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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Fischer Die chauvinistische Bedrohung

Russlands Kriege und Europas Antworten | Putins Autokratie, Nationalismus und Sexismus zerstören die Ukraine und bedrohen liberale Demokratie und Freiheit weltweit

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-8437-3032-7
Verlag: Ullstein Ebooks
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Russlands aggressiver Vernichtungskrieg gegen die Ukraine lässt sich nicht begreifen und stoppen, ohne den russischen Chauvinismus zu verstehen. Der speist sich aus nationalistischen und misogynen Ideen und dient dem autokratischen Putin-Regime zur Selbstlegitimation. Die chauvinistische Politik Russlands greift nicht nur die Ukraine an. Sie bedroht auch signifikante Teile der russischen Gesellschaft und will die auf Regeln und Werten basierende europäische Sicherheitsordnung zerstören. An ihre Stelle soll das Recht des Stärkeren, Aggressiv-Imperialen treten.
Der russische Chauvinismus betrachtet alles, was mit Liberalismus zu tun hat, als feindlich – und auch in Europa breitet sich diese Haltung aus. Sabine Fischer, Osteuropa-Expertin bei der renommierten Stiftung Wissenschaft und Politik, liefert uns einen ganz neuen Blick auf die Macht- und Expansionspolitik Russlands. Sie erklärt, wie aggressiver Nationalismus, misogyner Chauvinismus und Autokratie in Russland zusammenhängen, und wie Europa und die westliche Welt sich aufstellen müssen, um dem russischen Chauvinismus zu trotzen.


»Viele reden über Russland – Sabine Fischer kennt es von innen, besser als kaum jemand sonst in Deutschland. In luzider Analyse enthüllt sie den chauvinistischen Charakter seiner aggressiven Politik und seines Präsidenten. Wer Wladimir Putins zerstörerischen und selbstzerstörerischen Krieg verstehen will, muss dieses Buch lesen.« Rüdiger von Fritsch
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Chauvinismus in Russland
John Mearsheimer hat einen großen Fanclub in Russland. Im Oktober 2016 war er, wie auch ich, zu Gast bei der 13. Jahreskonferenz des Internationalen Diskussionsklubs Waldai in Sotschi. Diese Treffen von russischen und internationalen Expert:innen sowie Politiker:innen werden von den wichtigsten Moskauer Universitäten und Thinktanks in enger Abstimmung mit dem Kreml organisiert, um Expert:innen-Diskussionen über internationale Beziehungen und Treffen mit hochrangigen russischen Regierungsvertreter:innen zu ermöglichen. Der Höhepunkt jeder Konferenz ist ein Treffen mit Präsident Wladimir Putin. Vor seinem Wechsel ins Amt des Premierministers 2008 nutzte er sie für einen intensiven Austausch mit den internationalen Expert:innen. Seit seiner Rückkehr an die Staatsspitze 2012 hält er dort zunehmend außenpolitische Grundsatzreden. Ich selbst war von 2016 bis 2021 dabei und werde im Laufe des Buches mehrmals über meine Gespräche und Erfahrungen dort berichten. 2016 rollten die Veranstalter John Mearsheimer in Sotschi den roten Teppich aus. Seine Kritik an der Politik der USA und der NATO, denen er 2014 die Hauptverantwortung für den Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine zugeschrieben hatte, war in Moskau sehr genau registriert worden. Dieser Beifall für Mearsheimer kam für mich nicht überraschend. Schließlich hatte ich seit den frühen 2000er-Jahren beobachtet, wie die außenpolitische Debatte in Russland sich immer stärker auf strukturalistische Erklärungsmuster des Realismus versteifte. Sergej Lawrow ist seit 2004 russischer Außenminister. Sein Credo, und das der außenpolitischen Community seines Landes, ist die Entstehung einer »multipolaren Welt« als Schauplatz geopolitischer Großmachtkonkurrenz. Schon in den 2000er-Jahren zeigte man sich in Moskau überzeugt, dass der amerikanische Unilateralismus der 1990er-Jahre am Ende sei. Russland war, das versteht sich, in den Augen der russischen Kollegen (und sehr wenigen Kolleginnen) eine der Großmächte, die ein Recht auf Mitgestaltung der internationalen Beziehungen beanspruchen dürften. Ebenso befanden sie, dass Russland als Großmacht eine regionale Einflusszone zustehe, in der es den Ton angeben und die Regeln bestimmen könne. Souveränität, einer der Schlüsselbegriffe im russischen Diskurs der Putin-Zeit, wurde als Privileg der Großmächte gedeutet – kleineren Staaten stand sie nicht zu. Die Verschiebungen im internationalen System führten diesem Denken zufolge unweigerlich zu Spannungen zwischen aufsteigenden und absteigenden Mächten. Konflikte und Kriege wurden als unausweichliche Ausdrucksformen dieser Reibungen betrachtet. Dieses Bild von den internationalen Beziehungen hat sich über einen Zeitraum von zwanzig Jahren in Russland immer weiter verfestigt. Abweichende Perspektiven hatten es hingegen immer schwerer. Der liberale Blick nach innen, auf die Beschaffenheit des politischen Systems, die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft oder gar zwischen den Geschlechtern war nicht (mehr) opportun. Die Gefahr für kritische Stimmen wuchs in dem immer autoritäreren politischen Kontext. Feministische Kritik an asymmetrischer Machtverteilung in privaten, politischen und internationalen Beziehungen hatte und hat im von Männern dominierten außenpolitischen Diskurs überhaupt keine Chance. All das ist viele Male beschrieben worden. Ich möchte anhand einiger persönlicher Begegnungen und Gespräche verdeutlichen, wie die politische Elite in Russland die Welt sieht – und den Krieg gegen die Ukraine. Im Juni 2022 saß ich mit einem sehr renommierten russischen Kollegen in einem Moskauer Café. Der Krieg dauerte schon vier Monate an, wir sprachen über seine Vorgeschichte und seine Folgen. Der Kollege erklärte mir: »Dieser Schritt [der Angriff auf die Ukraine] ist nicht rückgängig zu machen, der einzige Ausweg ist der militärische Erfolg [Russlands]. […] Das Ziel ist, dass die Ukraine verschwindet, aber es ist unklar, wie. Das Mindeste ist der Donbas, dann Schritt für Schritt weiter. Ein Waffenstillstand wäre nur eine Pause bis zum nächsten Krieg. Am Anfang [der Invasion] gab es viele Rückschläge, dann erfolgten taktische Anpassungen. Und weiter hat auch der Chef [Putin] keinen Plan. Er hat ein Fernziel, aber keine Ahnung, wie er es erreichen soll. Ich dachte am Anfang, er sei verrückt. Aber das stimmt nicht. Er ist kaltblütig. Es gibt kein Zurück mehr, sogar, wenn ihm etwas passiert. Russland befindet sich in einer neuen Phase – wir bewegen uns nicht mehr nach Europa. In dieser Sackgasse sind wir schon lange – seit 2012. […] Putin will die letzten dreißig Jahre rückgängig machen. Seine Umgebung und er selbst denken, Gorbatschow ist damals an der Weggabelung in die falsche Richtung gegangen. Wir gehen jetzt in die andere Richtung. […] Das entspricht alles der globalen historischen Entwicklung – es ist irreversibel. Wenn eine Schlägerei unausweichlich ist, dann schlag als Erster zu. Frieden ist eine Ausnahme, nun ist mit dem Krieg die Normalität zurückgekehrt. Das ist ein alternativloser historischer Prozess.« Begonnen hatte das Gespräch damit, dass der Kollege seiner Freude darüber Ausdruck verlieh, wegen des Abbruchs der Beziehungen mit dem Westen nicht mehr reisen zu müssen. Auch Einladungen nach Deutschland habe er seit dem Beginn der Invasion ausgeschlagen. Er habe keine Botschaften mehr für die deutsche politische Community. Das sei alles ein für alle Mal vorbei, zwecklos. 2018 hatte ich am Rande einer Konferenz eine spätabendliche Diskussion mit einigen anderen russischen Kollegen. Ausgangspunkt war der Krieg gegen die Ukraine. Die Kollegen waren sehr schnell in historische Kriege von der Antike bis in die Neuzeit vertieft. Es ging lange darum, welcher Herrscher wann wen wie besiegt hatte, um Niederlagen und Revanchen. So seien eben die internationalen Beziehungen, so sei nun einmal das Verhalten von Großmächten, unveränderlich, durch alle Epochen. Auch Russland führe so Krieg und werde das auch weiterhin tun. Ich versuchte, unter Verweis auf die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen das Gespräch zu wenden. Deutschland und Frankreich hätten sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert als Erbfeinde betrachtet. Dennoch sei nach dem Zweiten Weltkrieg und trotz der Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands eine Versöhnung gelungen, die die europäische Einigung mit ermöglicht habe und bis in die Gegenwart fortlebe. Heutzutage seien die Beziehungen zwischen den Gesellschaften ungeheuer vielschichtig, Tausende Französ:innen lebten in Deutschland und umgekehrt. »Stimmt schon«, war die Reaktion. »Aber ihr wart schließlich besiegt. Wir werden niemals besiegt werden.« Bei der Waldai-Konferenz 2017 hatte ich Gelegenheit, Wladimir Putin eine Frage zu stellen. Ich griff die harsche Kritik auf, die er in seiner Eingangsrede an der westlichen Politik geübt hatte, und sagte: »Herr Präsident, Sie haben die westliche Politik gegenüber Russland sehr hart kritisiert. Tatsächlich kann man viele der Aspekte, die Sie erwähnt haben, kritisch diskutieren. Aber wir wissen auch, dass in jeder Beziehung – egal, ob zwischen Staaten oder Menschen – beide Seiten Fehler machen. Deshalb meine Frage: Welche politischen Fehler hat Russland in Ihren Augen in den vergangenen fünfzehn Jahren gemacht? Und was muss getan, welche Schlüsse müssen gezogen werden im Hinblick auf die Zukunft dieser Beziehungen?« Putins Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: »Unser größter Fehler in den Beziehungen mit dem Westen ist, dass wir Ihnen vertraut haben. Und Ihr Fehler war, dass Sie dieses Vertrauen als Schwäche ausgelegt und missbraucht haben. Deshalb müssen wir das hinter uns lassen, dieses Kapitel abschließen und in der Zukunft unsere Beziehungen auf gegenseitigem Respekt aufbauen. Wir müssen uns als gleichberechtigte und gleichwertige Partner behandeln.«36 Die Vorstellungen der russischen Machtelite, die den Krieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat, lassen sich so auf den Punkt bringen: Krieg ist ein unausweichlicher Bestandteil historischer Prozesse, an denen niemand – auch nicht die Großmacht Russland – etwas ändern kann. Die Beziehungen mit dem Westen sind die Geschichte von Leichtgläubigkeit und Vertrauensseligkeit auf der russischen und von antirussischer Aggression, Lüge und Betrug auf der westlichen Seite, was es nun zu korrigieren gilt. Russland befindet sich nach seiner Abkehr vom Westen auf dem Weg zu einem neuen existenziellen Zustand. Und es gibt keine Alternative zum Sieg. Und doch lässt sich die Geschichte des russischen Chauvinismus nicht ohne die Gegenbewegung erzählen. Es gab immer wieder Momente, in denen die Entwicklung in eine andere Richtung hätte gehen können. Es sollte zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass die russische Gesellschaft auch in Zukunft wieder vor solchen Weggabelungen stehen wird. Nationalismus
Womit sollten sich die Menschen in Russland nach 1991 identifizieren? Mit der Sowjetunion, die nach einer langen Phase der Agonie unter dem Jubel der Welt zusammengebrochen war? Mit dem real existierenden russischen Staat der 1990er-Jahre, schwach, chaotisch, korrupt und gewaltdurchsetzt? Mit einer Zukunftsvision von Demokratie und...


Fischer, Sabine
Sabine Fischer ist Politikwissenschaftlerin und Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Seit sie 1992 zum Studium nach St. Petersburg ging, hat Russland sie als Forschungsgegenstand und Lebenswelt nicht mehr losgelassen. Als Senior Research Fellow am European Union Institute for Security Studies in Paris (2007-2012) weitete sie ihre Forschung auf die Staaten und Gesellschaften der östlichen Nachbarschaft der EU aus. Sie beschäftigt sich seit anderthalb Jahrzehnten mit den ungelösten Konflikten in der Region, seit 2014 besonders intensiv mit Russlands Krieg gegen die Ukraine. Von 2016 bis 2021 leitete sie ein Netzwerk von 40 Expert:innen aus Russland und der EU, das sich mit dem Status quo und der Zukunft der EU-Russland-Beziehungen beschäftigte. Von 2019 bis 2021 lebte und arbeitete sie in Moskau, wo sie im Rahmen des Public Diplomacy. EU and Russia-Projekts gesellschaftliche Kontakte zwischen Russland und der EU organisierte.

Sabine Fischer ist Politikwissenschaftlerin und Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Seit sie 1992 zum Studium nach St. Petersburg ging, hat Russland sie als Forschungsgegenstand und Lebenswelt nicht mehr losgelassen. Als Senior Research Fellow am European Union Institute for Security Studies in Paris (2007-2012) weitete sie ihre Forschung auf die Staaten und Gesellschaften der östlichen Nachbarschaft der EU aus. Sie beschäftigt sich seit anderthalb Jahrzehnten mit den ungelösten Konflikten in der Region, seit 2014 besonders intensiv mit Russlands Krieg gegen die Ukraine. Von 2016 bis 2021 leitete sie ein Netzwerk von 40 Expert:innen aus Russland und der EU, das sich mit dem Status quo und der Zukunft der EU-Russland-Beziehungen beschäftigte. Von 2019 bis 2021 lebte und arbeitete sie in Moskau, wo sie im Rahmen des Public Diplomacy. EU and Russia-Projekts gesellschaftliche Kontakte zwischen Russland und der EU organisierte.


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