Enard | Kompass | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

Enard Kompass

Roman

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

ISBN: 978-3-446-25426-8
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



"Kompass" ist das Buch der Stunde: eine leidenschaftliche Beschwörung der jahrhundertelangen Passion des Westens für die orientalische Kultur. Unter dem Schock einer alarmierenden medizinischen Diagnose verbringt Franz Ritter, Musikwissenschaftler in Wien, eine schlaflose Nacht. Er begibt sich im Geiste noch einmal an die Orte seiner Forschungsreisen: Istanbul, Damaskus, Aleppo, Palmyra – alles Städte, die für ihn untrennbar mit Sarah verbunden sind, der berühmten Orientalistin, seiner großen Liebe. Seine Erinnerung zaubert immer mehr Fakten, Romanzen und Geschichten hervor, die alle von dem entscheidenden Beitrag des Orients zur westlichen Kultur und Identität zeugen. Für diesen Roman erhielt Mathias Enard in Frankreich 2015 den Prix Goncourt.
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23 Uhr 10
Sarah halbnackt in einem Schlafzimmer in Sarawak, kaum bekleidet mit Top und Baumwollshorts; ein bisschen Schweiß zwischen den Schulterblättern und in den Kniekehlen, ein bis zur Wadenmitte zurückgeschobenes Knäuel Decke. Vom pulsierenden Blut der Schläferin angelockt, hängen noch ein paar Insekten am Moskitonetz, obwohl die Sonne schon durch die Bäume sticht. Das long house erwacht, die Frauen sind draußen auf der Holzterrasse unter dem Vorbau; sie bereiten das Essen zu; undeutlich nimmt Sarah das Klappern der Schüsseln wahr, dumpf wie das Trommeln eines Semantrons, und die fremden Stimmen. Malaysia ist sieben Stunden voraus, der Tag bricht an. Wie lange habe ich es ausgehalten, an fast nichts zu denken, zehn Minuten vielleicht? Sarah im Dschungel der Brookes, der weißen Rajas von Borneo, der Herrscherdynastie, die orientalische Könige sein wollten und es geworden sind, die fast ein Jahrhundert lang im Land der Piraten und Kopfjäger herrschten. Die Zeiten sind vorbei. Nach Schloss Hainfeld, den Wiener Spaziergängen, Istanbul, Damaskus, Teheran, liegt nun jeder von uns auf seiner Seite, getrennt durch die Welt. Mein Herz schlägt zu schnell, das spüre ich; ich atme zu stark; das Fieber könne dieses leichte Herzrasen verursachen, hat der Arzt gesagt. Ich werde aufstehen. Oder ein Buch lesen. Vergessen. Nicht an den Prüfungsmist denken, nicht an die Krankheit, an die Einsamkeit. Eigentlich könnte ich ihr einen Brief schreiben, das würde mich beschäftigen – »Liebste Sarah, danke für den Artikel, aber ich muss gestehen, sein Inhalt beunruhigt mich: Geht es Dir gut? Was machst Du in Sarawak?« Nein, zu belanglos. »Liebe Sarah, Du sollst wissen, dass ich im Sterben liege.« Etwas verfrüht. »Liebe Sarah, Du fehlst mir«, zu direkt. »Liebste Sarah, könnten die Schmerzen von einst nicht eines Tages Freuden werden?« Das ist schön, die Schmerzen von einst. Hatte ich in meinen Briefen aus Istanbul Dichter bemüht? Ich hoffe, sie hat sie nicht aufbewahrt – ein Monument des Bramarbasierens. Das Leben ist eine Mahler-Sinfonie, es kehrt nie zurück, fällt nie wieder auf die Füße. In diesem Zeitgefühl, das eine Definition der Melancholie ist, das Bewusstsein von der Endlichkeit, gibt es keine Zuflucht außer im Opium und im Vergessen; Sarahs Doktorarbeit kann (das merke ich erst jetzt) als Katalog von Melancholikern gelesen werden, der seltsamste aller Kataloge von Abenteurern im Reich der Melancholie, in den unterschiedlichsten Gattungen und von ganz verschiedener Herkunft, Sadegh Hedayat, Annemarie Schwarzenbach, Fernando Pessoa, um nur einige ihrer Lieblinge zu nennen – es sind auch diejenigen, denen sie am wenigsten Seiten widmet, da Wissenschaft und Universität sie zwingen, bei ihrem Thema zu bleiben, das »Bilder des Anderen zwischen Orient und Okzident« hieß. Ich frage mich, ob das, was sie im Laufe ihres wissenschaftlichen Lebens gesucht hat, in dem sie völlig aufgeht, ob ihr lebenslanges Forschen nicht ihrer eigenen Heilung gilt – dem Sieg über die schwarze Galle, zuerst durch das Reisen, dann durch das Wissen und schließlich durch die Mystik, was zweifellos auch für mich stimmt, auch für mich, wenn man die Musik als durchdachte, als umschriebene und in Klang verwandelte Zeit ansieht, und wenn ich heute mit diesen Laken kämpfe, könnte man zehn zu eins darauf wetten, dass auch ich an diesem Mal de siècle leide, das in der modernen Psychiatrie, die der Kunst und der Philosophie überdrüssig ist, strukturelle Depression genannt wird, wenngleich sich die Ärzte in meinem Fall nur für die körperlichen Aspekte meiner Schmerzen interessieren, die zweifelsfrei völlig real sind, von denen ich aber nur zu gerne möchte, dass sie nur eingebildet wären – ich werde sterben, ich werde sterben, das ist die Nachricht, die ich Sarah schicken müsste, durchatmen, tief durchatmen, das Licht anmachen, sich nicht an diesem Abhang in die Tiefe reißen lassen. Ich werde dagegen ankämpfen. Wo ist meine Brille? Diese Nachttischlampe ist wirklich jämmerlich, ich muss sie unbedingt ersetzen. Wie viele Abende habe ich sie erst an-, dann ausgeknipst und es mir dabei immer wieder gesagt? Was für ein Schlendrian. Überall liegen Bücher. Sachen, Bilder, Musikinstrumente, die ich nie mehr werde spielen können. Wo ist die Brille? Unmöglich, wieder an die Akten des Hainfelder Kolloquiums zu kommen, in denen ihr Text über die Ghule, Dschinn und Monster neben meinem Vortrag über Farabi steht. Ich werfe nichts weg, und dennoch verliere ich alles. Die Zeit raubt mich aus. Ich habe bemerkt, dass mir zwei Bände meiner Karl-May-Gesamtausgabe fehlen. Nicht weiter schlimm, ich werde sie zweifellos nie wieder lesen, ich werde sterben, ohne sie wiedergelesen zu haben, und es ist ein entsetzlicher Gedanke, dass man eines Tage zu tot sein wird, um Durch Wüste und Harem zu lesen. Dass meine Panorama-Ansicht Istanbuls vom Galataturm aus bei einem Wiener Antiquar landet, der sie mit der Erklärung, sie stamme aus der Sammlung eines kürzlich verstorbenen Orientalisten, verkaufen wird. Wozu jetzt die Nachttischlampe auswechseln? Die Panorama-Ansicht Istanbuls … oder auch jene Zeichnung David Roberts’ vom Eingang der Sultan-Hassan-Moschee in Kairo, von Louis Haghe lithographiert und für die königliche Subskription sorgfältig von Hand koloriert, die der Antiquar nicht verschleudern sollte, für den Druck habe ich ein Vermögen bezahlt. Das Faszinierende an Sarah ist, dass sie nichts besitzt. Ihre Bücher und ihre Bilder hat sie im Kopf, im Kopf und in ihren unzähligen Notizheften. Mich beruhigen die Dinge. Vor allem Bücher und Partituren. Oder sie ängstigen mich. Vielleicht ängstigen sie mich ebenso sehr, wie sie mich beruhigen. Ich kann mir ihren Koffer für Sarawak gut vorstellen: sieben Unterhosen, drei Büstenhalter, ebenso viele T-Shirts, Shorts und Jeans, eine Vielzahl halb vollgeschriebener Notizhefte und Punkt. Als ich das erste Mal nach Istanbul gereist war, hatte mich Mama gezwungen, Seife, Waschmittel, ein Erste-Hilfe-Set und einen Regenschirm mitzunehmen. Mein Koffer wog sechsunddreißig Kilo, was mir Ärger am Flughafen Schwechat einbrachte; ich musste einen Teil Mama mitgeben, die es sich nicht hatte nehmen lassen, mich hinzubringen: Widerwillig übergab ich ihr den Briefwechsel von Liszt und die Artikel Heines (die mir anschließend fehlten); ihr das Waschmittelpaket, den Schuhlöffel oder meine Bergsteigerstiefel zurückzugeben erwies sich leider als unmöglich, sie sagte: »Aber die Sachen sind unentbehrlich, du wirst doch nicht ohne Schuhlöffel verreisen! Und außerdem wiegen sie so gut wie nichts«, warum nicht auch einen Stiefelknecht, wo wir schon dabei waren, ich hatte bereits ein ganzes Arsenal an Krawatten und Jacketts mit »für den Fall, dass ich bei vornehmen Leuten zu Gast sein würde«. Es fehlte nicht viel, und sie hätte mich gezwungen, ein Reisebügeleisen einzupacken, doch es war mir gelungen, sie zu überzeugen, dass es zwar in der Tat zweifelhaft sei, ob man in diesen fernen Gefilden gutes österreichisches Waschmittel finden würde, dass es dort aber elektrische Hausgeräte in Hülle und Fülle gebe, dass es dort geradezu davon wimmele, da China und seine Fabriken in der Nähe seien, was sie allerdings nur mäßig beruhigte. Dieser Koffer wurde also mein Kreuz, ein dreißig Kilogramm schweres Kreuz, das ich unter Schmerzen (die Rollen waren natürlich gleich bei der ersten Unebenheit unter dem Gewicht weggebrochen) von einer Unterkunft zur anderen, von Yeniköy nach Taksim, durch die furchtbar steil abfallenden oder ansteigenden Straßen Istanbuls schleppen musste, was mir den beißenden Spott meiner Mitbewohner einbrachte, vor allem für das Waschmittel und die Apotheke. Ich wollte das Bild eines Abenteurers, Forschungsreisenden, Condottiere abgeben und war doch nur ein Muttersöhnchen, beladen mit Medikamenten gegen Durchfall, mit Knöpfen und Nähgarn für den Notfall. Es ist ein wenig deprimierend, dass sich daran zugegebenermaßen nicht viel geändert hat, dass die Reisen keinen kühnen, furchtlosen und braungebrannten Mann aus mir gemacht haben, sondern ein bleiches Brillenmonster, das heute bei dem Gedanken zittert, sein Stadtviertel zu durchqueren, um ins Krankenhaus gehen zu müssen. Wie sich doch im Lampenlicht der Staub auf der Panorama-Ansicht Istanbuls vom Galataturm aus hervorhebt, man erkennt die Schiffe fast nicht mehr, ich müsste es abwischen, aber vor allem müsste mir diese verdammte Brille wieder unter die Hände kommen. Ich hatte den Photochromdruck in einem Laden hinter der Istiklal Cadessi gekauft, viel von dem Schmutz muss noch von Istanbul herrühren, eine ursprüngliche Schmutzschicht, der Archäologe Bilger war dabei – den letzten Berichten zufolge ist er noch immer genauso verrückt, Klinikaufenthalte wechseln mit Perioden einer erschreckenden Überspanntheit, in denen er die Gräber Tutanchamuns in den Parkanlagen von Bonn entdeckt, bevor er, besiegt von den Drogen und der Depression, einen Rückfall erleidet, und man fragt sich, welche dieser Phasen besorgniserregender ist. Man muss hören, wie er wild gestikulierend schreit, er sei ein Opfer des Pharaonenfluchs, wie er die Wissenschaftsverschwörung beschreibt, die ihn von einflussreichen Posten fernhalte, um zu begreifen, wie sehr er dem Wahnsinn verfallen ist. Das letzte Mal, als ich zu einer Konferenz ins Beethovenhaus eingeladen war, versuchte ich, ihm aus dem Weg zu gehen, doch leider war Bilger gerade nicht in der Klinik, er befand sich im Publikum, saß schön in der ersten Reihe und stellte natürlich eine endlose und unverständliche Frage zu einer Verschwörung gegen Beethoven im kaiserlichen Wien, in der alles durcheinanderging,...


Enard, Mathias
Mathias Enard, 1972 geboren, lebt in Barcelona. Auf Deutsch erschienen von ihm die Romane "Zone" (2010), für den er den Candide-Preis 2008 erhielt, "Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten" (2011), ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt des lycéens 2010, und "Straße der Diebe" (2013). Für den Roman Kompass (2016) erhielt er den Prix Goncourt 2015 und 2017 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 2019 erschien sein Gedichtband Letzte Mitteilung an die Proust-Gesellschaft von Barcelona.


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