Doctorow | Little Brother – Sabotage | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 3, 576 Seiten

Reihe: Little Brother

Doctorow Little Brother – Sabotage

Roman

E-Book, Deutsch, Band 3, 576 Seiten

Reihe: Little Brother

ISBN: 978-3-641-28260-8
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Masha Maximov hat einen gut bezahlten Job bei der Cybersecurity-Firma Xoth Intelligence, wo sie sich im Auftrag von Regierungen weltweit in die Accounts von Dissidenten und Aktivisten hackt. Manchmal nutzt Masha ihre Fertigkeiten aber auch, denselben Aktivisten und Dissidenten dabei zu helfen, einem Hackerangriff zu entgehen. Dieses gefährliche Doppelspiel war aufregend, solange es um Leute in anderen Ländern ging. Doch der neueste Auftraggeber von Xoth Intelligence ist die Regierung von einem Land ähnlich wie Mashas Heimat. Masha steht vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens ...

Cory Doctorow, 1971 in Toronto geboren, ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit dem Blog boingboing.net und seinem Kampf für ein faires Copyright hat er weltweite Bekanntheit erlangt. Seine »Little Brother«-Romane wurden internationale Bestseller. Cory Doctorow ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt in Los Angeles.
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2
Die Aeroflot-Lounge war vorübergehend gesperrt, aber im Wartebereich gab es eine Snackbar. Ich kaufte altbackene Salami-Ciabattas und Kaffee. Trotz Protein, Fett und Kohlenhydraten war ich ein Wrack. Ich bin ziemlich gut darin, ruhig herumzusitzen und zu warten. Das ist in meiner Branche eine wichtige Fähigkeit. Ungeduld und nicht die Angst bringt im Kopf alles durcheinander. Früher hatte ich im Kopf Fibonacci-Zahlen berechnet, aber irgendwann fand ich einen Weg, ohne die nutzlose Mathematik in jenen Bereich zu wechseln, wo ich nicht mehr bewusst dachte. Ich wiegte den Kopf hin und her, danach die Hüften, und suchte eine neutrale Position, die den Gelenken guttat. Dann ging ich ganz bewusst und langsam jeden Körperteil durch. Ich begann mit dem letzten Gelenk der rechten großen Zehe und arbeitete mich bis zum Schädeldach hinauf, schenkte jedem Bereich meine volle Aufmerksamkeit, bis ich sicher war, dass ich genau spürte, was dort los war, während ich mich so wenig wie möglich bewegte. Ich hatte am Vorabend eine Reihe ziemlich harter Schläge eingesteckt, doch es war mir gelungen, sie nicht wirklich zur Kenntnis zu nehmen – die Kästchenexpertin, die Geißel der Selbstfürsorge –, bis ich diese Übung machte. Ich hatte Prellungen an einem Ellenbogen und an beiden Knien, Kratzer an einem Schienbein und an beiden Handflächen, in den Schultern und am Kiefer taten die Muskeln weh, die ich verkrampft angespannt hatte. Als ich die Augen wieder öffnete, fühlte ich alle diese Schmerzen, empfand aber zugleich auch die Ruhe, die ich brauchte. Damit war ich die Einzige. Alle anderen warteten extrem angespannt, als wären sie gerade noch mit dem letzten Hubschrauber aus Saigon geflohen. Sorgfältig unterdrückte ich meine Gereiztheit. Eines der Dinge, die ich bei mir selbst genau beobachte, ist der Attributionsfehler: Wenn man annimmt, die eigenen dummen Fehler seien das Ergebnis ganz normaler und verzeihlicher menschlicher Fehlleistungen, während die Fehler anderer Menschen die Folge ihrer grundlegenden Charakterschwächen seien. Also etwa so: »Wenn ich vergesse, den Abwasch zu machen, dann liegt das daran, dass niemand vollkommen ist. Wenn du das versäumst, liegt es daran, dass du ein selbstsüchtiger Arsch bist.« Ich ging noch einmal meinen Plan für Moskau durch. Die Geldautomaten waren in Betrieb, wenn ich landete, und ich konnte mit der Schweizer Visakarte genug Dollar abheben, um ein paar Tage in San Francisco zurechtzukommen. Die restliche Zeit konnte ich damit verbringen, Leute zu suchen, die vielleicht den einen oder anderen kleinen Auftrag für mich hatten. Also genau das, was alle taten, die einen Job im Hightech-Bereich verloren hatten, nur dass ich wie ein Fallschirmspringer gezielt eingesetzt werden konnte, um Cyberwaffen zu entstören. Es war mir egal, was es war, solange es gut bezahlt wurde und nichts mit Verkaufsgesprächen zu tun hatte. Ich arbeitete nicht gern mit Verkäufern zusammen. Die Leute, die Verträge für Spyware abschlossen, waren unweigerlich genau die riesigen Arschlöcher, die man im Verkauf erwartete, aber mit noch weniger Gewissen, falls man sich das überhaupt vorstellen konnte. In Moskau bewegte ich mich wie auf Autopilot. Wenn man einen Flughafen gut genug kennt, muss man nicht mehr über die Wege nachdenken. Ich holte Bargeld, zog aus einem Automaten mit Euro eine SIM-Karte und suchte mir in der Nähe meines Gates einen Platz in der Business Lounge von Aeroflot. Als ich mich mit einem zwei Fingerbreit hohen Vormittagswodka setzte, ging eine Nachricht über Signal ein. Wegen meiner Einmal-SIM-Karte konnte mich niemand über diese Telefonnummer erreichen, aber die Nachricht kam über das WLAN der Lounge und durch mein VPN herein. Wer da auch anrief, er stand auf meiner Liste vertrauenswürdiger Personen. HERTHA NETZKE, las ich auf dem Bildschirm. Das Profilbild war ein Aushangfoto aus dem Film Ilsa, She Wolf of the SS: Diane Thorne in Reithosen und Reitstiefeln. Glücklicherweise hatte sie mich nie angerufen, als ich mich mit ihr in ein und demselben Raum befunden hatte. Meiner Erfahrung nach sind manche Deutsche nicht besonders scharf auf alte Naziwitze. »Hallo.« »Masha.« »Hallo.« Schwärme von Borissen in Businessanzügen eilten vorbei. Die anderen Passagiere in der Lounge fummelten mit ihren Telefonen herum und schoben ihr Handgepäck hin und her. Ich musste dringend etwas trinken und kippte den halben Wodka. »Geht es Ihnen gut?« »Eigentlich nicht besonders. Nicht nach den Ereignissen der vergangenen Nacht.« Es gab eine kurze Pause. »Neue Taktiken sind schockierend, deshalb ist die Aufregung nach ihrer Anwendung unverhältnismäßig groß. Ein Selbstmordattentat mit einer primitiven Bombe hätte erheblich mehr Opfer gefordert, aber nicht den gleichen Schrecken wie dieser neuartige Angriff verbreitet.« So redete Ilsa immer. Ich nannte das bei mir »Rommeln« – theoretisch und eiskalt über Strategien reden, wenn alle anderen aufgeregt und besorgt sind. Das war ein Teil ihrer Eisköniginnenmasche. Sie machte damit aber keine gute Figur; die harte Nummer passte eher zu Carrie Johnstone. »Hertha, spielen Sie nicht die Neunmalkluge.« Sollte bedeuten: Reden Sie mir bloß nicht ein, dass sich alle Leute, auf die es ankommt, deshalb keine Sorgen machen, sodass ich mir auch keine machen müsste. »Freunde von mir werden vermisst.« »Ihre junge Kriztina.« Natürlich wusste sie von ihr. »Ist sie in Sicherheit?« »Sie war von dem Angriff nicht betroffen.« Auch nach zwei Wodka entging mir nicht, dass sie mir ausgewichen war. »Das ist keine Antwort auf meine Frage.« »Als der Angriff begann, war sie in einer Zelle. Die Ziele waren die Faschisten, nicht Ihre Freunde, Masha. Litvinchuk ist ein kluger Mann. Er setzt bei verschiedenen Fraktionen unterschiedliche Taktiken ein. Was da jetzt passiert ist, erschreckt die Nazis bis tief in ihre winzigen Seelen. Ihr dagegen träumt alle vom Märtyrertum, und deshalb würde so etwas bei euch nichts nützen.« Ich weigerte mich standhaft, mir Kriztina in einer von Litvinchuks Zellen vorzustellen. Das slovstakische Wort für einen Gefängniswärter ließ sich am besten als »Fingerknacker« übersetzen. Ein gebrochener und schief verheilter Finger war ihre Version einer Gefängnistätowierung, ein Abzeichen der Gesetzlosigkeit, nachdem man Gast der Fingerknacker gewesen war – ob Gauner oder Dissident, war denen egal. »Ist sie verletzt?« Ich mochte es nicht, wie zaghaft meine Stimme klang. Ich war nicht einmal sicher, ob ich ein Kästchen hatte, das groß genug war, um alles aufzunehmen, was ich fühlte. Es war zu viel. Der Schnaps half auch nicht. Schnaps half nie. »Das ist eine innere Angelegenheit.« Ich dachte zuerst, sie machte einen grässlichen Scherz über Folter – etwas wie: Ja, sie hat innere Verletzungen –, doch dann wurde mir bewusst, dass alles, was zwischen Litvinchuks Fingerknackern und Kriztina geschah, Xoth und damit sie selbst nichts anging. Ich zählte nicht bis zehn, weil mir das noch nie geholfen hatte, und dachte stattdessen: Das ist eine dieser Situationen, in denen man bis zehn zählt, was mir manchmal half. »Hertha, ich bin nicht in der Lage, um selbst etwas über Kriztina in Erfahrung zu bringen, und auch wenn es Xoth nichts angeht, es würde mir viel bedeuten, wenn Sie sich erkundigen könnten.« Das war Memosprech. So schrieben wir, wenn wir uns überlegten, wie unsere E-Mails klingen mochten, falls sie gehackt wurden und der Dump an die Öffentlichkeit drang oder per Gerichtsbeschluss beschlagnahmt wurde. Das hatte ich von Carrie Johnstone höchstpersönlich gelernt. Memosprech war codierte Kommunikation: Ich bin so sauer, dass ich Sachen denke, die wir beide bereuen würden, wenn ich sie laut ausspräche. Ilsa beherrschte diese Verschlüsselung fließend und konnte sich meine Mitteilung leicht übersetzen: Zwingen Sie mich nicht, Litvinchuk mit meinen Mitteln zu jagen, denn die sind nicht gerade subtil. Sie werden das, was ich tun muss, um ein Druckmittel gegen unseren gemeinsamen Freund zu finden, überhaupt nicht mögen. Außerdem möchte ich Sie daran erinnern, dass ich nicht mehr für Xoth arbeite, Sie haben also keine Möglichkeit, mich zu disziplinieren, falls Sie der Ansicht sind, ich hätte den Bogen überspannt. »Ich kann mich gern für Sie umhören, Masha. Ich verstehe durchaus, dass diese Situation für Sie sehr belastend sein muss.« Übersetzung: Ich habe das verstanden. Ich höre mich um. Machen Sie keine Dummheiten, oder! »Vergessen Sie nicht, die Presse, mit der Sie außerhalb von Slovstakien zu tun haben, steht dem Regime sehr feindselig gegenüber und gibt sich große Mühe, es zu diskreditieren. Denken Sie immer daran, sich selbst zu fragen, was außerhalb dieses Bezugsrahmens existiert.« Das sind Fake News. Wenn Sie klug sind, ignorieren Sie das. Das Problem war, dass sie zur Hälfte sogar recht hatte. Die amerikanische und europäische Presse hasste Slovstakien. Es war eines dieser Länder, deren autokratischer Herrscher auf gutem Fuß mit der Gegenseite stand und die Waffen bei der Konkurrenz kaufte – und es gab in dem Land kein Erdgas, keine wichtigen Museen oder andere nützliche Dinge, mit denen man sich bei den westlichen Mächten beliebt machen konnte. Die Oligarchen orderten die Luxusgüter in Russland und China statt in Frankreich und Amerika. Ich fragte mich, wie es wäre, wenn ich noch einmal die Videos von den angreifenden Autos durchgehen würde. Ob ich...


Doctorow, Cory
Cory Doctorow, 1971 in Toronto geboren, ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit dem Blog boingboing.net und seinem Kampf für ein faires Copyright hat er weltweite Bekanntheit erlangt. Seine »Little Brother«-Romane wurden internationale Bestseller. Cory Doctorow ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt in Los Angeles.


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