Dostojewski | Aufzeichnungen aus dem Untergrund | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 25, 320 Seiten

Reihe: Manesse Bibliothek

Dostojewski Aufzeichnungen aus dem Untergrund

Roman

E-Book, Deutsch, Band 25, 320 Seiten

Reihe: Manesse Bibliothek

ISBN: 978-3-641-27235-7
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Abrechnung eines Zukurzgekommenen - Urbild aller Wutbürger, Menschen- und Weltverächter
Ein ehemaliger Beamter sitzt verbittert in seiner Kellerwohnung am Stadtrand von St. Petersburg und klagt die Welt an. Obwohl erst in den Vierzigern, hat er seinen Dienst quittiert und lebt von einer kleinen Erbschaft mehr schlecht als recht. Was seinen Furor erregt, ist der »moderne Mensch« und die von diesem geprägte Gesellschaft. Mit hemmungsloser Offenheit berichtet er auch über seine eigenen Erfahrungen des Scheiterns, von Entfremdungen und Missverständnissen. Je weiter er sich in seine Generalabrechnung hineinsteigert, desto unerbittlicher wird er gegen sich selbst. Dostojewskis meisterliche psychologische Studie besticht durch die Suggestivkraft einer durch und durch radikalen Selbst- und Weltbeschreibung. Pünktlich zum 200. Geburtstag des Autors am 11.11.2021 erscheint dieses große kleine Werk in Neuübersetzung durch Ursula Keller.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881) war das zweite von acht Kindern einer verarmten Adelsfamilie aus Moskau. Vier Jahre Zwangsarbeit wegen revolutionärer Umtriebe prägten sein Leben ebenso wie seine Spielleidenschaft und daraus resultierende Geldsorgen. Neben neun Romanen verfasste Dostojewski ab 1846 zahlreiche Erzählungen, Novellen und Essays.
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VII Doch all dies sind goldene Träume. Oh, sagen Sie doch, wer als Erster erklärt hat, wer als Erster behauptet hat, dass der Mensch nur deshalb niederträchtig handele, weil er seine wahren Interessen nicht kenne; und dass er, wenn man ihm Bildung zukommen ließe, wenn man ihm die Augen öffnete für seine wahren, normalen Interessen, aufhörte, niederträchtig zu handeln, auf der Stelle edel und gut würde, weil er, gebildet und um seine wahren Vorteile wissend, eben im Guten seinen eigenen Vorteil sähe, weil ja der Mensch bekanntermaßen nicht vorsätzlich gegen seinen eigenen Vorteil handeln kann, folglich also, sozusagen, aus Notwendigkeit heraus Gutes tun würde? O Lamm Gottes! O reines, heiliges Unschuldslamm! Ja wann hat der Mensch, erstens, in all den Jahrtausenden, denn jemals einzig aus eigenem Vorteil gehandelt? Was tun mit den Millionen Fakten, die bezeugen, dass Menschen wissentlich, also in vollem Bewusstsein ihres wahren Vorteils, diesen hintangestellt und sich auf einen anderen Weg begeben, sich ins Risiko gestürzt und dem Zufall überlassen haben, von niemandem dazu genötigt, als hätten sie schlicht den vorgegebenen Weg nicht gehen wollen, sondern eigensinnig und stur einen anderen, schweren, ungeeigneten, den sie gleichsam trotz der Finsternis gefunden haben. Das heißt doch, dass ihnen ihr Eigensinn und ihre Sturheit tatsächlich wichtiger waren als jeglicher eigene Vorteil … Vorteil! Was ist ein Vorteil? Ja haben Sie die Stirn, absolut genau zu bestimmen, worin eben der Vorteil für den Menschen besteht? Und was, wenn sich ergibt, dass der Vorteil für einen Menschen bisweilen nicht nur darin bestehen kann, sondern buchstäblich darin bestehen muss, dass er in einem bestimmten Fall für sich das Übel und nicht den Vorteil wünscht? Und wenn dies zutrifft, wenn ein solcher Fall tatsächlich eintreten kann, dann ist die gesamte Regel nichtig. Was meinen Sie, ist ein solcher Fall möglich? Sie lachen; lachen Sie ruhig, meine Herrschaften, aber antworten Sie auch: Sind denn die menschlichen Vorteile absolut zutreffend erfasst? Existieren nicht auch solche, die nicht nur keiner Klassifikation unterzogen sind, sondern sich dieser auch nicht unterziehen lassen? Denn Sie, meine Herrschaften, leiten doch, soweit ich weiß, Ihr gesamtes Register menschlicher Vorteile aus dem statistischen Durchschnitt und den Formeln der Wirtschaftswissenschaft her. Denn Vorteil, nun, das ist für Sie Wohlergehen, Reichtum, Freiheit, Ruhe und so weiter und so weiter; somit wäre jemand, der, beispielsweise, offensichtlich und wissentlich gegen dieses Register verstieße, Ihrer und, nun, selbstverständlich auch meiner Ansicht nach ein Obskurant oder vollkommen Geisteskranker, nicht wahr? Aber Folgendes ist doch erstaunlich: Wie kommt es, dass alle Statistiker, Gelehrten und Menschenfreunde bei der Erfassung der menschlichen Vorteile stets einen Vorteil beiseitelassen? Sie bringen ihn nicht einmal in der Form, in der es ihm anstünde, in Anschlag, und dabei hängt davon doch die ganze Berechnung ab. Es wäre kein allzu großer Schaden, diesen Vorteil aufzunehmen und ihn auf die Liste zu setzen. Aber das Verhängnis besteht ja eben genau darin, dass dieser vertrackte Vorteil keiner Klassifikation unterzogen werden kann und auf keiner Liste Platz findet. Ich, beispielsweise, habe einen Freund … Ach, meine Herrschaften! Er ist ja auch ein Freund von Ihnen; ja, und wessen, wessen Freund ist er denn nicht! Wenn er Vorbereitungen trifft, zur Tat zu schreiten, wird dieser Herr Ihnen schönrednerisch und klar darlegen, wie genau er den Gesetzen der Vernunft und Wahrheit entsprechend vorzugehen hat. Damit nicht genug: Erregt und leidenschaftlich wird er Ihnen von den wahren, normalen menschlichen Interessen erzählen; mit Spott wird er die kurzsichtigen Dummköpfe bedenken, die nicht wissen, was ihnen zum Vorteil gereicht, noch die wahre Bedeutung der Tugend verstehen; und genau eine Viertelstunde später, ohne jeglichen jähen, äußeren, sondern namentlich aus einem inneren Anlass heraus, der stärker wiegt als all seine Interessen, wird er sich vollkommen wenden, das heißt offenkundig gegen das verstoßen, worüber er selbst gesprochen hat: gegen die Gesetze der Vernunft ebenso wie gegen den eigenen Vorteil, nun, mit einem Wort, gegen alles … Ich mache darauf aufmerksam, dass mein Freund Eigenschaften mehrerer Personen in sich vereinigt, und deshalb ist es irgendwie schwierig, ihm allein die Schuld zu geben. Eben das ist doch die Frage, Herrschaften, ob tatsächlich irgendetwas existiert, das fast jedem wichtiger ist als sein allergrößter Vorteil, oder (nur um nicht gegen die Logik zu verstoßen) ob es nicht einen solchen allergrößten Vorteil gibt (nämlich jenen, den man sich entgehen ließ, von dem soeben die Rede war), der wichtiger und vorteilhafter als alle anderen Vorteile ist und für den ein jeder, falls notwendig, bereit ist, gegen alle Gesetze zu handeln, das heißt gegen den Verstand, die Ehre, die Ruhe, das Wohlergehen – mit einem Wort gegen all diese schönen und nützlichen Dinge, einzig um den originären, den vorteilhaftesten Vorteil zu erlangen, der ihm wichtiger als alles andere ist. «Nun, also doch wieder der Vorteil», unterbrechen Sie mich. – Gestatten Sie, aber wir werden uns dazu noch erklären, es geht ja nicht um den Calembour, sondern darum, dass dieser Vorteil eben gerade deshalb bemerkenswert ist, weil er all unsere Klassifikationen zerstört und alle Systeme, die von den Menschenfreunden zum Wohle des Menschengeschlechts aufgestellt wurden, beständig zugrunde richtet. Mit einem Wort, allem entgegensteht. Doch bevor ich Ihnen diesen Vorteil nenne, möchte ich mich persönlich kompromittieren und erkläre deshalb frech, dass all diese wundervollen Systeme, all die Theorien, die der Menschheit darlegen, ihre wahren, normalen Interessen bestünden darin, dass sie, unbedingt danach strebend, diese Interessen umzusetzen, sogleich edel und gut würde, nach meinem Dafürhalten vorerst einzig Sophistik ist! Ja, mit Verlaub, Sophistik! Denn eine Theorie wie die der Erneuerung des gesamten Menschengeschlechts mittels eines Systems ihrer eigenen Vorteile anzuerkennen, ist doch, meine ich, fast dasselbe … nun, wie beispielsweise Buckles Hypothese anzuerkennen10, dass der Mensch durch die Zivilisation weichmütiger, mithin weniger blutrünstig und weniger fähig zu kriegerischer Auseinandersetzung würde. Seiner Logik zufolge ist es, glaube ich, so. Doch der Mensch ist derart eingenommen von Systemen und abstrakten Schlussfolgerungen, dass er bedenkenlos die Wahrheit verdreht, bedenkenlos offenen Auges nicht sehen und offenen Ohres nicht hören will, einzig um seine Logik zu rechtfertigen. Ich führe dieses Beispiel an, weil es ein überaus einleuchtendes Beispiel ist. Ja, sehen Sie sich doch nur um: Blut fließt in Strömen und so heiter dahin, als sei es Champagner. Nehmen Sie doch nur unser neunzehntes Jahrhundert, in dem auch Buckle lebte. Nehmen Sie doch nur Napoleon – den Großen ebenso wie den unserer Zeit11. Nehmen Sie Nordamerika – die unauflösliche Union12. Und nehmen Sie, zu guter Letzt, die Karikatur Schleswig–Holstein13 … Und was ist es also, das die Zivilisation an uns weichmütig macht? Die Zivilisation befördert im Menschen lediglich die Vielseitigkeit der Empfindungen und … ansonsten zweifellos nichts. Und durch die Entwicklung dieser Vielseitigkeit gelangt der Mensch womöglich noch dahin, dass ihm Blut Vergnügen bereitet. Das ist ihm ja bereits geschehen. Haben Sie denn nicht bemerkt, dass es fast ausnahmslos überaus zivilisierte Herren waren, die auf feinsinnige Weise das Blut der anderen vergossen haben, verglichen mit denen ein Attila und ein Stenka Rasin14 reine Waisenknaben waren, und wenn sie nicht so deutlich ins Auge fallen wie ein Attila oder ein Stenka Rasin, dann eben aus dem Grund, dass sie allzu häufig vorkommen, allzu gewöhnlich sind, allzu vertraut. Jedenfalls ist der Mensch durch die Zivilisation wenn schon nicht blutrünstiger, so wohl doch auf niederträchtigere und widerwärtigere Weise blutrünstig geworden, als er es zuvor war. Früher sah er im Blutvergießen Gerechtigkeit und vernichtete ruhigen Gewissens all jene, die es zu vernichten galt; aber auch wenn wir es heute für verwerflich halten, Blut zu vergießen, tun wir es doch, und zwar mehr und widerwärtiger als zuvor. Was ist schlimmer? Entscheiden Sie selbst. Es heißt, Kleopatra15 (verzeihen Sie dieses Beispiel aus der römischen Geschichte) habe gern mit goldenen Nadeln in die Brüste ihrer Sklavinnen gestochen und sich daran ergötzt, wie diese schrien und sich wanden. Sie entgegnen, dass dies sich in, relativ gesehen, barbarischen Zeiten zugetragen habe; dass auch die heutigen Zeiten barbarisch sind, weil (ebenfalls relativ gesehen) auch heute mit Nadeln gestochen werde; dass auch heute der Mensch, mag er zwar gelernt haben, bisweilen klarer zu sehen als in den barbarischen Zeiten, noch lange nicht darin geübt ist, so zu handeln, wie Verstand und Wissenschaften es ihm aufzeigen. Und gleichwohl sind Sie vollkommen überzeugt davon, dass er es zweifellos erlernen wird, sobald bestimmte, schlechte Gewohnheiten abgelegt sind und sobald der gesunde Menschenverstand und die Wissenschaft die Natur des Menschen vollständig umerzogen und in eine Norm gelenkt haben. Sie sind überzeugt, dass der Mensch dann von selbst aufhört, aus freiem Willen zu fehlen und nicht mehr, sozusagen ohne es zu wollen, den Wunsch verspürt, sein Wollen nicht mit seinen normalen Interessen in Einklang zu bringen. Und mehr noch: Dann, sagen Sie, wird die Wissenschaft selbst den Menschen lehren (und sei dies auch...


Dostojewski, Fjodor M.
Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881) war das zweite von acht Kindern einer verarmten Adelsfamilie aus Moskau. Vier Jahre Zwangsarbeit wegen revolutionärer Umtriebe prägten sein Leben ebenso wie seine Spielleidenschaft und daraus resultierende Geldsorgen. Neben neun Romanen verfasste Dostojewski ab 1846 zahlreiche Erzählungen, Novellen und Essays.


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