Diestel / Lafontaine | Sturzgeburt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 244 Seiten

Diestel / Lafontaine Sturzgeburt

Vom geteilten Land zur europäischen Vormacht

E-Book, Deutsch, 244 Seiten

ISBN: 978-3-360-50093-9
Verlag: Das Neue Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Vor 25? Jahren wurde die staatliche Einheit Deutschlands hergestellt. Der Bundespolitiker Oskar Lafontaine (damals SPD) wollte sie, der DDR-Politiker Peter-Michael Diestel (DSU/CDU) ebenfalls. Lafontaine jedoch hatte dabei nicht das Gleiche im Sinn wie die regierenden Bonner Christdemokraten, und Diestel, der als Vize-Premier der DDR deren Kurs aktiv mittrug, sah erst später manches anders.
Der einstige West- und der ehemalige Ostpolitiker betrachten nun nach einem Vierteljahrhundert die Vereinigung und vornehmlich deren Folgen, an denen die Deutschen noch heute zu tragen haben. In vielen Aspekten sind sie sich einig, in manchen Fragen gehen ihre Auffassungen unverändert auseinander. Ihr Streit über die Bilanz macht die Grundprobleme aktueller Politik sichtbar - und ist zugleich eine anregende Lektüre.
Diestel / Lafontaine Sturzgeburt jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Fehlerdiskussion LAFONTAINE Ich habe viele Fehler gemacht. Wobei man sicher unterscheiden müsste zwischen denen im privaten und denen im öffentlichen Leben. Mein größter politischer Fehler bestand wohl darin, dass ich in dem Bemühen, die SPD wieder an die Macht zu führen, meinem damaligen Kumpel Gerhard Schröder bei der Kanzlerkandidatur den Vortritt gelassen habe. Er schlug als Kanzler einen politischen Weg ein, der nicht vereinbart war. Das führte zu meinem Rücktritt im März 1999. Das ist für viele der Schnee von gestern. Ich erwähne den Rücktritt auch nur deshalb, weil ich dadurch eine Politik zugelassen habe, die ich für grundfalsch halte. Darin bestand mein Fehler. Die im Kabinett fortan unwidersprochene Politik hat viele Menschen negativ getroffen. Ich erwähne die Agenda 2010, die selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung als den größten Sozial­abbau nach dem Kriege bezeichnete. Die Kritik daran prägt seither mein politisches Handeln. Wenn wir heute den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa haben, ist das die unmittelbare Folge. Und dass wir Millionen Rentner in Altersarmut haben werden, wenn diese Rentenformel bleibt. Die Sozial-, Wirtschafts- und Steuerpolitik der rot-grünen Koalition war arbeitnehmerfeindlich. Unter dem Vorwand der Modernisierung der Industriegesellschaft erfolgte die Abkehr von sozialdemokratischen Grundwerten, die wir noch im Vorjahr in unser Programm geschrieben hatten, und die deutliche Hinwendung zum Neoliberalismus. Ein wichtiger Anlass für meinen Rücktritt aber war der Bruch des Friedensversprechens. Der Kosovokrieg gab den letzten Ausschlag. Wobei ich die Entscheidung nicht aufzuhalten vermochte, weil der Koalitionspartner, die Grünen, und insbesondere Joschka Fischer, sich von ehemaligen Pazifisten zu Kriegsbefürwortern entwickelt hatten. Keine zwei Wochen nach meinem Ausscheiden fielen die ersten NATO-Bomben auf die Bundesrepublik Jugoslawien. Nur zur Erinnerung: Die mehrheitlich von Albanern bewohnte serbische Provinz Kosovo versuchte seit 1998 ihre Forderung nach Selbständigkeit militärisch durchzusetzen. Die Bundesrepublik Jugoslawien ging gegen diese »Befreiungsarmee« (UÇK) vor, es handelte sich also um einen nationalen Konflikt. Auch im Westen betrachtete man die UÇK als terroristische Organisation, da sie Einrichtungen des Staates überfiel und Unschuldige ermordete. Der UN-Sicherheitsrat verurteilte den »exzessiven Gebrauch von Gewalt« durch die Kosovo-Albaner, kritisierte aber auch den der serbischen Polizei- und Sicherheitskräfte. Und eine sogenannte Balkan-Kontaktgruppe – bestehend aus Vertretern der USA, Russlands, Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands und Italiens – forderte im Herbst 1998 ultimativ Verhandlungen zwischen Serbien und den Kosovo-Albanern. Falls diese Friedensgespräche nicht geführt werden würden, drohte die NATO Luftangriffe an. Dann gab es diese Gespräche im Schloss Rambouillet bei Paris und einen Vertrag, der aber nicht unterzeichnet wurde, weil Jugoslawien die permanente Stationierung von 30 000 NATO-Soldaten – als Friedenstruppe deklariert – auf seinem Territorium ablehnte. Das war durchaus zu verstehen, wie eben auch von vielen, auch von mir, dies als kalkulierte Sollbruchstelle der Verhandlungen verstanden wurde: Diese Forderung nach Stationierung fremder Soldaten war ein Eingriff in die Souveränität der Bundesrepu­blik Jugoslawien. Letztlich wollte die NATO mit der USA an der Spitze das ihr nicht genehme Milosevic-­Regime in Belgrad weghaben und suchte schon geraume Zeit nach einem Vorwand, dieses militärisch erledigen zu können. Man erfand schließlich einen serbischen »Hufeisenplan« zur ethnischen Säuberung und warnte heuchlerisch vor einer »humanitären Katastrophe«, wenn nicht militärisch interveniert werden würde. Wortführer in Deutschland, wir erinnern uns, waren Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) und der Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD). Den serbischen »Hufeisenplan«, auf dessen Basis angeblich Hunderttausende Menschen vertrieben werden sollten, hat man bis heute trotz intensiver Suche nicht gefunden. Aber: Am 24. März 1999 begann der NATO-Krieg ohne UNO-Mandat oder eine andere völkerrechtliche Legitimation. Bis dahin waren nach Schätzungen etwa tausend Menschen in dieser Region zu Tode gekommen – dem dreimonatigen NATO-Krieg fielen etwa 10 000 Zivilisten zum Opfer. Deutschland war wieder dabei und begann den Aufstieg zur europäischen Vormacht. Zum ersten Mal seit 1945 zogen wieder deutsche Soldaten in den Krieg. In der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad, in Nis? und Novi Sad zerstörte die NATO mit Bomben und Cruise Missiles 148 Gebäude, 300 Schulen, Krankenhäuser und Verwaltungsgebäude sowie 54 Brücken und Bahnhöfe. 176 Kulturdenkmäler, darunter 23 Klöster aus dem Mittelalter, wurden zerstört, die Jugoslawische Kinemathek in Belgrad – eines der fünf größten Filmarchive der Welt – ging unwiederbringlich verloren. Die Liste der Verbrechen ist lang, mein Verständnis dafür kurz, es ist gleich Null. Insgesamt waren an diesem angekündigten Krieg 14 NATO-Staaten mit etwa 1200 Kampfflugzeugen beteiligt. Das ist inzwischen vielfach dokumentiert, ich muss hier nicht alles ausführen. Dieser Krieg fußte, wie alle Kriege, auf Lügen. Für mich gipfelte die Demagogie in der Aussage des Bundesaußenministers: »Wir haben immer gesagt: ›Nie wieder Krieg!‹ Aber wir haben auch immer gesagt: ›Nie wieder Auschwitz!‹« Damit war das Tischtuch zwischen uns endgültig und irreparabel zerschnitten. Was wäre für Sie die Alternative zur politischen Laufbahn gewesen? DIESTEL Das unterstellt, dass mein Weg in die Politik eine bewusste Entscheidung gewesen sei. Das war er nicht. Ich lebte mit der Maßgabe, dass ich gesund bleiben und 65 Jahre alt werden müsse, damit ich mal in den Westen reisen durfte. Ende der 80er Jahre aber schien etwas in Bewegung zu kommen, was mich zu der Annahme verführte, dass ich vielleicht nicht bis zur Rente warten müsse, um reisen zu dürfen. Dennoch engagierte ich mich politisch zunächst allenfalls nebenbei. Und selbst später bei vollem Engagement als DSU-Generalsekretär, als DDR-Innenminister oder als Oppositionsführer im Brandenburger Landtag geschah dies immer nur mit halbem Herzen. Ich blieb Jurist und dem bürgerlichen Dasein verhaftet. Die Politik als Beruf oder als Lebensmittelpunkt hat mich nie interessiert, sogar abgeschreckt! Ich habe viele Menschen in der Politik kennengelernt, die ohne jegliche weltanschauliche Determination agieren, nur das eigene Vorankommen, das Mandat, den Posten im Auge haben. Keine gute Empfehlung für junge Menschen. DIESTEL Wieso? Jungen Menschen muss man empfehlen, in die Politik zu gehen. Wenn sie nicht erkennen, dass sie immer nur Objekt bleiben, so lange sie sich von der Politik fernhalten, muss man es ihnen sagen. Um zu gestalten, um gesellschaftliches Subjekt zu werden, muss man sich bilden, einen Beruf erlernen und ihn ausüben, um dann mit diesem Wissen, mit selbst gemachten Erfahrungen in die Politik einzusteigen. Sonst wird über ihre Köpfe hinweg entschieden. Davon können wir Älteren im Osten ein Lied singen. Aber ich warne davor, in der Politik einen Beruf zu sehen, den man lebenslang ausübt. Wer idealerweise mit einem Beruf in die Politik geht, sollte auch in diesen zurückkehren können. Und ich sage auch: Wenn eine Putzfrau in den Bundestag geht, soll sie dort das gleiche Gehalt beziehen wie vorher. Das gilt auch für den Industriemanager. Wir brauchen im Parlament beide: den Konzernchef wie die Raumpflegerin. Ein Mandat darf aber weder als finanzieller Zugewinn noch als finanzieller Abstieg erlebt werden. Beides deformiert den Charakter und beeinflusst die Haltung. Ich rate jungen Menschen zum politischen Engagement, auch wenn das Mandat lediglich eine zeitlich begrenzte, vermittelte Teilhabe an der Macht ist. Es ist kein Blankoscheck für wirtschaftlichen Aufstieg und Privilegien. Politik als Beruf zu sehen und ihn auch wie einen solchen auszuüben, halte ich für falsch. In einigen Fällen mag das gut gehen, wie man an Oskar Lafontaine sieht. Wenn ich die durchschnittlichen, dümmlichen Gesichter in meiner Partei, der CDU, aber auch in den anderen Parteien sehe, habe ich Zweifel, dass die »draußen« aus eigener Kraft etwas werden würden. Da gibt es Juristen, die würden in keiner Kanzlei einen Job bekommen. Wer die Klugheit des Volkes unterschätzt, begeht den größten Fehler, den man in der Politik machen kann. Deshalb kann ich meiner Partei nur raten, den Menschen beispielsweise die Grundsätze der Griechenlandpolitik verständlich zu erklären. Wenn die Menschen es verstehen, werden sie auch bereit sein, die Entscheidungen zu tragen. Gleiches gilt für die aktuellen Flüchtlingsfragen und auf ganz besondere Weise auch für Telefonausspähungen durch fremde Nachrichtendienste. LAFONTAINE Ich glaube, dass ich keine Alternative zur Politik hatte, weil mich Politik fesselte. Ich verspürte von Anfang an eine...


Peter-Michael Diestel, geboren 1952, Mitbegründer der DSU, 1990 DDR-Innenminister und Vize-Premier. Er war Abgeordneter und Oppositionsführer im Brandenburger Landtag von 1990 bis 1992. Seit 1993 hat Diestel eine Anwaltskanzlei mit Hauptsitz in Potsdam.
Oskar Lafontaine, geboren 1943, war Ministerpräsident des Saarlandes, Vorsitzender der SPD und Bundesfinanzminister. 2005 trat er von allen Ämtern zurück und aus der SPD aus. Er ist Mitbegründer der 2007 aus WASG und PDS geformten Partei "Die Linke". 2009 zog er sich aus der Bundespolitik zurück und ist heute Oppositionsführer im saarländischen Landtag.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.