisierung des Sicherheitsdiskurses zu beobachten, womit Gefahren in den Blick geraten, die noch gar keine sind, aber in der Zukunft eine werden könnten (Bröckling 2012).
Allerdings genügt es nicht, nur textualistisch, das heißt anhand von Sprache und Diskursen den Wandel der Sicherheitskultur zu beschreiben. Wenn man Sicherheitskultur umfassender versteht, nämlich als "die Summe der Überzeugungen, Werte und Praktiken von Individuen und Organisationen, die darüber entscheiden, was als eine Gefahr anzusehen ist und mit welchen Mitteln ihr begegnet werden soll" (Daase 2010: 9), dann muss auch das soziale und politische Handeln von individuellen und kollektiven Akteuren und nicht zuletzt das Verhältnis von Mensch und Artefakten in den Blick genommen werden. In einer Reihe von Studien ist dieser praxistheoretische Ansatz zur Erforschung der Sicherheitskultur umgesetzt worden (vgl. Daase et al. 2012). So konnte etwa gezeigt werden, wie die diskursiven Verschiebungen in der Sicherheitspolitik neue Praktiken militärischer Intervention eröffnen, um humanitäre Hilfe zu leisten, aber auch, wie diese Verschiebungen Regierungen in Erklärungsnot bringen, die sich nicht an militärischen Aktionen beteiligen wollen (Junk 2012; Seibel 2013). Und mit Hilfe der Akteur-Netzwerk-Theorie konnte gezeigt werden, dass sich in der Sicherheitsgewährleistung immer stärker politisches Handeln und technische Artefakte (wie Beobachtungskameras und Computersysteme) vernetzen und Sicherheitskultur nicht nur als intersubjektives sondern auch ›interobjektives‹ Phänomen betrachtet werden muss (Rauer 2012).
Mit einem praxistheoretischen Zugang ist die methodische Basis gelegt, sicherheitskulturellen Wandel umfassender zu verstehen denn als das Ergebnis intentionaler ›Versicherheitlichung‹ durch interessierte Akteure. Vertreterinnen und Vertreter der so genannten Kopenhagener Schule haben die Ausdehnung des sicherheitspolitischen Vokabulars auf neue Phänomene als Versuch erklärt, durch die Bezeichnung eines Problems als ›sicherheitsrelevant‹ es dem normalen politischen Diskurs zu entheben, eine besondere Dringlichkeit zu behaupten und Zustimmung zu außerordentlichen politischen Maßnahmen zu gewinnen (Wæver 1995; Wæver/Buzan 2007; McDonald 2008). Keine Frage: es gibt Versicherheitlichung als politische Strategie, wenn etwa Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Konzept ›ökologischer Sicherheit‹ festhalten, obwohl ihnen bewusst ist, dass es von geringem analytischen Nutzen ist, doch sie davon überzeugt sind, dass die Verbindung mit dem Sicherheitsbegriff der Umweltproblematik die notwendige Aufmerksamkeit verschafft; oder wenn mit Verweis auf die nationale Sicherheit weitreichende Überwachungsmaßnahmen im Internet gerechtfertigt werden. Aber diese einzelnen securitization moves können nicht den Megatrend der Versicherheitlichung und nicht den sicherheitskulturellen Wandel erklären. Denn es ist noch nicht einmal klar, unter welchen Bedingungen einzelne moves erfolgreich sind, geschweige denn, warum in den letzten Jahren so viele securitization moves auf Zustimmung stoßen.
Offensichtlich muss der Prozess der Versicherheitlichung im Kontext des sicherheitskulturellen Wandels und dieser in einem größeren gesellschaftlichen Kontext erklärt werden. Unsere Untersuchungen deuten darauf hin, dass unterschiedliche Subsysteme der Gesellschaft dazu beitragen, dass immer mehr Politikbereiche in den Bannkreis des Sicherheitsbegriffs geraten, weil die zunehmende Gewährleistung von Sicherheit durch den Staat die Wahrnehmung von Unsicherheit erhöht. Diesen Zusammenhang haben wir als Sicherheitsparadox bezeichnet. Die These ist, dass Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Medien in gleichsam pathologischer Verstärkung das erzeugen, was Emil Angehrn als "Zirkel des sich selbst steigernden und [gleichzeitig] unterminierenden Sicherheitsstrebens" bezeichnet hat (Angehrn 1993: 240-241).
Das Sicherheitsparadox ist das zentrale Rätsel der Sicherheitskultur. Denn der Befund ist immer wieder irritierend: Die Menschen leben in größerer Sicherheit und fühlen sich doch unsicherer. Das Auseinanderfallen objektiver Gefährdung und subjektiver Sicherheit ist vielfach beschrieben worden. Es lässt sich im Bereich der Kriminalität ebenso nachweisen (Hummelsheim et al. 2012), wie beim Umgang der Menschen mit Medikamenten (Porzsolt et al. 2012) oder ihren Sorgen um die soziale Sicherheit (Mau 1998). Wer relative Sicherheit besitzt, so scheint es, möchte absolute Sicherheit erreichen und ist durch deren Unerreichbarkeit zunehmend verunsichert.
Dieser Mechanismus scheint nicht nur bei Individuen aufzutreten, sondern auch kollektive Akteure, ja sogar Staaten und internationale Organisationen zu befallen. Der relative Zuwachs an nationaler Sicherheit nach dem Ende des Kalten Krieges hat in den USA keineswegs zu einem neuen Sicherheitsgefühl geführt, sondern zu einer Verunsicherung und zu weiter steigenden Rüstungsanstrengungen (Litwak 2000; Cameron 2002). Und die NATO stellte schon 1991 fest, dass durch den Zerfall des Ostblocks zwar die akute Bedrohung weggefallen sei, die internationalen Risiken und Herausforderungen aber zugenommen hätten (vgl. Daase 2002). Aber auch das umgekehrte Phänomen ist bekannt: dass die Erhöhung des Sicherheitsgefühls zu einer verringerten objektiven Sicherheit führt. In der Versicherungswirtschaft weiß man, dass Sicherheitstechnologien im Auto zu riskanterem Fahren verleiten und so die Unfallwahrscheinlichkeit erhöhen können; und jüngere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Einführung von Gummibelägen auf Kinderspielplätzen zwar zu weniger Knochenbrüchen, aber zu mehr schweren Kopfverletzungen geführt hat, weil Kinder offenbar das Verletzungsrisiko schwerer einschätzen können. Auch dieser Effekt lässt sich bei kollektiven Akteuren beobachten, etwa bei Staaten, die aufgrund ihrer militärischen Stärke Situationen falsch einschätzen und sich zu riskanten Militärinterventionen hinreißen lassen (Vertzberger 1998) oder bei Bündnissen, die meinen, ihre Stabilität exportieren zu können und damit nicht nur scheitern, sondern sich selbst in Gefahr bringen.
Es gibt eine Reihe von Theorien, die das Auseinanderfallen von subjektiver (oder gefühlter) und objektiver (also berechneter) Sicherheit erklären. Die meisten gehen von individuellen oder kollektiven Wahrnehmungsverzerrungen aus, die verhindern, dass Akteure eine Situation ›richtig‹ einschätzen. Die Gründe für diese Wahrnehmungsverzerrungen werden traditioneller Weise in psychologischen Mechanismen (Slovic 1992), in Gruppendynamiken (Janis 1982) oder in kulturellen Prädispositionen (Douglas/Wildavski 1982) gesehen. Aber vielleicht greift die Unterscheidung von objektiver und subjektiver Sicherheit auch zu kurz, insbesondere dann, wenn die objektive Sicherheit die höheren Weihen exakter Wissenschaftlichkeit und politischer Rationalität der Expertinnen und Experten erhält und die subjektive Sicherheit mit einer zur Angst neigenden Öffentlichkeit oder gar der Irrationalität von Laien gleichgesetzt wird. Denn die subjektive Sicherheit der Laien ist nicht so irrational wie man meint und die objektive Sicherheit der Expertinnen und Experten nicht so rational, wie sie sich gibt. Man erhält ein genaueres Bild der Sicherheitskultur, wenn man begreift, dass Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und Medien nach je eigenen ›Rationalitäten‹ funktionieren und unterschiedliche Vorstellungen und Praktiken entwickelt haben, um in ihrem jeweiligen sozialen Subsystem mit den Problemen von Sicherheit und Unsicherheit umzugehen. Wenn das Auseinanderfallen von objektiver und subjektiver Sicherheit aber nicht nur eine Wahrnehmungsverzerrung ist, wie kommt sie dann zustande?
Verständlicher wird das Sicherheitsparadox, wenn man sich klar macht, dass es zwei Arten von Unsicherheit gibt, nämlich die Unsicherheit, die als Gefahr für Leib und Leben, Wohlstand und Freiheit auftritt und die Unsicherheit, mit der diese Gefahr erfasst und abgeschätzt werden kann. Man könnte von ontologischer und epistemologischer Unsicherheit sprechen, oder einfach von Unsicherheit und Ungewissheit (insecurity und uncertainty) (Daase/Kessler 2007). Mit dieser - wohlbekannten - Unterscheidung lässt sich jedenfalls leichter erklären, wie es sein kann, dass eine Maßnahme, welche die Sicherheit faktisch erhöht, indem sie eine Gefahr verringert, gleichzeitig die Unsicherheit erhöht, weil sie die Ungewissheit verstärkt. Man denke etwa an die pränatale Medizin, welche die Sicherheit einer Schwangerschaft erhöht, aber die Ungewissheit der werdenden Eltern verstärkt, weil ihnen nun viele mögliche Risiken bekannt sind. Ihre Sorgen sind keineswegs irrational, denn sie basieren auf Wissen, das automatisch Nichtwissen impliziert und im Nettoergebnis das Unsicherheitsgefühl verstärkt. Wissen produziert immer auch Nichtwissen (Wehling 2006), und das ist der Grund, warum die Wissensgesellschaft auch eine zutiefst verunsicherte Gesellschaft ist.
Dieser Prozess tritt in den unterschiedlichen Subsystemen der Gesellschaft unterschiedlich zutage und es ist die Verzahnung der jeweiligen Sicherheitsbedürfnisse und -praktiken, die den Wandel der Sicherheitskultur vorantreibt. Bis heute, so könnte man behaupten, ist es der Gesellschaft nicht gelungen, sich auf das komplexer werdende Gefüge von Sicherheit und Unsicherheit einzustellen. Nach wie vor suggerieren die politischen Entscheidungsträger, sie hätten die Lage im Griff und könnten die Sicherheit liefern, nach der eine zunehmend verunsicherte Bevölkerung verlangt. Nach wie vor ist aber auch die Bevölkerung nur zu bereit, die Verantwortung für Sicherheit dem Staat zu überlassen und ihn mit immer weiter gehenden Forderungen zu überfrachten. Nach wie vor bieten die Medien mehr Sensation als Aufklärung bei der Berichterstattung über Gefahren und Krisen. Und nach wie vor verbreiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Vorstellung, dass im Prinzip die technischen und politischen Risiken dieser Welt berechenbar und in den Griff zu bekommen sind. Das stimmt - aber nur zum Teil. Das Kalkulieren von Risiken ist ein wichtiges Instrument der Sicherheitspolitik, aber es bietet keine Vorhersagen über das Eintreten von Katastrophen oder die Entstehung von Krisen; und es bietet vor allem keinen Ersatz für politische Entscheidungen darüber, welches Risiko mit welchen Mitteln und zu welchem Preis reduziert werden soll. Es sind diese Fragen, denen sich eine demokratische Sicherheitspolitik in einer offenen Debatte stellen muss, um langfristig gesellschaftlich akzeptable Entscheidungen treffen zu können.
Weil es diese Debatte bislang nicht gibt, verbinden sich die sicherheitskulturellen Praktiken der Subsysteme auf durchaus unheilvolle Weise, so dass sie sich nicht gegenseitig kontrollieren und beschränken, sondern fördern und verstärken. Die allgemeine Versicherheitlichung, die in der Innen- und Sozialpolitik ebenso wie in der Außenpolitik und den internationalen Beziehungen festzustellen ist, ist deswegen nicht nur auf die Partikularinteressen und Sprechakte von einzelnen Interessensgruppen zurückzuführen, sondern muss als sicherheitskultureller Trend sozio-strukturell erklärt werden.
Entscheidend sind dabei die Praktiken, mit Ungewissheit umzugehen, sie berechenbar und handhabbar zu machen. Diesem Ziel dient vor allem der Risikobegriff. Risiken sind mögliche Schäden (oder genauer: die Wahrscheinlichkeit eines durch gegenwärtiges Handeln beeinflussbaren zukünftigen Schadens) und man berechnet sie traditionellerweise als das Produkt aus Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit. Darin besteht der Clou von Risiken: dass sie sich berechnen lassen und damit als Grundlage für rationale Entscheidungen dienen können, welche Risiken auf welche Weise und zu welchen Kosten reduziert werden sollen (Coiffi-Revilla 1998). Dabei basiert die Berechnung von Risiken einerseits auf der ›exakten Wissenschaft‹ mathematischer Wahrscheinlichkeitsrechnung, andererseits auf politischen und normativen Vorannahmen, die nicht absolut gegeben sind, sondern auf Setzungen und Einschätzungen beruhen.
Der politische Umgang mit Risiken birgt aber Tücken. Die Betonung eines möglichen Schadens als inakzeptabel kann Politikerinnen und Politiker in problematische Entscheidungszwänge bringen. Die Behauptung von Bundeskanzlerin Merkel etwa, dass ein nuklear bewaffneter Iran ein ›inakzeptables Risiko‹ darstelle, suggeriert die Notwendigkeit, alles zu tun, und das heißt notfalls sich auch an Militäreinsätzen zu beteiligen, um ein derartiges Szenario nicht Wirklichkeit werden zu lassen. Ob die Bundesrepublik bereit wäre, sich an militärischen Zwangsmaßnahmen gegen den Iran zu beteiligen, sei einmal dahin gestellt. Unabweisbar ist jedoch die Tatsache, dass der amerikanische Angriff gegen den Irak 2003 mit der Möglichkeit begründet wurde, der Irak könnte Nuklearwaffen entwickeln und diese möglicherweise an Terroristinnen und Terroristen weitergeben. Die Einschätzung des damaligen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, "the risk of not acting may be vastly greater than the risk of acting" mag sich im Nachhinein als unzutreffend herausgestellt haben. Sie setzte aber die US-Administration so sehr unter Handlungsdruck, dass ein militärischer Angriff geradezu zwangsläufig war - auch ohne zwingende Hinweise auf die Wahrscheinlichkeit der Existenz irakischer Massenvernichtungswaffen.
Auch die vielfach als überstürzt kritisierte Energiewende in Deutschland kann als Effekt einer ›Possibilisierung‹ der Risikoabschätzung der Nukleartechnologie erklärt werden. Die Nuklearkatastrophe von Fukushima hatte die Öffentlichkeit alarmiert und die Möglichkeit eines unakzeptablen Atomunfalls ins Bewusstsein zurückgeholt. Selbst langjährige Befürworter der Atomkraft wie Horst Seehofer bekannten auf einmal, sie würden zunehmend dazu neigen, "weniger von Wahrscheinlichkeit auszugehen als von Möglichkeiten". Damit war die traditionelle Risikokalkulation zugunsten der Nukleartechnologie hinfällig und ein Ausstieg eher früher als später vorprogrammiert.
Streng genommen spielt die Eintrittswahrscheinlichkeit politisch nur dann eine Rolle, wenn der Schaden nicht als inakzeptabel, existentiell oder katastrophal angesehen wird. Auch im Hinblick auf die Eintrittswahrscheinlichkeit gilt nämlich, dass sie im Prinzip auf der Grundlage von Erfahrungen und Extrapolationen berechnet werden kann. Allerdings gibt es (zum Glück) nur wenige Fälle, die für die Berechnung von so genannten high impact/low probability-Ereignissen (also den berühmten ›schwarzen Schwänen‹) wie Nuklearterrorismus oder atomaren GAUs herangezogen werden können. Deshalb muss man sich mit Annahmen, Schätzungen und Vermutungen etwa über die Motivation von Terroristinnen und Terroristen und die Verfügbarkeit von Nuklearmaterial auf dem Weltmarkt oder über das Auftreten von Störfällen in der Vergangenheit behelfen, um zu einer Einschätzung über die Zukunft zu kommen. Hat man diese Annahmen einmal getroffen und die Parameter festgelegt, dann ist das Risiko, etwa das Risiko des Nuklearterrorismus, prinzipiell kalkulierbar. Dabei muss aber immer bedacht werden, dass es bei dieser Berechnung viele Unbekannte gibt, die mit Platzhaltern gefüllt werden, die sich als falsch oder ungenau herausstellen können. Streben Terroristinnen und Terroristen tatsächlich nach Nuklearwaffen? Wollen sie diese, wenn sie welche hätten, auch tatsächlich einsetzen? Ist es wirklich so einfach, an spaltbares Material zu kommen? All diese Fragen sind schwer zu beantworten und nicht nur eine Frage wissenschaftlicher Analyse, sondern auch politischer Einschätzung. Damit sind sie ebenso wenig zwingend, wie die Tatsache, dass Erdbeben sich an die Richterskala halten und unter einem Wert von 8,3 bleiben. Das war die Annahme der Ingenieure, die die Atomanlage in Fukushima bauten, und die sich im März 2011 als falsch herausstellte.


Christopher Daase ist Professor für Internationale Organisation im Exzellenzcluster »Normative Ordnungen« der Universität Frankfurt am Main. Dr. Stefan Engert und Dr. Georgios Kolliarakis sind dort wissenschaftliche Mitarbeiter.


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