Dicke | Über die Resilienz der Demokratie | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm

Dicke Über die Resilienz der Demokratie

Zur Kultur freiheitlicher Politik

E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm

ISBN: 978-3-451-83004-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die repräsentative Demokratie steht vor existenziellen Herausforderungen. Für Klaus Dicke verfügt der demokratische Verfassungsstaat über erstaunliche Krisenfestigkeit und Anpassungsfähigkeit. Dazu gehört der Meinungsstreit, dazu gehören Kompromisse. Dazu gehört bei aller Notwendigkeit politischen Streits eine habituelle Nachsichtigkeit, mit der Umgang miteinander möglich bleibt. Und dazu gehört ein politisches Personal, das die Politik und sich selbst mit Humor zu nehmen weiß.
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I. Repräsentative Demokratie – Anspruch und Krise
1. Grundidee und Krisenphänomene
Die globalen Großkrisen in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts – Finanzkrise, Klimakrise, Corona-Pandemie – haben die Regierungsform der repräsentativen Demokratie in außerordentlicher Weise herausgefordert. Alle drei Krisen haben die parteipolitische Tektonik in Deutschland verschoben und führten zu sich in unterschiedlichen Graden radikalisierenden Protesten auf der Straße; alle drei setzten hinter die Effektivität der Krisenbewältigung durch parlamentarische politische Systeme Fragezeichen; alle drei offenbarten eine drastisch zunehmende Abhängigkeit politischen Entscheidens von sich überdies rasch ändernden wissenschaftlich gewonnenen und kommunizierten Wissensbeständen; alle drei offenbarten schließlich Anfälligkeiten für „Populismen“ und Politikstile im „Basta“-Modus. So wundert es nicht, dass in der politik- und rechtswissenschaftlichen Literatur zur Demokratie in den letzten Jahren Krisendiagnosen im Vordergrund stehen.[1] Es sind Funktion und Verständnis der repräsentativen Demokratie, die sich offensichtlich – wie Wolfgang Schäuble im Sommer 2021 mahnte – verkannt und herausgefordert, zugleich aber unverzichtbar zeigt,[2] welche in besonderer Weise in den Fokus rücken. Ob die das dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wohl beherrschende Krise, die Putins Überfall auf die Ukraine ausgelöst hat, diesen Fokus wieder verschieben wird, bleibt abzuwarten. Es ist jedenfalls kein gutes Omen, dass sich die in der Zeitschrift „Emma“ mit ihrem Text verewigten 28 Intellektuellen im April 2022, just am Tage nach der Entscheidung des Bundestages zu Waffenlieferungen, zu dem das Parlament sich nun wirklich mühsam durchgerungen hatte, an den Bundeskanzler mit der Aufforderung wandten, sich der Umsetzung dieser Entscheidung zu entziehen.[3] Gegen eine offene Kritik der Parlamentsentscheidung wäre nichts einzuwenden gewesen, aber deren stillschweigendes Übergehen weckt doch den Eindruck, als setze man sich kraft höherer Einsicht über die Entscheidung des Parlaments hinweg. Leider steht dies im Einklang mit einer Reihe politischer Experimente, die mit der repräsentativen Demokratie nicht vereinbar sind: So bedurfte es mehrerer Entscheidungen von Verfassungsgerichten, um die in Brandenburg begonnenen und in Thüringen fortgesetzten Versuche zu beenden, durch sogenannte „Parité-Gesetze“ regulierend in politische Willensbildung einzugreifen, was nach dem Urteil des brandenburgischen Verfassungsgerichtshofs den „Grundsatz der Gesamtrepräsentation“ verletze.[4] In den fraglichen Gesetzen wurde die Verbindung von Demokratie- und Repräsentationsprinzip aufgelöst bzw. partizipatorisch kurzgeschlossen. Die Gesetze sprechen ein grundsätzliches Misstrauen in den Gemeinsinn von Repräsentanten aus und sind insoweit „Ausdruck des Misstrauens politischer Repräsentanten in den eigenen Repräsentationsanspruch.“[5] Ein weiteres Beispiel ist das Hantieren Markus Söders mit einem „modernen“ Demokratieverständnis im Kampf um die Kanzlerkandidatur der CDU im Jahr 2021, mit dem in einer Kampfarena ohne feste Regeln innerparteiliche Entscheidungsverfahren der CDU mit Umfragewerten des CSU-Chefs delegitimiert wurden. Auch die politische Theorie trägt dort das Ihre zur Krise der repräsentativen Demokratie bei, wo Demokratie mit Partizipation identifiziert wird. Eine Demokratie ohne Partizipation ist nicht denkbar, aber Demokratie geht nicht in Partizipation auf. Schon das von Philip Manow[6] ins Gespräch gebrachte Bedenken, dass Partizipation jedenfalls in dem heutigen Ausmaß entscheidungslähmende – und ich möchte hinzufügen: qualitätsmindernde – Folgen haben kann, sollte ebenso zu breiteren Debatten zur Stabilisierung der repräsentativen Demokratie führen wie die sehr populäre Identifizierung von Demokratie und Partizipation beredten Widerspruch verdient. Die repräsentative Demokratie ist eine Regierungsform, die sich im Zuge der Evolution des demokratischen Verfassungsstaates seit den atlantischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat und die in den demokratischen Staaten Europas erst im 20. und 21. Jahrhundert verfassungsmäßig konkretisiert wurde. Sie setzt Gewaltenteilung und rechtsstaatliche Strukturen ebenso voraus wie verfassungsrechtliche Regelungen demokratischer Verfahren, etwa die Beschränkung von Legislaturperioden und ein faires Wahlrecht, die für Machtkontrolle und eine grundsätzliche Reversibilität politischer Entscheidungen sorgen, und schließlich effektiv gesicherte politische Grundrechte einschließlich unabhängiger Berichterstattung durch Medien. Die repräsentative Demokratie als Regierungsform ist also eingebettet in das komplexe Geflecht von Prinzipien, Regeln und Normen sowie Entscheidungs- und Kontrollmechanismen des demokratischen Verfassungsstaates. Die Grundidee der repräsentativen Regierungsform richtet sich darauf, dass politisches Entscheiden mit allgemeinem Geltungsanspruch an unabhängige Prozesse der Urteilsfindung optimal informierter Amts- und Mandatsträger auf Zeit delegiert wird. Die klassische Formulierung dieser Grundidee findet sich in No. 10 der Federalist Papers, nach der ein Entscheidungsreife herbeiführender Vergütungsprozess der öffentlichen Meinung dadurch bewerkstelligt werde, dass diese   „den Filter einer ausgewählten Gruppe von Staatsbürgern passiert, deren Einsicht die Gewähr bietet, dass sie die wahren Interessen des Landes erkennen, und deren Patriotismus und Gerechtigkeitssinn die Annahme zulässt, dass sie diese wahren Interessen nicht augenblicklichen Vorteilen und parteilichen Erwägungen opfern werden. Auf diese Weise kann es geschehen, dass die Stimme des Volkes dort, wo sie aus dem Munde der Volksvertreter spricht, eher dem Wohl der Allgemeinheit dient als dort, wo das Volk selbst zusammentritt, um seinen Willen kundzutun“[7].   Es geht also um einen Vergütungs- und Reifungsprozess politischer Urteile, der zwar keineswegs eine Garantie für richtige Entscheidungen bietet, wohl aber die Wahrscheinlichkeit vernünftiger und im Interesse des Landes liegender politischer Entscheidungen signifikant erhöht. Dazu werden qualifizierende Bedingungen genannt: Einsicht, Patriotismus und Gerechtigkeitssinn sowie Unabhängigkeit der Entscheidungsträger. Während das Abheben auf einsichtige Repräsentanten im Text des 18. Jahrhunderts einen gewissen an die Philosophenkönige Platons gemahnenden Bildungselitismus nicht ganz verleugnen kann – ein anderer Klassiker des representative government, John St. Mill, wollte gar das Wahlrecht von der Bildung abhängig machen –, hebt das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in dem für Repräsentation zentralen Art. 38 auf die im parlamentarischen Prozess stehende Funktionselite der Abgeordneten ab:   „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages (…) sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“   Zusammen mit Art. 20 Abs. 2 und Art. 21 ist dies die verfassungsrechtliche Grundlage der repräsentativen Regierungsform der Bundesrepublik Deutschland. Artikel 38 erhebt „das ganze Volk“ zur Legitimationsinstanz und sichert die Unabhängigkeit der Abgeordneten in ihrer Entscheidungsfindung. Dass ein Missbrauch der besonderen Verantwortung aus Art. 38 der repräsentativen Demokratie massiven Schaden zufügen kann, hat zuletzt die Maskenaffäre am Beginn der Corona-Pandemie gezeigt. Auf zwei Aspekte ist im Folgenden näher einzugehen: erstens auf die Aussagen des Grundgesetzes zur Legitimationsinstanz „Volk“ und zweitens auf die normative Unabhängigkeit der Abgeordnetenurteile in dem, was man als das Dreieck der Repräsentation mit den Schenkeln freies Spiel der Urteilskraft, Sachangemessenheit und Interessenausgleich bezeichnen kann. 2. „Volk“ im demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes[8]
Es ist ein Gemeinplatz der sogenannten „republikanischen Tradition“ politischen Denkens, dass Überlegungen zur Verfassung der Republik einer vorausgehenden Verständigung darüber bedürfen, was ein Volk ist bzw. was ein Volk zu einem Volk macht. In der politischen Ideengeschichte lassen sich drei Antworten ausmachen, die jeweils nachhaltige Wirkungen hatten und haben. Dies ist erstens die im 2. und 3. Buch Mose enthaltene Erzählung vom Gründungsakt des Volkes Israel im Bund am Sinai (Deut. 29,10 ff.). „Der Bund ist ein Gründungsakt“, fasst Michael Walzer zusammen, „erst durch den Bund machen sie [die Israeliten, K. D.] sich zu einem Volk im starken Sinne des Wortes.“ Israel entscheidet in freiem Willen, und die „Menschen, die den Bund schließen, sind … moral agents: zu moralischem Handeln fähige, verantwortliche Akteure“[9]. Die zweite Antwort ist die bekannte und einflussreiche Definition der Republik bei Cicero:   „Es ist also der Staat die Sache des Volkes, das Volk aber nicht jede Versammlung von Menschen, auf welche Weise auch immer zusammengeschart, sondern die Versammlung einer Menschenmenge, die durch die Übereinstimmung der Rechtsvorstellung und die Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist.“[10]   Das Volk wird also als eine Rechts-...


Dicke, Klaus
Klaus Dicke, Jahrgang 1953, Prof. em. für Politische Theorie und Ideengeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena, war nach dem Studium der Politikwissenschaft, Geschichte, kath. Theologie und Philosophie in Marburg und Tübingen wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsprojekt Menschenrechte der Universität Tübingen und Akademischer Rat am Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel. Er habilitierte sich mit einer Arbeit über den Reformprozess der Vereinten Nationen. Nach Lehrstuhlvertretungen in Berlin und Mainz folgten Rufe nach Mainz und Jena. Seit 1995 war er Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte in Jena. Von 2004 bis 2014 war er Rektor der Friedrich-Schiller-Universität; von 2006 bis 2013 Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz. 2015/2016 nahm er ein Fellowship am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt wahr. Er ist Vorsitzender des Stiftungsrates der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Seine Forschungsschwerpunkte sind Politische Ideengeschichte der Neuzeit, Friedenssicherung und Menschenrechte sowie Hochschulpolitik.

Vogel, Bernhard
Bernhard Vogel, Prof. Dr., war Kultusminister und Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Ministerpräsident von Thüringen und Präsident des Zentralkomitees der dt. Katholiken sowie Mitglied des Bundesvorstands der CDU. Bis 2011 Vorsitzender der Konrad Adenauer-Stiftung.

Klaus Dicke, Jahrgang 1953, Prof. em. für Politische Theorie und Ideengeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena, war nach dem Studium der Politikwissenschaft, Geschichte, kath. Theologie und Philosophie in Marburg und Tübingen wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsprojekt Menschenrechte der Universität Tübingen und Akademischer Rat am Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel. Er habilitierte sich mit einer Arbeit über den Reformprozess der Vereinten Nationen. Nach Lehrstuhlvertretungen in Berlin und Mainz folgten Rufe nach Mainz und Jena. Seit 1995 war er Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte in Jena. Von 2004 bis 2014 war er Rektor der Friedrich-Schiller-Universität; von 2006 bis 2013 Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz. 2015/2016 nahm er ein Fellowship am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt wahr. Er ist Vorsitzender des Stiftungsrates der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Seine Forschungsschwerpunkte sind Politische Ideengeschichte der Neuzeit, Friedenssicherung und Menschenrechte sowie Hochschulpolitik.
Bernhard Vogel, Prof. Dr., war Kultusminister und Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Ministerpräsident von Thüringen und Präsident des Zentralkomitees der dt. Katholiken sowie Mitglied des Bundesvorstands der CDU. Bis 2011 Vorsitzender der Konrad Adenauer-Stiftung.


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