Demand / Knörer | MERKUR 4/2024, Jg.78 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 104 Seiten

Reihe: MERKUR

Demand / Knörer MERKUR 4/2024, Jg.78

Nr. 899, Heft 04, April 2024

E-Book, Deutsch, 104 Seiten

Reihe: MERKUR

ISBN: 978-3-608-12304-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ist es ein schwerwiegendes Problem, dass der Bundestag "das ganze Volk", das er vertreten soll, in mancher Hinsicht nur sehr verzerrt repräsentiert? Armin Schäfer sucht Antworten auf diese Frage und schildert Versuche, das Problem zu beheben. Gerne werden eine restaurative Architektur und modernistisches Bauen als polare Gegensätze gesehen. Owen Hatherley stellt allerdings fest, dass sie sich im Mangel an Ortsbezug durchaus ähneln. Die deutsche Israelsolidarität lässt sich, wie Hubert Leber zeigt, auch als Geschichte der Waffenhilfe erzählen. Über die eigene Autofiktion, aber auch die von Kolleginnen und Kollegen, denkt der Schriftsteller Paul Brodowsky nach. 
 
Paola Lopez erklärt in ihrer ersten KI-Kolumne, auf wie vielen Ebenen Bias bei den Daten der Künstlichen Intelligenz existiert. In seiner Erwiderung auf Eva Geulens Kritik an seinem Buch Deutland wird Erhard Schüttpelz sehr grundsätzlich in Sachen Hermeneutik und Philologie. Karl Heinz Goetze berichtet von seinem Besuch auf Anselm Kiefers Künstlergelände im französischen Barjac.
 
Wie sehr in den Reaktionen auf den Israel-Palästina-Konflikt Projektionen im Spiel sind, versucht Albrecht Koschorke zu verstehen. David Wagner nimmt auf seinen Spaziergängen Robert Walser als Vorbild stets mit. Über Säulen als Denkmäler denkt Wolfgang Fach nach. Bei Susanne Neuffer geht es auf sehr engem Raum um Sex und Weltuntergang.
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Weitere Infos & Material


ESSAY

 

Armin Schäfer

Vertreter des ganzen Volkes?

Über Repräsentation und Repräsentativität

 

Owen Hatherley                           

Der neue Architekturstreit

 

Hubert Leber

Waffenhilfe und Erinnerungskultur.

Triebfedern deutscher Israel-Politik vor und nach dem 7, Oktober 2023

(Meron Mendel, Über Israel reden. Eine deutsche Debatte. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2023)

 

Paul Brodowsky

„Erbärmliche Selbstentblößung als Mittel politischer Literatur.

Über Form, Ethos und Potentiale von Autofiktion

 

 

 

KRITIK

 

Paola Lopez

KI-Kolumne.

Diversität in Daten?

 

Erhard Schüttpelz

Diesseits von Deutland.

Replik auf Eva Geulen und Thomas Steinfeld

 

Karl Heinz Götze

Bau und Trümmer.

Anselm Kiefer in Barjac

 

MARGINALIEN

 

Albrecht Koschorke

Der Gaza-Moment

 

David Wagner                                

27 Schritte durchs Spazieren

 

Wolfgang Fach     

Eine monumentale Misere?

Über den Krieg im Denkmal

 

Susanne Neuffer

Das leibliche Wohl


DOI 10.21706/mr-78-4-17 Owen Hatherley Der neue Architekturstreit
Die Blase der ultramodernen Architektur ist geplatzt. Die öffentlichen Gebäude der Welt werden heute nur noch selten von den »Starchitekten« entworfen, die die späten 1990er und 2000er Jahre dominierten – Zaha Hadid, Herzog & de Meuron, Rem Koolhaas und Frank Gehry. Die Städte füllen sich nicht mehr mit gewölbten, fließenden, verspielten Signature-Buildings, in denen es keine rechten Winkel gibt, aber dafür umso mehr Ingenieursleistung und fortschrittliche Computertechnik. Die Architektur ist von einer neuen Nüchternheit erfasst worden. Die Tradition, so sieht es aus, ist zurück. Die Abwendung von der ultramodernen Architektur vollzog sich zunächst langsam, beschleunigte sich aber mit der Finanzkrise von 2008, als die Weltwirtschaft und so manches politische System ins Wanken gerieten. In diesem Chaos erhielt die Stabilität der neoklassischen Architektur ihren Segen von ganz oben. Im Jahr 2020 unterzeichnete Präsident Donald Trump eine Verordnung zur Förderung von »klassischer« Architektur, insbesondere »schöner« traditioneller Stile wie Greek Revival, Neogotik, Georgianische Architektur und Neoklassizismus. Er folgte damit dem Beispiel der konservativen britischen Regierung, die 2018 den schon etwas älteren Philosophen Roger Scruton zum Leiter einer Kommission ernannt hatte, die dafür sorgen sollte, dass neue Wohnhäuser »schön« gebaut werden, wobei Scruton schnell klarstellte, dass damit »traditionell« gemeint war. Schon zuvor, im Jahr 2014, hatte der chinesische Präsident Xi Jinping ein Edikt erlassen, in dem er ein Ende der »seltsamen Architektur« in China forderte – wahrscheinlich eine Anspielung auf Gebäude wie das geschwungene Opernhaus in Guangzhou (entworfen von Hadid), die der Schwerkraft trotzenden, oben verbundenen Doppeltürme der CCTV-Sendezentrale in Beijing (von Koolhaas /OMA) oder das benachbarte Olympiastadion, das »Vogelnest« genannt wird (von Herzog & de Meuron und Ai Weiwei). Die traditionellen Gassen in Beijing, die Hutongs, von denen viele aufgrund der Olympischen Spiele 2008 dem Abriss zum Opfer fielen, wurden in den letzten Jahren als Touristenattraktionen sorgfältig restauriert. Und in der Europäischen Union, insbesondere in Deutschland und Polen, errichtet man im Rahmen von historischen Rekonstruktionsprojekten – an deren Stelle in einem früheren Jahrzehnt vielleicht ultramoderne, mithilfe extremer digitaler Rechenpower abenteuerlich gestaltete Kunstzentren entstanden wären – nun neue Gebäude in Retro-Optik mit Giebeln und Dachschrägen und verwinkelten Gassen. Folgt man den Verfechtern vormoderner Bautradition, braucht niemand den durchgeknallten globalen Modernismus der jüngeren Vergangenheit. Wer Lösungen für die Probleme sucht, die Architektur und Städtebau im 21. Jahrhundert umtreiben, muss einfach nur einen Schritt in der Historie zurückgehen. Nun ist die architektonische Moderne inzwischen über ein Jahrhundert alt, das Spektrum ihrer Varianten reicht von der warmen skandinavischen Architektur der 1930er Jahre über die rauen und taktilen brutalistischen Monumente der 1960er in Großbritannien, Brasilien und Japan bis hin zum gefühlsüberladenen Formalismus der Starchitektur der Jahrtausendwende. »Moderne Architektur« ist ein Sammelbegriff, unter den vieles fallen kann. Sie in ihrer Gesamtheit abzulehnen wäre deshalb so lächerlich, wie zu behaupten, alle Arten von Jazz oder alle modernen Gemälde seien wertlos. Es lohnt sich dennoch, darüber nachzudenken, ob die moderne Architektur im 21. Jahrhundert nicht vielleicht doch in eine Sackgasse geraten sein könnte. Nach Ansicht vieler ihrer Kritiker besteht das Kernproblem dabei in ihrer Ortlosigkeit. Man kann dagegenhalten, dass in den meisten Ländern doch auch eigene regionale und zutiefst ortsgebundene Ausprägungen entstanden sind. Aber natürlich ist an diesem Vorwurf etwas dran. Tatsächlich gehen die wenigsten der im Geist der architektonischen Moderne geplanten Gebäude wirklich auf ihre Umgebung ein, die meisten könnten überall stehen. Einst galt das sogar geradezu als Tugend. Nehmen wir nur einmal den »International Style«, den vielleicht erfolgreichsten historischen Strang der modernen Architektur, entwickelt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Architekten wie Ludwig Mies van der Rohe. Er wurde so genannt, weil seine kubische, replizierbare Formensprache in den 1920er Jahren in mehreren Ländern gleichzeitig auftauchte und dabei erahnen ließ, dass er auf der ganzen Welt nachgebaut werden konnte. Mit Stahlskelett, Klimaanlagen und Aufzügen konnte man ein und denselben Wolkenkratzer in Stuttgart, Sydney, Seattle, Seoul oder Daressalam bauen. Die gleiche Austauschbarkeit gilt für die ultramoderne Architektur der 1990er und 2000er Jahre, als Designer überall auf der Welt ähnliche Bauten auf Industriebrachen errichteten, häufig am Wasser gelegen und oft unter exorbitanter Verschwendung von Energie und Material. Der weltweit wohl prominenteste Kämpfer gegen moderne Architektur ist Charles Windsor, König von Großbritannien und des Commonwealth. In den 1980er Jahren machte er durch markante Sprüche über diverse moderne Gebäude von sich reden: Das National Theatre in London (heute denkmalgeschützt und sehr beliebt) nannte er ein »Atomkraftwerk«, eine geplante brutalistische Erweiterung der klassizistischen National Gallery in London ein »monströses Furunkel auf dem Gesicht eines innig geliebten und anmutigen Freundes«. Schließlich warf er tatsächlich sein Geld (oder besser gesagt seinen Grundbesitz) für diesen Feldzug in die Waagschale und entwickelte eine ganze Stadt nach traditionellen, ortsgebundenen Gestaltungsprinzipien. Die Bauarbeiten begannen Anfang der 1990er Jahre auf einem Gelände in der Nähe von Dorchester in Dorset, das er Poundbury taufte. Im Lauf der Jahrzehnte ist daraus eine neue neoklassizistische Stadt entstanden, die attraktiv, traditionell und ökologisch nachhaltig sein soll. Sie steht für eine Kritik an der scheinbaren Kälte, Ortlosigkeit und Missachtung lokaler Baustoffe in modernen Architekturstilen – eine Kritik, die über die persönlichen Ansichten und Pläne von King Charles III. weit hinausgeht. Die Theoretiker und Historiker der architektonischen Moderne kennen sie natürlich. Schon in den 1980er Jahren, als der künftige König gegen die nichttraditionellen Gebäude Londons wetterte, schrieb der britische Architekturhistoriker Kenneth Frampton, es brauche eine moderne Architektur, die sensibel für den Ort und die örtlichen Baustoffe sei – einen »kritischen Regionalismus«, wie er es nannte. Diese neuentdeckte Sensibilität für den Ort sollte das Dilemma der Globalisierung angehen und bekam Rückenwind, je mehr jene Baupraktiken auf den Prüfstand kamen, die keinerlei Sinn für Nachhaltigkeit oder CO2-Einsparmöglichkeiten erkennen ließen. Die zeitgenössischen »Furunkel« bekamen die grundlegenden Probleme der gebauten Umwelt nicht in den Griff, und heute wirkt die spektakuläre Architektur der 2000er Jahre schmerzlich unmodern. Die angesehensten Architekturbüros sind mittlerweile eher solche, die eine Brücke zwischen Klassizismus und Moderne schlagen, wie Caruso St John oder Valerio Olgiati. Und wenn es darum geht, die teuren, computergenerierten Museen und Galerien der Stararchitekten früherer Jahrzehnte ins Lächerliche zu ziehen, ist auf britische Kritiker wie Oliver Wainwright oder Rowan Moore Verlass. Der Streit um den Stil ist in den Architekturdiskurs zurückgekehrt. Und wie nicht anders zu erwarten, sind die sozialen Medien der Ort, an dem dieser Konflikt (und die falschen Binaritäten, die er generiert) in seiner grob karikaturhaften Form zu bewundern ist. Auf Online-Plattformen prallen zwei klar erkennbare Positionen aufeinander, die jeweils mit einer bestimmten politischen Haltung kurzgeschlossen werden. Auf der einen Seite hat man den politischen Standort von Trump und den britischen Tories mit ihrem verordneten Klassizismus. Diese Position wird mit imposanten Bildern klassizistischer Gebäude, antiker griechischer und römischer Ruinen, mitteleuropäischer Altstädte oder amerikanischer Beaux-Arts-Bauten unterlegt. Die Bilder präsentieren sich als leuchtende Illustrationen althergebrachter Lösungen für die Probleme der modernen Architektur. Auf X (ehemals Twitter) werden sie von Konten verbreitet, die sich Namen wie @TraditionalWesternBeauty gegeben haben...


Demand, Christian
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010).Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010).
Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.


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