Dotschanaschwili | Das erste Gewand | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 696 Seiten

Dotschanaschwili Das erste Gewand

Roman

E-Book, Deutsch, 696 Seiten

ISBN: 978-3-446-26125-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ein Fremder kommt in Domenicos Dorf und weckt in dem jungen Mann den Wunsch, die Welt kennenzulernen. Zuerst kommt er nach Feinstadt, ein Ort der guten Sitten; doch ist wirklich „alles in Oo-ordnung", wie der Nachtwächter ruft? Als Domenico seine große Liebe auf tragische Weise verliert, will er fort, nach Kamora. Dort regieren Willkür und Verbrechen – bis eine Gruppe Hirten aufbegehrt. Sie errichten Canudos, eine Stadt der Freiheit. Doch der Kampf gegen Kamora steht ihnen bevor.
Das meistgelesene Buch in Georgien und – zur Zeit sowjetischer Herrschaft geschrieben – eine aufrüttelnde Parabel über das menschliche Dasein in Zeiten gesellschaftlicher und politischer Tyrannei. "Eine wunderschöne Fabel über die Liebe und die Freundschaft, über das Leben und die Identität, und allem voran eine Einladung zu einem Fest der Phantasie." Nino Haratischwili
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1   DER FLÜCHTLING IST DA
  Es war noch dunkel, nur dort hinten, am Rand der Welt, schien es, als würde der Himmel licht. Gerade hatte es aufgehört zu regnen, lautlos glitten die Tropfen von Blatt zu Blatt, und der durchnässte, zitternde Flüchtling lauschte angestrengt auf ihr kraftloses Fallen. Jegliches Geräusch war zu ertragen, solange nur keine Hufe klapperten. Unablässig wähnte er die Verfolger in der Nähe, und mit letzter Kraft klammerte er sich an die nassen Äste. Eben noch hätte niemand ihn bemerken können, aber jetzt, in der Morgendämmerung, wo es erst recht kalt wurde und er in seiner Not nicht mehr stillhalten konnte, war seine schwärzliche, unruhige Silhouette in der fadenscheinigen Dunkelheit deutlich zu erkennen. Wie gerne hätte er geschlafen, er konnte seinen Kopf kaum noch halten. Immerhin saß er, nach dem langen Aufstieg ruhten seine müden, geschundenen Füße. Hier oben auf dem Baum würden auch die Hunde nicht an ihn herankommen – und Gebell hörte er bisher ja auch keins. Da schöpfte er neuen Mut, und gleichzeitig verspürte er Hunger. Er griff mit steifen Fingern in die Brusttasche und holte einen Kanten Brot heraus. Ohne Hast kaute er – er wollte eine Weile dran haben, aber der Kanten war zu klein und zu schnell aufgegessen. Jetzt bekam er erst recht Hunger, er spähte nach dem Dorf, dort musste er etwas zu essen auftreiben. Die Häuser traten schon ein wenig aus den Schatten, er schaute sich noch einmal um, und es fröstelte ihn, nicht vor dem Verfolger, vor etwas ganz anderem bangte ihm jetzt – wie wunderlich der Morgen doch dämmerte! Hatte er je so scharf umrissene Blätter gesehen oder Zaunpfähle, die so spitz in die Morgendämmerung stachen? Wie die Bäume aus weiter Ferne näher rückten, wie die Felsbrocken unaufhaltsam aus der Erde wuchsen, und ob er jemals so einen bedrohlichen Windhauch gespürt hatte, der scheinbar mit der Morgendämmerung kam und die blassen Schatten am Boden tanzen ließ, wie eigentümlich und beunruhigend das alles war! Er hielt es nicht länger aus, sprang vom Baum herab, lief bis zum ersten Haus. Am Tor blieb er stehen, hob den Kopf und sog mit bebenden Nasenflügeln prüfend die Luft ein. Er trat in den Hof, schlich am Pferdestall vorbei. Dann schlüpfte er in ein kleines Steinhäuschen. Hier war es merkwürdig dumpf, sodass ihm schwindlig wurde. Er setzte sich auf den Boden, atmete tief durch und schaute ringsumher – kalt war es hier nicht, aber fremdartig finster, man hatte dunkle Scheiben in die Fensteröffnungen eingesetzt. Immer wenn ihn die Angst packte, verspürte er unterhalb des Ellenbogens und zwischen den Rippen eisige Nadelstiche, so auch jetzt, ihm war, als atme da jemand im Dunkeln. War er selber das? Doch als er erschöpft seufzte und einen Augenblick die Luft anhielt, hörte er das Atmen wieder. Die Angst übermannte ihn, er wischte sich über die Augen und stieß hervor: »Wer ist da?« »Ich, ich bin es nur.« Die Stimme klang friedfertig, besänftigend; trotzdem rutschte er zurück, bis er die Wand hinter sich spürte. Er drückte seinen Rücken dagegen, als wollte er sie zum Einstürzen bringen; und auch wenn er das nicht schaffte, sammelte er ein bisschen Kraft; zum Aufstehen reichte es nicht, aber doch, um sich ein Herz zu fassen und zu fragen: »Wer, ›ich‹?« »Der Hausherr.« »Ja, aber – was tun Sie hier?« »Das fragst du mich?« Der Flüchtling schämte sich so, dass er darüber fast seine Angst vergaß. Der Mann sprach ruhig, friedlich, und dem Zufluchtssuchenden stiegen die Tränen in die Augen: »Ich …«, der Flüchtling legte sich die Hand auf die Brust, »es war nicht richtig von mir, einfach hier reinzukommen, aber …« »Das macht nichts. Bestimmt war dir kalt.« »Ja, wissen Sie, mir war sehr kalt, und …« »Ich weiß, ich glaube dir.« »Wissen Sie … eigentlich … also ich bin kein …« »Ist gut«, beschwichtigte ihn der Mann, »ist schon gut.« Der Zufluchtssuchende spürte die Freude durch seine Adern rauschen, ihn schwindelte und der Kopf sank ihm auf die Brust. Eine Zeit lang lehnte er, die Augen geschlossen, an der Wand. Aber sofort ergriff ihn erneut Unruhe – eines, eines wollte er unbedingt noch hören, erst dann würde er wirklich aufatmen können. Auf den Knien rutschte er über den Steinboden auf die Stimme zu, und ein lautes Knirschen wie von Kieselsteinen schlug verloren gegen die Wände. Und dann war es still, der Flüchtling legte dem Mann eine Hand aufs Knie, schaute zu ihm auf und sagte, fast flehend: »Muss ich keine Angst haben?« Der Mann blickte gedankenvoll zu ihm herunter, schließlich legte er ihm die Hand auf den Kopf und sagte: »Nein. Hab keine Angst.« Und da sank der Flüchtling in sich zusammen, seine Finger kratzten über den Boden. Seine Hände begannen zu zittern, und seine Schultern und sein Rücken bebten. Er kämpfte mit den Tränen, rieb seine Stirn am Boden und drückte seine Wange darauf, jeder Muskel spannte sich, er schluchzte erlöst. Der Mann wartete geduldig, bis der Flüchtling sich beruhigt hatte. Er drehte sich zur Wand und zündete eine Kerze an. Als er sich wieder umwandte, blickte der Flüchtling blinzelnd, das Gesicht erdverschmiert, ins Kerzenlicht. »Ich bin gleich wieder da«, sagte der Mann, »bestimmt bist du hungrig.« »Ja, ich habe großen Hunger.« Der Flüchtling nickte, ohne den Blick abzuwenden. Bis der Mann zurück war, hielt der Flüchtling seine verfrorenen Finger vor die Kerze und wunderte sich – unglaublich durchsichtige Finger von schöner Farbe sah er, dann näherte er auch seine Wange und seine Stirn der Flamme. Ihm wurde wärmer, und er räkelte sich wohlig, setzte sich an die Wand, ließ seine Nackenknochen knacken. Er bemerkte die Rückkehr des Mannes kaum, und als er seine Stimme hörte, zuckte er zusammen. »Hier, nimm das.« »Was … was ist das?« »Brot und Wein.« »Ah…«, der Flüchtling griff nach dem Brot. »Oh, das ist ja noch warm«, sagte er sehnlich und schaute noch mal zu dem Mann. »Nimm, das ist für dich.« Eine Zeit lang kaute der Flüchtling begierig, dann langte er nach dem Krug: »Darf ich?« »Ja, trink nur.« »Auf Sie«, wieder stiegen dem Flüchtling die Tränen in die Augen, »auf Sie, so einem Menschen wie Ihnen bin ich noch nie begegnet.« »Auch auf dich, komm, trink doch.« »Auf all die Menschen, die Ihnen lieb sind«, dankbar sah er ihn an. »Haben Sie Kinder?« »Ja, habe ich.« »Wie viele?« »Zwei.« »Jungen oder Mädchen?« »Jungen.« »Auf die auch«, sagte der Flüchtling und setzte die Schale an die Lippen. »Was für ein guter Wein. Wie heißen sie?« »Domenico und Gwegwe.« »Was für seltsame Namen«, wunderte sich der Flüchtling, »Domenico und …« »Gwegwe.« »Merkwürdig«, der Flüchtling dachte kurz nach und wiederholte leise: »Domenico … und Gwegwe. Domenico und …«     GWEGWE
  »Dreh ihn bloß nicht zu lange«, sagte der erste Knecht, Bibo. »So hat er ihn lieber.« »Aber ein bisschen knusprig muss er doch wenigstens werden.« »Wenn ich’s dir sage, es reicht, hör jetzt auf zu drehen.« »Wie Sie wünschen.« Der Hinkende rüttelte am Spieß mit dem Hasen. Vom Dach fiel ein dünner Lichtstrahl herein und ließ die Staubkörnchen glitzern. Auf diese Lichtsäule hinkte er zu und hielt den auseinandergespreizten Hasen hinein: »Das soll reichen?« »Bist du taub, oder was?«, brüllte Bibo. »Jetzt leg ihn auf den Tisch und verschwinde.« »Ja, ja, sofort«, sagte der Hinkende erschrocken, »sonst noch was?« »Nein, geh und stell dich an die Tür. Die Wassermelone hast du ja gekühlt.« »Ja, natürlich.« »Dann los, los, geh schon!« Der Hinkende wollte eben nach der Türklinke greifen, als ein heftiger Schmerz ihn im Gesicht traf, es war Gwegwe, der ihm im Hereinkommen die Tür gegen die Nase geknallt hatte. Der Hinkende schlug sich beide Hände vors Gesicht und ging in die Knie, die Augen tränten ihm vor Schmerz, Blut rann ihm aus der Nase, und erschrocken starrte er auf die dunklen Kügelchen, die über den Boden rollten, dann legte er den Kopf in den Nacken, um das Blut zu stoppen. »Hab ich einen Hunger«, sagte Gwegwe. »Hier, bedienen Sie sich.« Bibo deutete zum Tisch. »Ich geh dann, wenn ich darf«, bat der Hinkende, den Kopf nach hinten gelegt. »Wo willst du denn hin?«, schnarrte Gwegwe. »Mir das Gesicht waschen.« »Ach, jetzt geht der sich das Gesicht waschen.« Und plötzlich explodierte er: »Was musst du dich jetzt waschen, verflucht sei dein alter Herr!« Der Hinkende blickte Gwegwe geradewegs in die Augen, das Blut tropfte ihm aufs Hemd; geraume Zeit blickte er ihn an, und als er sprach, hatte seine Stimme einen frostigen Klang: »Mein alter Herr ist Ihr Vater.« Bibo duckte sich, er dachte, jetzt bekäme der Hinkende den Tisch an den Schädel, aber Gwegwe war selbst erschrocken: »Nein, nein, ich hab das so dahingesagt, nur so, hörst du?« Der Hinkende blickte zur Decke. »Ist mir rausgerutscht, aus Versehen. Das sagst du niemandem, oder?« »Nein, wem sollte ich das schon sagen.« »Gut, dann geh, wasch dir das Gesicht, tut’s sehr weh?« »Nein.« »Geh jetzt, aber du sagst das niemandem, verstanden?« »Nein.« »Warte! Du kriegst ein Stück Fleisch.« »Nein, danke, ist ja noch roh«, der Hinkende ließ es jetzt drauf ankommen. »Was, roh?«, wunderte sich Gwegwe und blickte böse zu Bibo hinüber....


Dotschanaschwili, Guram
Guram Dotschanaschwili, 1939 in Tbilissi geboren, studierte Geschichte und Archäologie. Bereits 1966 begann er mit der Arbeit an seinem ersten Roman Das erste Gewand (Hanser, 2018), den er 1978 beendete. Bei einer Umfrage im Rahmen der Sendung "Chemi zigni" (Mein Buch), bei der – nach dem Vorbild von BBC Big Read – nach dem Lieblingsbuch der Georgier gefragt wurde, kam der Roman mit großem Abstand auf den ersten Platz. 1985 erhielt Dotschanaschwili den Staatspreis für das literarische Gesamtwerk und 2010 den renommiertesten georgischen Literaturpreis, den SABA-Preis.


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