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E-Book, Deutsch, Band 70, 551 Seiten

Reihe: Geschichte und Geschlechter

Dubout Der Richter und sein Tagebuch

Eugen Wilhelm als Elsässer und homosexueller Aktivist im deutschen Kaiserreich

E-Book, Deutsch, Band 70, 551 Seiten

Reihe: Geschichte und Geschlechter

ISBN: 978-3-593-43873-3
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der Straßburger Jurist Eugen Wilhelm (1866 - 1951) war ein wichtiger Protagonist der ersten deutschen Homosexuellenbewegung, an deren Bestrebungen er sich - oft unter dem Pseudonym Numa Praetorius - beteiligte. Sein Tagebuch gewährt einen umfassenden Einblick in die Selbstwahrnehmung und subkulturelle Lebenswelt eines gleichgeschlechtlich begehrenden Mannes und frankophilen Elsässers im deutschen Kaiserreich um 1900. Anhand des hier erstmals ausgewerteten Selbstzeugnisses legt die Studie die erste systematische Untersuchung von Wilhelms Leben und Wirken vor.
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Inhalt
Einleitung 11
1. Erkenntnisinteresse, Fragestellung und Ziele 11
2. Theoretische Grundlagen und methodische Ansätze 20
2.1 Ein biographischer Zugang 20
2.2 Historizität und mehrfache Relationalität von Identitäts-konzepten auf gleichgeschlechtlicher Grundlage 23
2.3 Ansätze der Selbstzeugnisforschung 29
2.4 Intellektuellengeschichtliche Ansätze 33
3. Forschungsstand 36
4. Quellenlage 42
5. Aufbau der Arbeit 45
I. Die Herausbildung eines spannungsreichen Selbstentwurfs
(1885-1891) 46
1. Das ›Urning-Werden‹ als Aneignungsprozess 47
1.1 Voraussetzungen einer gründlichen Rezeption der Sexualpathologie 49
1.2 Die "Entdeckung" einer "Doppelnatur": die Auseinandersetzung mit dem medizinischen Diskurs 61
2. "Eine allumfassende Disharmonie"? Ein differenzierter
Umgang mit Mehrfachzugehörigkeiten 82
2.1 Der Straßburger Student zwischen Deutschland und Frankreich 82
2.2 Der Bürger und seine Ideale 95
2.3 Frühe Elemente einer gleichgeschlechtlichen
Lebensgestaltung 111
3. Ein Ringen um männliche Ordnung 125
3.1 Strukturierende Effekte der Tagebuchführung 127
3.2 Der inneren Unordnung Herr werden 135
3.3 Eine elitär-aufklärerische Grundhaltung 140
3.4 Anonym agieren 147
4. Resümee 154
II. Eine prekäre Selbstvergewisserung (1891-1898) 158
1. Das "Urningtum" als kollektive Erscheinung 160
1.1 Wilhelms Sozialisation im "Straßburger Urningtum" 162
1.2 Identitätsstiftende Reisen: eine urnische Internationale 177
1.3 Der Umgang mit "Tanten": Charakterstudien
als männliche Selbst-Verortung 189
2. Karriere machen? 207
2.1 Die juristische Laufbahn in den 1890er Jahren:
ein unsicherer Status 208
2.2 Im deutschen Justizdienst: ein Elsässer zwischen
Abgrenzung und Abfindung 214
2.3 Die Beschäftigung mit Paragraph 175
aus unmittelbarer Nähe 221
3. Die Suche nach geeigneten Aktionsformen 224
3.1 Wilhelm als "Intellektueller" 225
3.2 Aufklären, vernetzen, entgegnen: zur unmittelbaren Vorgeschichte des WhK 227
3.3 Ein frühes Interesse an Kriminologie und
Strafrechtsreform 245
4. Resümee 249
III. Numa Praetorius im WhK: eine tragende Rolle
zwischen Hoffnung und Misstrauen (1898-1908) 252
1. Das frühe WhK von der Gründung bis zum ersten Jahrbuch:
ein fragmentarisches Bild 255
1.1 Erste Kontakte mit einer im Entstehen
begriffenen Bewegung 255
1.2 Erste Projekte 266
2. Die "Blütezeit" (1900-1906) 272
2.1 Eine vorsichtige Alltagsgestaltung 274
2.2 Die Mitgestaltung der Strategie des WhK 290
2.3 Der juristische Fachmann des Komitees 300
3. Das Komitee in der Krise (1906-1908) 307
3.1 Die innere Krise 308
3.2 Die "Skandalprozesse" 315
3.3 Ein "bekannter Päderast": Wilhelms Enttarnung 319
4. Funktionen und Strategien der "Bibliographie
der Homosexualität" 325
4.1 Ein wissenschaftliches Forum 326
4.2 Legitimierungsarbeit: Definition und
Beanspruchung von Expertise 331
4.3 Der normative Entwurf eines ›normalen‹
Homosexuellen 345
5. Resümee 358
IV. Produktive Spannungen: der Höhepunkt eines vielfältigen Engagements (1908-1918) 362
1. Widersprüchliche Mehrfachzugehörigkeiten 364
1.1 Ein Neuanfang? Wilhelms Selbstentwurf und Lebensgestaltung (1908-1914) 365
1.2 Auswirkungen des Ersten Weltkrieges 380
2. Hinwendung zu Sexualwissenschaft und Eugenik 395
2.1 Verortung Wilhelms in der frühen Sexualwissenschaft 396
2.2 "Sittlichkeitsdelikte" im Kontext der Strafrechtsreform 406
2.3 Die juristische Unterstützung sexualwissenschaftlicher Forschung und Praxis 411
2.4 Ein ausgesprochener Eugeniker 418
3. Facettenreiche Erschließung der Homosexualität 431
3.1 Ein immer schwierigeres Verhältnis zum WhK 432
3.2 Zwischen Verständigung und Polarisierung:
Homosexualität als deutsch-französisches Streitthema 444
3.3 Das "Liebesleben" historischer Persönlichkeiten 459
3.4 Ethnographische Pionierarbeiten 466
4. Resümee 474
Schluss und Ausblick 478
Abkürzungen 491
Quellen und Literatur 492
1. Archivalische Quellen 492
2. Verzeichnis der Tagebuchhefte Eugen Wilhelms 495
3. Gedruckte Quellen 497
3.1 Publikationsverzeichnis Eugen Wilhelms 497
3.2 Sonstige gedruckte Quellen (bis 1945) 518
3.3 Zeitschriften, Periodika, Adressbücher 521
4. Literatur (nach 1945) 523
Dank 550


Einleitung
1. Erkenntnisinteresse, Fragestellung und Ziele
"Am Abend geht es mir schlecht. Selbst auf die Homosexualität habe ich keine Lust mehr. Auch das ist vorbei". Mit dieser lakonischen Feststellung von Lustlosigkeit und Lebensüberdruss brach der deutsch-französische Jurist und Sexualwissenschaftler Eugen Wilhelm aus Straßburg (1866-1951) im März 1951 seine Tagebuchführung ab. Er setzte damit einer lebenslangen Schreibpraxis, die 1885 begonnen und auf etwa 8.000 handschriftlichen Seiten beinahe ununterbrochen 66 Jahre lang bis kurz vor seinem Tod fortgeführt wurde, ein Ende. Ein letztes Mal brachte Wilhelm in diesem mit zitternder Hand verfassten Eintrag den engen Zusammenhang zwischen ›Homosexualität‹ als sinnstiftende Kategorie der Selbstdefinition und der Praxis des diaristischen Schreibens zum Ausdruck. Beide bedingten und unterstützten sich gegenseitig: Als sogar die ›Homosexualität‹ nicht mehr imstande war, die Selbstdefinition mitzutragen und das eigene Leben berichtenswert zu machen, hörte der Schreibprozess auf, verstummte der Diarist endgültig. Dies verdeutlicht die biographische Gestaltungskraft sowohl der Tagebuchführung als auch des Konzepts der ›Homosexualität‹ bei Wilhelm.
Schon allein aufgrund seines gewaltigen Umfangs und des in politischer sowie sozial- und kulturhistorischer Hinsicht äußerst bewegten Zeitraums seiner Verfassung stellt Eugen Wilhelms Tagebuch, das 2009 von dem französischen Soziologen Régis Schlagdenhauffen in Zusammenarbeit mit der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (Berlin) entdeckt wurde, ein für historische Untersuchungen äußerst ergiebiges Zeitdokument dar. Dass ein derart umfassendes, kontinuierlich geführtes Tagebuch überliefert ist, darf als Glücksfall gelten. Denn während der nationalsozialistischen Besatzung des Elsass wurde Wilhelm am 17. Oktober 1940 als Homosexueller verhaftet und elf Tage später im elsässischen Sicherungslager Schirmeck-Vorbrück interniert. Am 30. Oktober 1940 wurde er aus gesundheitlichen Gründen entlassen und überlebte schließlich die Besatzungszeit. Dabei wurde sein Tagebuch entgegen der üblichen Verfolgungspraxis, persönliche Aufzeichnungen Verhafteter für weitere Fahndungszwecke zu beschlagnahmen, nicht konfisziert. Das Selbstzeugnis überstand auch die Bombardements der Alliierten auf Straßburg in der späteren Phase des Zweiten Weltkriegs. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass der Verfasser selbst sein Tagebuch nicht vernichtete, wie es sonst nicht unüblich ist, sondern eine Überlieferung und spätere Erschließung offenbar nicht ablehnte, ja - allem Anschein nach erst ermöglichte. Dies deutet bereits auf eine der möglichen Schreibabsichten des Diaristen hin: Mit seinen Tagebuchaufzeichnungen schrieb Wilhelm nicht nur für sich selbst, sondern legte einer wie auch immer gearteten Nachwelt eine umfangreiche Selbstdarstellung vor. Entgegen der beim Lesen von Tagebüchern leicht zu erliegenden Illusion der Transparenz und Unmittelbarkeit erscheint deshalb eine besondere methodische Vorsicht bei der Tagebuchauswertung angeraten.
Zwar in sehr unterschiedlichen Zeitabständen und mit unterschiedlicher Ausführlichkeit, dennoch sein Leben lang hielt Wilhelm Eindrücke, Überlegungen, Erlebnisse akribisch fest, die im Zusammenhang mit sei-nem gleichgeschlechtlichen Begehren und Leben standen. Er berichtete über zahlreiche Reisen quer durch ganz Europa und darüber hinaus, über Freundschaften, sexuelle Kontakte, Liebesbeziehungen, Abenteuer und Subkulturen, reflektierte Fragen der Zugehörigkeit und der Identität, machte sein Tagebuch überhaupt zum Medium einer intensiven Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Wissen über Sexualität im Allgemeinen und über Homosexualität im Besonderen. Denn die Tagebuchführung verlief zeitlich parallel zu und in engem Dialog mit einer "diskursive[n] Explosion" um Sexualität, genauer gesagt einer "Politisierung und Medizinierung des Sexuellen" im 19. und frühen 20. Jahrhundert, an der die Sexualpathologie, die Sexualwissenschaft, sexualreformerisch orientierte Bewegungen, aber auch die Politik, die Justiz und eine breitere Öffentlichkeit beteiligt waren. Wilhelms diaristische Aufzeichnungen setzten 1885 ein - ein Jahr vor dem Erscheinen der Psychopathia sexualis des deutsch-österreichischen Psychiaters Richard von Krafft-Ebing (1840-1902), das sich zum einflussreichen Standardwerk der damaligen Sexualpathologie entwickelte und eine Schlüsselrolle in der Artikulierung einer ›modernen‹ homo-sexuellen Identität spielte. Die Tagebuchführung setzte sich fort, als Homosexuellenorganisationen gegründet wurden, als sich eine sexualwissenschaftliche Disziplin allmählich etablierte, und als diverse Skandale und Affären, allen voran der Eulenburg-Skandal (1907-1909), zur Popularisierung sexualwissenschaftlichen Wissens und entsprechender Identitätskonzepte beitrugen. Mit dem vorliegenden Quellenbestand eröffnen sich deshalb vielversprechende Perspektiven für die Geschichte der Homosexualitäten, namentlich unter dem Gesichtspunkt einer Alltagsgeschichte und einer Geschichte der Selbstwahrnehmung gleichgeschlechtlich begehrender Männer.
Das Tagebuch lässt sich weder in die Gattung der polizeilichen oder gerichtlichen "Verfolgungsdokumente" einordnen noch ist es auf eine unmittelbare oder mittelbare medizinische Veranlassung verfasst worden. Die Schreibsituation des Diaristen Wilhelm unterschied sich daher von der der Patient_innen, die Psychiatern ihre Lebensgeschichten zur Verfügung stellten, oder von derjenigen der festgenommenen Personen, die in Verhörsituationen biographische Bekenntnisse abfassten: Sie erfolgte ohne direkte Aufforderung von außen und ohne die Intention einer Verwertung in einem anderen Zusammenhang, etwa als Fallgeschichte oder Grundlage für ein Gutachten. Aufgrund dieser besonderen Schreibsituation kann am Beispiel Eugen Wilhelms rekonstruiert werden, wie sexuelle Identitätskonzepte im Wechselspiel von sexualwissenschaftlichen Diskursvorlagen, alltäglichen Interaktionen und eigensinniger Aneignung in einem Selbstzeugnis artikuliert wurden.
Wilhelms Subjektivierungsprozess gestaltete sich äußerst vielschichtig und spannungsreich. Hierzu trugen die politischen, rechtlichen, soziokulturellen und nationalen Rahmenbedingungen im Elsass in dem hier untersuchten Zeitraum des Kaiserreichs erheblich bei. Nachdem das Elsass und Teile Lothringens 1871 an das gerade erst gegründete Deutsche Reich angegliedert worden waren, stellte die Grenzregion einen der "Krisenherde des Kaiserreichs", eine dauerhafte Streitfrage in den deutsch-französischen Beziehungen und ein während des Ersten Weltkriegs tatsächlich umkämpftes Gebiet dar. Um die Integration der Bevölkerung des ›Reichslands Elsass-Lothringen‹ in das Deutsche Reich wurde stets gerungen, die nationale und politische Loyalität der Elsass-Lothringer jedoch oft infrage gestellt. Der Alltag im Reichsland zeichnete sich durch Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten aus - im Spannungsfeld von Annäherung und Misstrauen, Emigration nach Frankreich und Einwanderung aus ›Altdeutschland‹, gegenseitiger Abgrenzung und pragmatischem Miteinander ›altelsässischer‹ und ›altdeutscher‹ Bevölkerungsgruppen, Germanisierungspolitik und Bemühungen um verfassungsrechtliche Gleichstellung, Auto-nomiebestrebungen und frankophilem Widerstand durch einen Teil des einheimischen Bürgertums. Im Rahmen einer um 1900 entstandenen elsässischen Kulturbewegung wurden auf der Grundlage konkurrierender deutsch-französischer Zugehörigkeiten erstmals Konzepte eines spezifischen ›Elsässisch-Seins‹ entworfen.
Sexuelle und nationale Identitätskonzepte sind vielfach miteinander verflochten. Im 19. Jahrhundert spielten normative Vorstellungen von bürgerlicher Sexualität eine tragende Rolle im Prozess der Nationenbildung, im Nationalismus und Kolonialismus; umgekehrt wirkten Nationen-konzepte auf individuelle wie kollektive sexuelle Selbst- und Fremdbilder, auf die Herstellung von sexuellen "Anti-Typen" zurück. Um 1900 wurde der Homosexualität zunehmend ein schädlicher Einfluss auf das nationale Kollektiv zugeschrieben: Sie wurde als eine der Nation fremde, von außen ›eingeschleppte‹, staatsgefährdende Erscheinung gedeutet oder fungierte als Erklärung für eine vermeintlich zu weiche, auf Aussöhnung abzielende Außenpolitik. Aus heutiger Sicht fällt dennoch auf, dass Deutschland um 1900 einen fruchtbaren Boden für die Entstehung einer Wissenschaft der Sexualität, für die frühe Formulierung von Identitätskonzepten auf gleichgeschlechtlicher Grundlage und für die Gründung von Homosexuellenbewegungen bildete, weshalb manche Historiker wie Robert Beachy das historische Konstrukt der Homosexualität pointiert als eine "deutsche Erfindung" bezeichnen. So drängt sich nicht nur die Frage nach der Herausbildung von nationalen Identitätskonzepten im Spannungsfeld von deutsch-französischen Rivalitäten und elsässischer Selbst-Verortung bei Wilhelm auf, sondern auch die intersektional ausgerichtete Frage, in welcher Beziehung nationale und homosexuelle Selbstentwürfe bei ihm standen.
Zeitgenössische Konstruktionen von Sexualität überhaupt und von Homosexualität insbesondere waren mit weiteren Strukturkategorien eng verzahnt. Dies trifft in besonderem Maß auf die Kategorie Geschlecht zu. Keiner der damaligen Erklärungs- und Deutungsversuche der Homosexualität - sei es die auf Gleichberechtigung abhebende Figur des "Urnings" des Vorkämpfers Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895), die "konträre Sexualempfindung" der Psychiater, die "Zwischenstufen" des Arztes und Homosexuellenaktivisten Magnus Hirschfeld (1868-1935), der "Männerheld" des Männerbundtheoretikers Hans Blüher (1888-1955) oder verwandte maskulinistische Konstruktionen - kam umhin, gleichgeschlechtliches Begehren und Verhalten in Beziehung zu Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepten zu setzen: die einen als eine pathologische oder natürliche, jedenfalls charakteristische Mischung von männlich und weiblich kodierten psychischen und körperlichen Merkmalen, die anderen in strikter Abgrenzung zur Weiblichkeit. Die Auseinandersetzung mit Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepten erlangte damit eine individuelle wie kollektive Relevanz: für gleichgeschlechtlich Begehrende als eines der strukturierenden Elemente der Selbstwahrnehmung, für die damalige Homosexuellenbewegung als immer wiederkehrender strategischer Streitpunkt. Umgekehrt spielte Homosexualität eine wichtige Rolle in der Hierarchisierung von Männlichkeitsentwürfen untereinander, nämlich in der Konstruktion von "Anti-Typen", um mit George Mosse zu sprechen, oder in der relationalen Herstellung von "hegemonialen" und "untergeordneten" Männlichkeiten, um mit Raewyn Connell zu sprechen. Da "gerade die historischen Kämpfe um die Grenzziehungen zur Homosexualität ein zentraler Teil der Konstruktion von hegemonialer Männlichkeit" sind, ist es für eine Geschichte der männlichen Homosexualitäten erforderlich, geschlechtergeschichtliche Aspekte zu berücksichtigen. Bezogen auf die vorliegende Untersuchung bedeutet dies, dass ein besonderer Schwerpunkt auf das Verhältnis von Homosexualität und Männlichkeit im Subjektivierungsprozess Eugen Wilhelms gelegt wird.
Doch Wilhelm war nicht nur ein akribischer Rezipient des zeitgenössischen Wissens über Homosexualität: Er gestaltete dessen Produktion selbst mit. Als vielseitiger Intellektueller legte er zwischen 1890 und 1938 eine umfangreiche, dennoch bisher nur ansatzweise erforschte wissenschaftliche und emanzipatorische Tätigkeit an den Tag, in der sich drei Schwerpunkte erkennen lassen. Der ausgebildete Jurist, der bis 1908 als Amtsrichter, in der Zwischenkriegszeit als Rechtsanwalt in seiner Heimat-stadt Straßburg tätig war, legte erstens zahlreiche Publikationen mit über-wiegend juristischem Schwerpunkt vor. Vor 1918 wandte er sich haupt-sächlich Fragen der Rechtsvergleichung, der Kriminologie und Strafrechtsreform zu, nach 1918 Fragen des elsass-lothringischen Lokalrechts in der Revue juridique d´Alsace et de Lorraine, die er mitbegründete und zwischen 1920 und 1938 redigierte. Ein zweiter Schwerpunkt lag auf der Mitwirkung an der frühen Sexualwissenschaft. Die vielfältigen Themen, denen das Interesse der jungen Disziplin galt - von der künstlichen Zeugung über die Abtreibung, Eugenik, rechtliche Stellung unehelicher Kinder, Prostitution, Potenzstörungen und Geschlechtskrankheiten bis zum Hermaphroditismus oder Transvestismus -, erschloss Wilhelm in ihrem Verhältnis zum Recht. Wilhelm war drittens und vor allem ein engagierter Akteur in der ersten deutschen Homosexuellenbewegung. Unter dem Pseudonym Numa Praetorius war er langjähriges Mitglied und ›Obmann‹ im 1897 gegründeten Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK), der ersten Organisation, die für die Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen zwischen Männern (Paragraph 175 des Strafgesetzbuches) eintrat, aber auch einer Forschungsstätte, die auf der sexualtheoretischen Basis der Zwischenstufenlehre Magnus Hirschfelds eine vielfältige Forschungstätigkeit entfaltete. An den Bestrebungen des WhK beteiligte sich Wilhelm von Anfang an in schriftstellerischer, organisatorischer und finanzieller Hinsicht maßgeblich. So war er ein regelmäßiger Mitarbeiter des im Namen des Komitees von Hirschfeld von 1899 bis 1923 herausgegebenen Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen. Darin besprach er von 1900 bis 1922 in der von ihm betreuten "Bibliographie der Homosexualität" mehrere Hundert Publikationen auf diesem Gebiet. Zu den im Kontext der Homosexuellenbewegung verfassten Arbeiten zählen ferner biographische Studien zu ›berühmten Homosexuellen‹, komparatistische und ethnographische Studien sowie die juristische Kritik an der damaligen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Wilhelm war auf allen drei Gebieten als Kulturvermittler zwischen Deutschland und Frankreich tätig und stand überdies der damaligen elsässischen Kulturbewegung nahe.
Der vielgestaltige Themenkomplex ›Homosexualität‹ nahm sowohl in Eugen Wilhelms Selbstzeugnis als auch in seinen Publikationen einen zentralen Stellenwert ein. In unterschiedlichen Kontexten, zu unterschiedlichen Zwecken und auch mit unterschiedlichen Wirkungen wurde er aufgegriffen und funktionalisiert: als Identitätskonzept, das der Selbstdeutung, der Selbstzuordnung zu einem Kollektiv sowie der Orientierung im subkulturellen Alltag diente; als grundlegendes Prinzip der eigenen Lebensgestaltung, das freilich zahlreiche Konflikte nach sich zog; als eine naturwissenschaftlich nachgewiesene ›Tatsache‹, auf deren Grundlage sich ein intellektuelles Engagement stützen konnte und ein ›Emanzipationskampf‹ führen ließ; als ein Forschungsgegenstand, der in Wilhelms Augen interdisziplinär erschlossen werden sollte. Folglich liegt das zentrale Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit darin, dass mit Wilhelm ein wichtiger Protagonist der Homosexuellenbewegung und Sexualwissenschaft um 1900 eben diejenigen Konzepte in seinem Selbstzeugnis rezipierte, reflektierte und alltäglich erprobte, an deren Verbreitung und Plausibilisierung er gleichzeitig mitwirkte. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, auf welche Weisen die Kategorie ›Homosexualität‹ als zentrale, strukturierende Kategorie seines Selbstentwurfs und als eines der Kernthemen seines intellektuellen Engagements zum Tragen kam. Indem Wilhelm als Wissensrezipient und -produzent zugleich erfasst wird, kann das produktive Spannungsverhältnis von Subjektivierungsprozess und intellektuellem En-gagement in den Mittelpunkt gestellt werden.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es folglich, eine geschlechter- und sexualitätsgeschichtlich angelegte Biographie Eugen Wilhelms im Deutschen Kaiserreich vorzulegen. Sein facettenreiches Engagement bis 1918 soll in seinen politisch-kulturellen Konstituierungs- und Wirkungsbedingungen, Handlungsspielräumen, Formen und Entwicklungen beleuchtet und mit seinem vielschichtigen Subjektivierungsprozess in Zusammenhang gebracht werden. Angestrebt wird weder eine Biographie im Sinne des lückenlosen Nachzeichnens eines in sich abgeschlossenen, linear verlaufenden Lebens noch eine erschöpfende Auswertung des Tagebuchs. Vielmehr sollen am Beispiel Wilhelms der Aneignungsprozess, die Wirkmächtigkeit und Reichweite in alltäglichen Interaktionen, die intellektuelle Produktivität und Nutzbarmachung, aber auch die damit verbundenen Spannungen und Widersprüche von ›Homosexualität‹ einerseits als grundlegende, mehrfach relationale Kategorie eines Selbstentwurfs, andererseits als zentrale Motivation und Hauptgegenstand eines sexualreformerischen Engagements untersucht werden. Beide Aspekte werden zueinander in Beziehung gesetzt, um die Hypothese zu überprüfen, dass die verschiedenen Kategorien - sexuelle Identität, Geschlecht, Nation, Klasse -, die seinem Selbstentwurf zugrunde lagen, ineinander griffen und mit seinem intellektuellen Engagement in einem produktiven Spannungsverhältnis standen.
Damit soll die vorliegende Arbeit in doppelter Hinsicht - als eine mikrohistorisch angelegte Untersuchung der subjektiven Aneignung sexueller Identitätskonzepte und als eine Untersuchung der ersten deutschen Homosexuellenbewegung - einen Beitrag zur Geschichte der männlichen Homosexualitäten leisten. Zum einen lässt sich am Beispiel Wilhelms quellengesättigt zeigen, wie sich Identitätskonzepte auf sexueller Grundlage im sexualitätsgeschichtlich entscheidenden Zeitraum des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, relational herausbildeten und welche subjektive Reichweite, Wirkmächtigkeit und intellektuelle Produktivität sie entfalteten. Zum anderen lassen sich neue Erkenntnisse über die Geschichte der Homosexuellenbewegung, in erster Linie über das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee, gewinnen, indem die Voraussetzungen, Akteure, Zielsetzungen, Strategien der Bewegung, die Netzwerke von Mitstreitern, die strategischen und sexualtheoretischen Streitpunkte sowie die von der Bewegung verbreiteten Identitätskonzepte analysiert werden.
Der Untersuchungszeitraum wird sich weitgehend auf die Periode zwischen den 1880er Jahren und dem Ende des Ersten Weltkriegs konzentrieren. Diese zeitliche Eingrenzung lässt sich inhaltlich insofern begründen, als die Jahre 1918-1919 einen politisch und rechtlich grundlegenden Wendepunkt markierten. Nach dem Ersten Weltkrieg war Wilhelms Leben und Wirken durch andere Rahmenbedingungen geprägt. Mit der Rückangliederung des Elsass an Frankreich ging eine tiefgreifende Schwerpunktverschiebung sowohl in seinem Selbstentwurf als auch in seinem Engagement einher. Der Erste Weltkrieg hatte sein Verhältnis zu Deutschland zerrüttet und zugleich nationale Gesichtspunkte in den Vordergrund gestellt. Außerdem dürfte nicht zuletzt der Umstand, dass Wilhelm nach 1918 in einem Land lebte, in dem einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Erwachsenen straffrei waren, zur Distanzierung von der deutschen Homosexuellenbewegung beigetragen haben. An den Bestrebungen des WhK in der Weimarer Republik beteiligte er sich kaum noch. Während er sich nicht mehr primär über eine gleichgeschlechtliche Sexualität definierte, sondern als Elsässer, der sich an Frankreich orientierte, wandte sich Wilhelm in der Zwischenkriegszeit von Sexualwissenschaft und Homosexuellenbewegung ab, gleichzeitig juristischen Themen mit Schwerpunkt auf elsässischen Rechtsfragen zu. Die zahlreichen Arbeiten zu Fragen des elsass-lothringischen Lokalrechts in der Revue juridique d'Alsace et de Lorraine sind noch unerforscht und würden aufgrund ihres Umfangs sowie ihrer fachwissenschaftlichen Komplexität eine eigene Untersuchung verdienen. Deshalb erscheint es angebracht, Wilhelm vor allem als Homosexuellenaktivist und Sexualwissenschaftler im Deutschen Kaiserreich in den Blick zu nehmen.


Kevin Dubout ist freier Historiker und Mitarbeiter an der Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft der Magnus-Hirschfeld-
Gesellschaft e. V. (Berlin).


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