Doctorow | Walkaway | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 736 Seiten

Doctorow Walkaway

Roman

E-Book, Deutsch, 736 Seiten

ISBN: 978-3-641-19579-3
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die nahe Zukunft: Der Planet ist vom Klimawandel gezeichnet, die moderne Gesellschaft wird von den Ultra-Reichen regiert und die Städte haben sich in Gefängnisse für den normalen Bürger verwandelt. Doch es ist auch eine Welt, in der sich Lebensmittel, Kleidung und Obdach per Knopfdruck produzieren lassen. Warum also in einem System ausharren, das die Freiheit des Menschen beschränkt? Vier ungleiche Helden machen sich auf den Weg in die Wildnis. Dort suchen sie Unabhängigkeit, Glück und Selbstbestimmung. Was sie aber stattdessen dort finden, stellt ihre ganze Welt auf den Kopf: den Weg zur Unsterblichkeit ...

Cory Doctorow, 1971 in Toronto geboren, ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit dem Blog boingboing.net und seinem Kampf für ein faires Copyright hat er weltweite Bekanntheit erlangt. Seine »Little Brother«-Romane wurden internationale Bestseller. Cory Doctorow ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt in Los Angeles.
Doctorow Walkaway jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


[i] Hubert Vernon Rudolph Clayton Irving Wilson Alva Anton Jeff Harley Timothy Curtis Cleveland Cecil Ollie Edmund Eli Wiley Marvin Ellis Espinoza war zu alt, um auf einer kommunistischen Party zu sein. Mit seinen siebenundzwanzig Jahren war er sieben Jahre älter als der nächstjüngere Gast. Er spürte die demografische Kluft. Nur zu gern hätte er sich hinter einer der riesigen schmutzigen Maschinen versteckt, die in der verfallenen Fabrik herumstanden. Nur zu gern wäre er den unverhohlen neugierigen Blicken der schönen Kinder in allen Schattierungen und Größen entgangen, die nicht verstehen konnten, warum sich hier ein alter Mann herumtrieb. »Lass uns hier verschwinden«, sagte er zu Seth, der ihn zu der Party geschleppt hatte. Seth hatte Angst, dem demografischen Reich der schönen Kinder zu entwachsen und in die Welt der Nichtarbeiter einzutreten. Er besaß einen untrüglichen Instinkt dafür, die extravagantesten, abgefahrensten, unbotmäßigsten Veranstaltungen der Kinder zu finden, die allmählich im Rückspiegel entschwanden. Hubert Etcetera Espinoza trieb sich nur mit Seth herum, weil er die eigene Kindheit ebenso wenig loslassen konnte wie die Freunde der Kindheit. Wenn Seth auf etwas bestand, ließ sich Hubert Etcetera leicht umstimmen. »Gleich geht es zur Sache«, verkündete Seth. »Kannst du uns nicht ein paar Bier holen?« Genau das wollte Hubert Etcetera auf gar keinen Fall tun. Am Bierstand drängten sich die unbekümmerten Jugendlichen, tummelten sich fröhlich und bizarr wie Tropenfische. Einer war elfenhafter und tragischer als der andere. Hubert Etcetera erinnerte sich an dieses Alter und an die Gewissheit, dass nur ein Idiot auf die Idee kommen konnte, die kaputte Welt und ihre Sachzwänge als gegeben hinzunehmen. Oft stellte er sich seinem Spiegelbild auf dem Screen im Bad, starrte sich in die Augen, die in einem Nest von Runzeln saßen, und erinnerte sich daran, dass er einmal ein Mensch gewesen war, der jede Minute damit verbracht hatte, die Legitimität der Welt zu bestreiten, in die er jetzt verstrickt war. Hubert Etcetera konnte sich nicht einreden, dieses Wissen existiere nicht. Jeder, der unter zwanzig war, konnte es auf der Stelle bemerken. »Nun mach schon, Mann, geh. Ich habe dich auf die Party mitgenommen, und das ist das Mindeste, was du tun kannst.« Hubert Etcetera schenkte sich die naheliegende Antwort, dass er sowieso nicht hatte mitkommen wollen und außerdem kein Bier mochte. Ein Streit mit Seth führte leicht in alle möglichen witzlosen Sackgassen. Der hatte sein Peter-Pan-Gesicht aufgesetzt und war bereit, laut zu lachen und bis zur völligen Erschöpfung nichts und niemand auf der Welt ernst zu nehmen, während Hubert Etcetera schon vor Beginn des Abends müde gewesen war. »Ich habe kein Geld«, erklärte Hubert Etcetera. Seth sah ihn von der Seite an. »Oh, richtig«, fuhr Hubert Etcetera fort. »Kommunistenparty, was?« Seth gab ihm zwei rote Partybecher. Die Farbe war sicher kein Zufall. Als Hubert Etcetera zu den Zapfhähnen ging – sie waren an einen Stahlträger gedengelt, der vom Boden bis zum Dachfirst reichte, mit gelben Sicherheits-Strichcodes beklebt, voller Korrosionsflecken und von den flackernden Lichtern des DJs beleuchtet –, überlegte er, welches der schönen Kinder der Barkeeper, das Faktotum oder der Kommissar war. Niemand rührte sich, um ihm zu helfen, und niemand versperrte ihm den Weg, als er sich näher heranschob. Drei Kinder hielten allerdings inne und beobachteten ihn aufmerksam. Alle drei trugen Marx-Brothers-Brillen sowie die zugehörigen großen, buschigen Bärte wie in den Vocoder-Videos und strahlten eine surreale Drohung aus. Die Bärte waren bunt gefärbt, in einem steckte noch etwas anderes – ein Modellierdraht? –, der ihn bewegte wie Tentakel. Hubert Etcetera füllte unbeholfen einen Becher, den das Mädchen hielt, während er das Bier in den zweiten laufen ließ. Das Bier war selbstleuchtend oder biolumineszent. Hubert Etcetera fragte sich besorgt, was wohl in den transgenen Jesusmikroben stecken mochte, die fähig waren, Wasser in Bier zu verwandeln. Das Mädchen beobachtete ihn durch die Brille, im flackernden Discolicht war ihr Augenausdruck nicht zu erkennen. Er trank einen Schluck. »Nicht übel.« Er rülpste, gleich darauf noch einmal. »Aber etwas viel Kohlensäure.« »Das liegt an der schnellen Reaktion. Vor einer Stunde war es noch Gullywasser. Wir haben es gefiltert, auf Raumtemperatur gebracht und die Kultur darauf losgelassen. Übrigens lebt es auch. Kippe einen Präkursor rein, und es legt los. Es überlebt sogar im Urin. Wenn du noch mehr Bier machen willst, musst du einfach etwas davon aufheben.« »Kommunistenbier?«, fragte Hubert Etcetera. Das beste Bonmot, das ihm in dieser Situation einfallen wollte. Wenn er Zeit zum Nachdenken hatte, war er besser. »Na sdorowje.« Sie stieß mit ihm an und trank aus, danach brach ein markerschütterndes Rülpsen aus ihr hervor. Sie pochte sich auf das Brustbein und ließ noch einige kleinere Rülpser folgen. Anschließend schenkte sie sich nach. »Wenn es noch in der Pisse ist«, überlegte Hubert Etcetera, »was passiert dann, wenn jemand den Präkursor in die Kanalisation kippt? Wird das ganze Abwasser dann auch zu Bier?« Voll jugendlicher Verachtung sah sie ihn an. »Das wäre dumm. Sobald es verdünnt ist, kann es den Präkursor nicht mehr verstoffwechseln. Wenn du auf dem Klo abziehst, ist es einfach nur Pisse. Die Viecher sterben nach ein oder zwei Stunden, damit sich die Latrine nicht in ein Reservoir langlebiger existenzieller Bedrohungen für die Wasserversorgung verwandelt. Es ist doch bloß Bier.« Sie rülpste. »Bier mit viel Kohlensäure.« Hubert Etcetera nippte daran. Es schmeckte ziemlich gut, überhaupt nicht nach Pisse. »Dann ist das Bier sozusagen nur geliehen, was?« »Das meiste Bier schon. Das hier ist frei. Du weißt schon: frei wie in ›kostenloses Bier‹.« Sie trank den halben Becher aus, ein Teil landete im Bart und perlte auf die zerknitterten Flüchtlingssachen hinunter. »Du bist nicht oft auf Kommunistenpartys.« Hubert Etcetera zuckte mit den Achseln. »Nein«, gab er zu. »Ich bin alt und langweilig. Vor acht Jahren haben wir so was noch nicht gemacht.« »Was hast du denn gemacht, Opa?« Es war nicht böse gemeint, aber ihre beiden Freunde – ein Mädchen von der gleichen Hautfarbe wie Seth und ein Typ mit schönen Katzenaugen – kicherten. »Wir hoffen, einen Job auf den Zeppelinen zu bekommen!« Seth schlang einen Arm um Hubert Etceteras Hals. »Ich bin übrigens Seth, und das ist Hubert Etcetera.« »Etcetera?« Das Mädchen lächelte leicht. Hubert Etcetera mochte sie. Wahrscheinlich war sie ja im Grunde ganz nett und hielt ihn nicht unbedingt für einen Deppen, nur weil er ein paar Jahre älter war und noch nichts von ihrem bevorzugten synthetischen Bier gehört hatte. Natürlich beruhte diese Einschätzung einerseits auf der Theorie, die meisten Menschen seien im Grunde gut, andererseits aber auch auf einer schrecklichen, bedrückenden Einsamkeit und ganz allgemein auf einer unspezifischen Geilheit. Hubert Etcetera war klug, was die Sache nicht immer leichter machte, und er hatte seine Psyche einigermaßen im Griff, was es ihm schwermachte, sich in die Tasche zu lügen. »Erzähle es ihr, Mann«, forderte Seth ihn auf. »Mach schon, es ist eine super Geschichte.« »So großartig ist sie gar nicht«, wehrte Hubert Etcetera ab. »Meine Eltern haben mir viele Mittelnamen gegeben. Das ist alles.« »Wie viele sind ›viele‹?« »Zwanzig«, sagte er. »Die beliebtesten zwanzig Namen laut Volkszählung von 1890.« »Dann sind es nur neunzehn«, antwortete sie sofort. »Und dazu ein richtiger Vorname.« Seth lachte, als wäre es das Witzigste, was er seit langer Zeit gehört hatte. Sogar Hubert Etcetera musste lächeln. »Die meisten Menschen begreifen das nicht. Genau genommen habe ich tatsächlich neunzehn Mittelnamen und einen Vornamen.« »Warum haben dir deine Eltern neunzehn Mittelnamen und einen Vornamen gegeben?«, fragte sie. »Bist du überhaupt sicher, dass es neunzehn Mittelnamen sind? Vielleicht hast du zehn Vornamen und zehn Mittelnamen.« »Ich glaube, man kann nicht wirklich behaupten, man hätte mehr als einen Vornamen, weil der Vorname eine Besonderheit darstellt, die den Mittelnamen fehlt. Ungeachtet natürlich der Mary Anns und Jean Marcs und so weiter, die normalerweise aber mit Bindestrichen geschrieben werden.« »Guter Einwand«, räumte sie ein. »Doch wenn Mary Ann ein Vorname ist, warum ist dann nicht Mary Ann Tanya Jessie Hastdunichtgesehn Affenkotze und so weiter auch ein Vorname?« »Meine Eltern würden dir zustimmen. Sie wollten mit den Namen eine klare Stellungnahme abgeben, nachdem Anonymous den Realnamenzwang eingeführt hatte. Sie waren beide Aktivisten, wollten eine politische Partei gründen und waren ausgesprochen sauer. Sie dachten, wenn man ›Anonymous‹ ist, kann man keinen Realnamenzwang einführen, und beschlossen, ihrem Sohn einen einzigartigen Namen zu geben, der nie in...


Doctorow, Cory
Cory Doctorow, 1971 in Toronto geboren, ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit dem Blog boingboing.net und seinem Kampf für ein faires Copyright hat er weltweite Bekanntheit erlangt. Seine »Little Brother«-Romane wurden internationale Bestseller. Cory Doctorow ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt in Los Angeles.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.