Donovan | Ein bitterkalter Nachmittag | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Donovan Ein bitterkalter Nachmittag

Roman

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-641-16803-2
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ein Nachmittag in einem Dorf irgendwo im winterlichen Europa. Ein Mann gräbt auf einem Feld ein großes Loch, ein anderer wacht über ihn. Der Schnee fällt, Soldaten marschieren vorbei, Lastwagen karren Dorfbewohner an den Waldrand. Während rings umher ein Bürgerkrieg tobt, beginnen die beiden Männer miteinander zu reden ... Der aufsehenerregende Debütroman von Gerard Donovan erzählt von Gut und Böse, von Kälte und Gewalt und von den Abgründen, die sich seit Jahrhunderten zwischen den Menschen auftun, immer wieder.

Gerard Donovan wurde 1959 in Wexford, Irland, geboren und lebt heute im Staat New York. Er studierte Philosophie, Germanistik und klassische Gitarre, veröffentlichte Gedichtbände, Shortstorys und Romane. Sein erster Roman »Ein bitterkalter Nachmittag« wurde mit dem Kerry Group Irish Fiction Award ausgezeichnet und stand auf der Longlist des Man Booker Prize. Sein Roman »Winter in Maine« war ein internationaler Bestseller.
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DER LEHRER
Als ich den Mann bemerkte, war es bereits zu spät. Er stand schon direkt über mir. Hatte mich überrumpelt, während ich grub. Er trat an den Rand der Grube und blickte in das Loch im winterlichen Feld, nicht weit vom dichten Wald und einer Mauer entfernt, die sich wie das planlose Gekritzel eines Kindes über die kalte Klinge jenes Novembertages zog. Ich ließ die Schaufel fallen, spie einen glasigen Spuckfaden auf meine Handschuhe und rieb sie in dem vergeblichen Versuch aneinander, meine Hände zu wärmen, wie ich es an manchem kühlem Frühlingsmorgen getan hatte, als ich noch Stadtbäcker war und die Tür hinter mir zuzog, während über den Dächern hinter meiner Bäckerei der Tag anbrach. Dort konnte ich in Ruhe, allein, wie ich es gewohnt war, inmitten der leeren Backöfen arbeiten, die für den Teig aus Mehl, Wasser und Öl aufgereiht waren. Damals konnte ich noch in Ruhe arbeiten, weil man mir nicht so viel Beachtung schenkte wie jetzt. Meine Hände froren an der Schaufel fest. Ich dachte, jetzt könnte nichts meine Finger wärmen, nicht mal ein Feuer. Da der Mann keine Anstalten machte, mich zu begrüßen oder mir die Hand zu schütteln, sondern bloß am Rand der Grube stand, betrachtete ich ihn aus den Augenwinkeln. Sein langer Mantel saß wie angegossen, anscheinend Tweed mit Fischgrätmuster, aber zu dünn für dieses Wetter, der Hut teuer, vermutlich Maßanfertigung. Sein Handschuh zog zwei Zigaretten aus einem Silberetui, das er geschickt aufgeklappt hatte. Das Rauchen würde ihn noch umbringen. Ich zündete ihm in seinen hohlen Händen ein Streichholz an und hielt es auch an meine Zigarette. Die Stoppeln an seinem kantigen Kinn arbeiteten, während er einen tiefen Lungenzug nahm. Durch den Rauch trafen sich unsere Blicke.  
Ich habe immer geglaubt, dass ein gutgekleideter Mensch auch gebildet ist. Das kann man in jedem Kleidergeschäft, in jeder Bibliothek sehen. Man wählt und trägt seine Kleidung auf dieselbe kluge Weise, mit der man sich ein Buch aussucht und die darin enthaltenen Wörter liest. Ein glattgebügeltes Baumwollhemd sollte den Blick auf eine gute Tweedhose lenken, so wie ein kunstvoll gebauter Satz in einen zweiten Gedanken mündet, während er noch den ersten zu Ende führt. Ich habe stets viel gelesen. Wenn man keine Freunde hat, ergibt sich das so. Anfangs tut es weh, aber von Büchern wird man nicht enttäuscht. Ich habe aus Büchern vieles gelernt. Der Mann hatte noch kein Wort gesagt, doch ihn umgab die Aura des Lernens. Gebildete Menschen können besser schweigen als die meisten anderen. Das kann ich an ihnen nicht ausstehen. Der kleine Schuljunge in mir würde sie am liebsten mit all den Wörtern, die ich kenne und benutzen kann, bis zur Besinnungslosigkeit bombardieren, bloß damit ich allein sein kann.  
Ich musterte ihn noch eine Weile, um etwas zu entdecken, das ihn verriet. Ja, jetzt, wo ich ihn richtig betrachtete, war ich mir ziemlich sicher, dass ich ihn schon mal in der Stadt gesehen hatte. Ja, sogar schon oft, doch damals hatte er besser auf sein Äußeres geachtet. Ich erkannte ihn an seiner Haltung. Inzwischen war ich ganz sicher, dass ich ihn kannte, obwohl ich sein Gesicht noch nicht zuordnen konnte. Ich paffte an meiner Zigarette. (Ich habe gelernt, in solchen Momenten zu schweigen. Soll doch der andere den ersten Schritt tun, sage ich immer. Ich habe wahrlich oft bereut, dass ich den ersten Schritt getan habe.) Schließlich deutete er mit seiner Zigarette auf das Loch und sagte: »Sind Sie damit fertig?« Ich blickte auf die Stelle vor meinen Füßen, auf die er zeigte. »Fertig womit? Mit was?« »Mit dem Loch. Sind Sie damit fertig?« Zitternd schlug er seinen Kragen hoch und zog wieder an seiner Zigarette. Ich starrte das Loch an und trat dann einen Schritt auf ihn zu. Er hatte eine gute Frage gestellt, sachlich, aber nicht zu simpel. Er betrachtete die mit Schneeflocken getüpfelte Schaufel. Noch ein bisschen näher. Ich kannte ihn. »Ich könnte wetten, dass Sie der Lehrer sind, der Geschichtslehrer«, sagte ich. »Stimmt.« Er warf mir ein kurzes Lächeln zu und zog eine Braue nach oben. »Was ist jetzt mit dem Loch?« »Das ist eine gute Frage«, erwiderte ich. »Natürlich fragen Sie das, denn Sie sind Lehrer. Wann ist man je mit einem Loch fertig?« Ich nahm die Schaufel und schlug sie gegen einen Stein, damit das Eis absplitterte. Der Lehrer verzog keine Miene. Ich hatte den Verdacht, dass er mich nicht mochte, dass er dachte, mein Benehmen entspreche nicht meinem gesellschaftlichen Stand, weil ich so mit ihm redete, statt meinem höhergestellten Mitbürger eine rasche Antwort zu geben und höflich an meine Mütze zu tippen. Doch dafür war es an diesem Tag zu kalt, und ich hatte emsig gegraben, war schneller gewesen als ein ganzer Himmel voll unerbittlichem Schnee samt einer Wolkenschar, die sich bis zum Rand meines Blickfelds erstreckte. Tut mir leid, heute keine Höflichkeiten, kommen Sie morgen wieder, dann sehen wir weiter. Er spürte meine Wut, und es tat ihm wohl leid, oder ich tat ihm leid, denn er sprach wieder ruhiger. »An so einem Tag ein Loch zu graben ist so ähnlich, als müsste man mit Erdnüssen einen Deich abdichten«, sagte er. »Es lässt sich nicht bewerkstelligen. Sie sind heute Sisyphus.« Ich stieg aus der Grube und nahm die zweite herausgeschnippte Zigarette. Er blickte ins Loch und schien es mit der kleinen Rauchfahne auszumessen, zog mit dem Finger die Seitenlinien nach, bis er zu dem Haufen schneebedecktem Lehm am Rand gelangte. Er war ein Mensch mit vielen Gedanken, auf sein Thema konzentriert. Er hatte meinen Bruder an der örtlichen Schule unterrichtet, und mein Bruder hatte mir, wenn er nach Hause kam, oft die Geschichten anvertraut, die der ziemlich nervöse Lehrer seinen Schülern erzählt hatte, um seine Theorie zu beweisen, dass Geschichte ein ewiger Kreislauf sei. Trotz der grimmigen Kälte hätte ich den Lehrer jetzt am liebsten gefragt, was Süßifurz sei, ob irgendein Zustand oder ein Ehrentitel. Es klang nicht besonders gut. Es klang nach einer Ausdünstung, einem unangenehmen Geruch wie von einer Krankheit oder Wunde. Und mir gefiel nicht, wie er mir das Wort einfach hingeworfen hatte, als müsste ich es kennen, ein kleines Rätsel mitten in einem Schneesturm. Er würde meine Antwort in eine Nadel verwandeln, mit der er mich stechen konnte. Ich nahm die Schaufel, sprang wieder in die Grube und hackte auf dem Boden nach einer klugen Antwort, die ich ihm in die Gurgel stoßen könnte. Beim Graben war ich auf Augenhöhe mit seinen Schenkeln. Er rührte sich nicht vom Fleck, während ich die Schaufel wie ein Pendel schwang.  
In einem wissenschaftlichen Buch habe ich mal gelesen, dass man, wenn man besorgt ist, besser aus den Augenwinkeln sieht als mit geradeaus gerichtetem Blick. Deshalb kann man in diesem Zustand nicht richtig lesen. Durch unzählige Hinterhalte hat der Körper gelernt, dass ein Angriff meistens von der Seite, aus dem Schutz der Bäume oder aus hohem Gras erfolgt. Wie wahr: Die Schaufel und die Spitzhacke verschwammen, während sich mein Sehvermögen in den Augenwinkeln bündelte, und ich beobachtete, wie der Rhythmus seines Atems aus seinem geöffneten Mund nach oben waberte, ein Herpesbläschen an seiner Unterlippe, beobachtete das Ganze mit erstaunlicher Klarheit.  
Er trat nach dem Schnee. »So, mein Freund. Hier sind wir, Sie und ich. Ja, wirklich. Ein schönes Loch, das Sie da gegraben haben. Ich bin sicher, die Vorsokraten könnten unser Problem mit dem Loch lösen.« Er blickte zu mir herunter und sagte: »Die Philosophen. Kennen Sie die? Die Theorien vom Aufbau des Universums?« Mein Herz pochte heftig, doch ich antwortete ihm unverzüglich. »Ich bin Bäcker. Ich baue Brote zusammen. Benutzen Sie eine Sprache, die ich verstehen kann.« Das war eine spontane Erwiderung, der Versuch, eine witzige Bemerkung zu machen. Ich platzte damit heraus, obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte. Plötzlich war ich wieder der verletzliche Schuljunge, über den die anderen spotteten oder tuschelten, und genau wie damals blaffte ich einfach zurück. Stimmt, ich hatte Angst, aber es war am besten, klug und gewitzt zu reagieren, als würde ich mich nicht fürchten. Man würde es schätzen, wenn ich nicht klein beigab. »Betrachten Sie es mal so: Ist das Loch die Vertiefung, die Sie gegraben haben, oder besteht es aus dem herausgeschaufelten Lehm und Schnee?«, fuhr der Lehrer fort. Ich schaufelte schneller, verzweifelt bemüht, gelassen zu wirken. Seine Zigarette zeichnete die rote Linie seiner Gedanken in die Luft. »Nietzsche lag natürlich richtig. Die wahre philosophische Fragestellung endete mit dem Auftreten Platons.« Ich trat mit dem Fuß aufs Schaufelblatt. »Warum?« »Weil Platon behauptete, die Antworten lägen woanders, nämlich im Himmel. Man solle dem, was man sehe, nicht trauen. Das war der Anfang der großen Lüge.« Er kicherte. »Es ist offenkundig. Und dann hat man den Himmel, der nur ein Loch in unserem Denken ist.« Er beschrieb mit den Armen einen Bogen, und ich sah seine Halsadern schwellen, während er in den schneebeladenen Himmel aufblickte. »Schauen Sie ihn sich an«, sagte er. »Lächerlich, ein Ort voller Engel, an dem ein bisschen Milch und Honig fließen. Steht es nicht so in der Bibel geschrieben? Was für ein grauenhafter Ort für das ewige Leben.« Plötzlich glaubte ich, er leide vielleicht an...


Donovan, Gerard
Gerard Donovan wurde 1959 in Wexford, Irland, geboren und lebt heute im Staat New York. Er studierte Philosophie, Germanistik und klassische Gitarre, veröffentlichte Gedichtbände, Shortstorys und Romane. Sein erster Roman »Ein bitterkalter Nachmittag« wurde mit dem Kerry Group Irish Fiction Award ausgezeichnet und stand auf der Longlist des Man Booker Prize. Sein Roman »Winter in Maine« war ein internationaler Bestseller.

Gunkel, Thomas
Thomas Gunkel übersetzt Literatur aus dem Englischen u. a. John Cheever, Stewart O'Nan, William Trevor und Richard Yates.


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