Fioretos | Nelly B.s Herz | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Fioretos Nelly B.s Herz

Roman

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-446-26662-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Fliegen ist notwendig, Leben nicht. – Aris Fioretos erzählt in seinem neuen Roman die faszinierende Geschichte einer deutschen Flugpionierin in Berlin.


Ein mitreißender Roman über eine Flugpionierin im Berlin der wilden zwanziger Jahre: Als der Arzt Nelly B. eröffnet, dass sie wegen eines Herzleidens nicht mehr fliegen darf, bricht für sie eine Welt zusammen. Als erste Frau in Deutschland hat sie den Pilotenschein gemacht und mit ihrem Mann eine Flugschule geleitet. Sie verlässt Paul, findet eine Stelle bei BMW, wo sie Motorräder verkauft, nimmt Quartier bei einer Berliner Zimmerwirtin und trifft die viel jüngere Irma, in die sie sich rettungslos verliebt. Aris Fioretos erzählt die Geschichte einer modernen, emanzipierten Frau und einer großen, tragischen Liebe. Aus einem aufregenden Leben wird große Literatur.
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17.
Es ist eigenartig, wie wenig man sich selbst kennt. Oder ahnen andere, was in den unzugänglicheren Teilen ihres Gehirns geschieht, und haben Schwierigkeiten, aus uns schlau zu werden, die wir es nicht tun? Paul hatte keine Geheimnisse vor sich selbst, höchstens vor anderen. Für mich scheint das Umgekehrte zu gelten. Ich verberge selten, was ich meine, dennoch handele ich oft, ohne zu begreifen, warum ich es tue. Erst hinterher erkenne ich, was mich angetrieben hat. Kann man das Inklination nennen — oder »Neigung«, wie es in dem Artikel neulich hieß? Ist sie der Grund dafür, dass die Leute nicht wissen, woran sie bei mir sind? Ich ändere jedenfalls nicht von einem Tag auf den anderen meine Meinung. Verschwende keine Zeit auf weibliche Mystik. Bin weder schwer zu fassen noch treulos. So ist es gewesen, solange ich zurückdenken kann. Die Leute glauben, dass ich dies und jenes sei — tatkräftig, zielstrebig, gelegentlich ein wenig intensiv. Aber eigentlich … Ich weiß nicht. Eigentlich bin ich nur auf der Suche. Trotzdem kann ich hartnäckig, sogar aufdringlich erscheinen wie diese Fünf. Früher, wenn ich merkte, dass die Schulkameradinnen sich zurückzogen — erst Karro mit der Lücke zwischen den Zähnen, später Regine, deren Vater in der Tabakfabrik Yenidze arbeitete, aber bei einem Straßenbahnunglück ums Leben kam —, war es meistens zu spät. Die Versuche zu verstehen, was passiert war, brachten mir nur Unannehmlichkeiten. Das eine Mal musste ich mir anhören, ich hätte versucht, Karro zu küssen, dabei hatte ich nur ihre Zahnlücke mit meiner Zunge abtasten wollen. Das andere Mal machte einer der Jungen eine so bissige Bemerkung zu Regine, dass ich mich auf ihn stürzte. Als ich den Staub abgebürstet hatte, nahm sie jedoch nicht mich, sondern den Jungen in Schutz. An einem Hochsommertag standen wir dann mit unseren Abschlusszeugnissen in der Hand vor der Kirche und schworen uns, in Kontakt zu bleiben. Was jedoch keiner tat. Nicht mit mir. Als ich in Stockholm eintraf, wo man seit vielen Jahren auch Frauen zum Kunststudium annahm, beschloss ich mich zu ändern. Ich war fast zwanzig. In Schweden kannte ich niemanden, hier konnte ich die werden, die ich sein wollte. Und noch stellte ich mir vor, dass ich so werden wollte wie andere. Eine Person, die zuhörte und verstand und tat, was die Leute erwarteten, ein aufrichtiger Mensch, ein Freund. Die Kameraden nannten mich »die Deutsche«, weil meine direkte Art als typisch deutsch galt. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Mit den anderen Frauen im Fach Bildhauerei hatte ich jedenfalls nicht viel gemeinsam. Malin Gyllenstierna war verheiratet und traf sich außerhalb der Schule mit niemandem. Und Gerda Jungberg, nur ein Jahr älter als ich, ging in die Klasse über mir. Sie half mir zwar, eine Wohnung zu finden, aber man merkte doch, dass sie sich bedroht fühlte. Dass ich bei der Schülerausstellung einen Preis gewann, machte die Sache nicht besser. Da war es leichter, sich mit den Männern anzufreunden. Zwei waren Bildhauer. Arne Hallén hatte Schultern wie ein Seebär, obwohl er der jüngste von uns allen war. Wir nannten ihn »den Knirps« und scherzten oft mit ihm. Der Knirps schien nichts dagegen zu haben, dass die Studentinnen mütterliche Gefühle entwickelten. Wir erkundigten uns, ob er ordentlich gegessen und geschlafen habe, ob er friere oder rauchen wolle. Wenn die anderen es besonders toll trieben, begnügte ich mich damit, Obst oder einen Pullover auf seinen Schemel zu legen, das musste reichen. Der andere Bildhauer war Kalle Hultström. Er war schon damals so von seiner Berufung überzeugt, dass er sich nie und nimmer bedroht gefühlt hätte. Er gewann sämtliche Preise und half mir im ersten Jahr mit dem Schwedischen. Auf dem einzigen Foto aus dieser Zeit — aufgenommen an meinem ersten Silvesterabend in Stockholm — steht Kalle mit dem Arm über eine Posaune gelehnt, Johan, an dessen Nachnamen ich mich nicht erinnere, hat sich als der kurz zuvor verstorbene, alte König verkleidet, während Kalle, der den neuen Monarchen darstellen soll, barhäuptig in die Kamera lächelt. Im Vordergrund hält Josef Svanlund eine seltsame Flagge. Er ist vom Scheitel bis zur Sohle schwarz gekleidet. Manchmal frage ich mich, was aus ihm geworden ist. Ich erinnere mich an ein Porträt, das er von Salome gemalt hat, mit blonden Locken, in einem blauschimmernden Kleid und modernen Schuhen. Hätte es die Könige im Hintergrund nicht gegeben, man hätte die blasse Erscheinung für eine Sekretärin halten können. Der Knirps, Kalle und der Sänger John Forsell, der zwar nicht an der Akademie studierte, aber viele von uns kannte, waren meine engsten Freunde in Schweden. Sowie Allan Egnell. Allan hat mir John mit den Worten vorgestellt: »Unser zukünftiger Kammersänger braucht eine Büste.« So bekam ich meinen ersten Auftrag. Das muss 1909 gewesen sein, denn als ich hörte, dass man Forsell zum Kammersänger ernannt hatte, war ich bereits zurück in Dresden. Allan studierte Malerei und war ein Jahr vor mir aufgenommen worden. Als er die Büste sah, wollte er mir ebenfalls Modell sitzen. Es dauerte Wochen, weil er immer Schnaps dabeihatte und über die Wolken, Lilienthal und das Prinzip »schwerer als Luft« sprechen wollte, darüber, was ich mir nach dem Examen erträumte und anderes mehr. Als er das Ergebnis sah, bestand er darauf, die Büste in Bronze gießen zu lassen. Ich drehte die Taschen meines weißen Kittels nach außen, aber er ließ nicht locker. Am Ende bekam er Geld von seiner Mutter, die mir die Bronzebüste zeigte, als ich die Familie vor meiner Abreise besuchte. Sie stand an einem Ehrenplatz neben dem Flügel. Ich selbst hielt nicht viel von Allans Fresken und Stillleben. Ihnen fehlte das von innen kommende Licht, das er bei den Holländern so bewunderte. Bevor ich nach Dresden zurückkehrte, sagte ich ihm das, von Kommilitonin zu Kommilitone. Drei Tage später, als im Blanchs mein Abschied gefeiert werden sollte, erklärte er, verhindert zu sein. Vorher hatten wir uns jedoch nahegestanden. Ich glaube sogar, wir betrachteten uns als Freunde. Allerdings musste ich erkennen, dass Freundschaft für ihn etwas anderes bedeutete als für mich. Allan verbrachte die Sommer in den Schären. Familie Egnell besaß zwei Boote; als ihm zu Ohren kam, dass ich eine erfahrene Seglerin war, wollte er, dass ich ihn besuche. Sein Vater und sein Bruder waren beeindruckt, wie routiniert ich Baum und Ruder bediente. Ich konnte mir nicht verkneifen, sie darauf hinzuweisen, dass Boote kein Privileg der Männer waren. Als Kind war ich oft mit meinem Vater gesegelt, der seine Stiefkinder und mich wie vollwertige Matrosen behandelte und keinen von uns vor schwereren Aufgaben verschonte. »Sie kommt aus Deutschland«, kicherte Allan. »Das sehe ich«, sagte Herr Egnell, als ich das schwere Ruder an Land trug. Mückenschwärme pulsierten in der Abendsonne. Am liebsten segele ich allerdings auf Eis, das habe ich in Stockholm gelernt. Als die Dunkelheit ihre Kuppel über die Stadt wölbte und die Luft sich trocken und knarrend verdichtete, war es so weit. Hinter dem Rücken der Lehrer hatten wir einen Eissegler gebaut. Außer mir waren Allan, der Knirps und noch jemand, wahrscheinlich John, mit von der Partie. Das Gerüst ruhte auf Schlittschuhkufen, die der Knirps in der Werkstatt geschliffen hatte. Von ihm lernte ich übrigens, Metall zu bearbeiten, was sich in Johannisthal als nützlich erweisen sollte. Allan, der schon einmal auf Eis gesegelt war, erklärte, eine der Kufen müsse drehbar sein, um als Ruder zu dienen. Dieses Eisen befestigten wir achtern an dem Brett, aus dem das Rückgrat des Seglers bestand. Auch den Sitz schraubten wir daran. Über den vorderen Teil montierten wir ein Querbrett, das an jedem Ende auf Schlittschuhkufen lag. Jetzt fällt es mir ein: Die vierte Person war nicht John, sondern Ebba Cronhielm. Na klar. Ebba studierte wie Allan Malerei. Groß und kühl. Tochter eines Kapitäns, glaube ich, gut in Textilien. Sie nähte zwei Lateinersegel, ein größeres und ein kleineres, auf die sie ein Gesicht mit stur starrendem Blick malte. Als wir den Grund erfahren wollten, antwortete sie, die Behörden verlangten ein klares Kennzeichen. Wir würden jedoch nicht die Waffen der Akademie benutzen, schließlich seien wir »klandestin«. Stattdessen hatte sie eine nordische Medusa mit Eisaalen als Haar gemalt. »Hält Neugierige auf Distanz.« Vermutlich sah ich sie fragend an, denn sie strich mir über die Wange und lächelte. Ich mochte ihre trockene Art. Die Männer wollten Schaumwein kaufen und den Segler taufen, aber ich hielt sie zurück. Die Taufe musste warten; mir war eine Idee gekommen, die ich vorher ausprobieren wollte. Ein paar Tage später war ich fertig. Durch einen Griff ließ...


Fioretos, Aris
Aris Fioretos, 1960 in Göteborg geboren, ist schwedischer Schriftsteller griechisch-österreichischer Herkunft. Bei Hanser erschienen Das Maß eines Fußes (Essays, 2008), Der letzte Grieche (Roman, 2011), Die halbe Sonne (Prosa, 2013), Mary (Roman, 2016), Wasser, Gänsehaut (Essay über den Roman, 2017) und Nelly B.s Herz (Roman, 2020). 2010 hat Fioretos die erste kommentierte Werkausgabe von Nelly Sachs sowie eine Bildbiographie über die Autorin veröffentlicht. Für seine Übersetzungen – er übertrug u.?a. Paul Auster, Vladimir Nabokov und Jan Wagner ins Schwedische – wie für sein eigenes Werk hat er zahlreiche Preise erhalten, darunter 2011 den Literaturpreis der SWR Bestenliste, den Kellgren-Preis der Schwedischen Akademie und 2013 den Großen Preis des Samfundet De Nio sowie 2016 für Mary den Romanpreis des Schwedischen Rundfunks und 2017 den Jeanette Schocken Preis – Bremerhavener Bürgerpreis für Literatur. 2020 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Aris Fioretos lebt in Berlin und Stockholm.


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