Forster / Schwab | Schweiz und Europa | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Forster / Schwab Schweiz und Europa

Eine politische Analyse

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-451-82316-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Schweiz liegt mitten in Europa – und gehört doch nicht zur Europäischen Union. Ihr Verhältnis zur EU ist Gegenstand permanenter Diskussion. Das kleine Land in der Mitte des Kontinents muss sich entscheiden, in welche Richtung es gehen will. Nachdem das Schweizer Volk im September 2020 entschieden hat, die Freizügigkeit mit der EU aufrecht zu erhalten, wird nun eine wichtige Entscheidung anstehen. Nach Abschluss von mehr als 120 bilateralen Abkommen zwischen der EU und der Schweiz hat sich die Zusammenarbeit verkompliziert, sodass ein Rahmenabkommen verhandelt wurde. Wird die Schweizer Regierung es auch annehmen?
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2. Schweizer Europapolitik zwischen Konkordanz und Volksabstimmung
2.1. Die Konkordanz als Gegenstück zur direkten Demokratie
Die Schweiz hat ein eigentümliches und einmaliges Regierungsmodell, das sich über die letzten Jahrzehnte etablieren konnte: die sogenannte Konkordanz, die auf die konsensuale Lösungssuche zwischen den wichtigsten Akteuren ausgerichtet ist.1 Die Suche nach der Übereinstimmung ist tief verwurzelt in der politischen Kultur des Landes. Neben dem auf Mythen konstruierten Bild und Selbstverständnis der Schweiz als Sonderfall ist die Konkordanz heute aber ein Haupthindernis für eine konstruktive Europapolitik. Ihre wichtigsten Elemente sind die stabile große Regierungskoalition, die sogenannte Zauberformel, der Interessensausgleich mit Kantonen und Verbänden sowie das Proporzsystem. Die Konkordanz hat lange Zeit stark zur Stabilität des politischen Systems beigetragen, indem sie breit abgestützte Entscheide und eine Einbindung der wichtigsten Akteure gewährleistete. Sie war gewissermaßen das beruhigende Gegenstück zur unberechenbaren direkten Demokratie, die mit dem Mehrheitsprinzip einer gegensätzlichen Logik folgt und häufiger spektakuläre Ergebnisse zeigt.2 Volksabstimmungen sind in diesem Verständnis ein Versagen der Konkordanz, da ein wichtiger Akteur nicht ausreichend in die Lösungsfindung eingebunden wurde und sich deshalb mit dem letzten Mittel eines Referendums oder einer Volksinitiative wehrt. Große Minderheiten verfügen so über ein indirektes Vetorecht, indem sie stets mit einem Referendum drohen können – ähnlich wie in der EU, wo mit Einstimmigkeitserfordernis bei wichtigen Entscheidungen Minderheiten und kleinen Staaten ein Vetorecht eingeräumt wird. Das Vielparteien-, Zweikammer- und Föderalsystem im Parlament mit einer Mischung aus Mehrheit (Nationalrat) und föderalistischer Vertretung (Ständerat) trägt ebenfalls zum sorgfältigen Austarieren der politischen Lösungen bei. Die Konkordanz beinhaltet so eine stetige Suche nach einem Gleichgewicht zwischen den Interessen verschiedener politischer Lager, aber auch der verschiedenen sprachlichen und sozialen Kulturräume. Große Kantone wie Zürich, Bern oder Waadt sind meist in der Regierung vertreten, und die Wahl von Bundesrat und Außenminister Ignazio Cassis hat den Anspruch der italienischsprachigen Minderheit und des Tessins auf eine Vertretung gezeigt. Die Konkordanz hat die Entwicklung eines bürgernahen und leistungsfähigen Staates und eines hohen Vertrauens der Bürger in die staatlichen Institutionen begünstigt und insbesondere durch die Einführung der Schuldenbremse auch zu einer tiefen Staatsverschuldung beigetragen. Gleichzeitig verwässert die Konkordanz aber auch die Verantwortung der einzelnen Akteure und verhindert politische Führung durch die Regierung in entscheidenden Momenten. Es gibt keinen Wettbewerb um Regierungsverantwortung, und ein Versagen hat keine Konsequenzen, da die Wiederwahl aufgrund der Sitzverteilung zwischen den Parteien in den meisten Fällen gesichert ist. So besteht auch keine Möglichkeit für ein Misstrauensvotum wie in anderen Ländern, um die Regierung zu kippen. Da es keine Volkswahl der Regierung und damit der Führungsfiguren gibt, findet der Wahlkampf als Wettbewerb der Parteien statt, die die Sorgen der Bevölkerung am besten zu adressieren suchen, statt sich durch Lösungskompetenz zu profilieren. Dabei gewinnt häufig die ideologisch klarste und dogmatische Position, die von den Polparteien links (SP/Grüne) und rechts (SVP) vertreten wird. Diese müssen jedoch durch die Unabhängigkeit von Legislative und Exekutive trotz ihrer gemeinsamen Mehrheit im Bundesrat keine Verantwortung für den Kurs des Landes übernehmen. Die SVP hat dieses Doppelspiel zwischen Regierung und Opposition in den letzten Jahren zur Meisterschaft getrieben, indem sie zwar als größte Partei und mit zwei Mitgliedern im Bundesrat vertreten war, aber gleichzeitig der classe politique des Landes den Kampf ansagt und jegliche Verantwortung für das Handeln der Regierung verweigert. Besonders eklatant und absurd war dies während der Coronakrise zu sehen, als der SVP-Präsident die Regierung als „Diktatur“ verunglimpfte.3 Im Unterschied zu den meisten anderen Ländern gibt es in der Schweiz weder ein Regierungsprogramm noch eine Regierungschefin oder einen Regierungschef, eine diesem zustehende Richtlinienkompetenz oder eine langfristige Strategie. Die Europapolitik ist von diesem systemimmanenten Führungsvakuum und der Verantwortungsdiffusion besonders betroffen, was in der Debatte um ein Rahmenabkommen mit der EU gut zu beobachten war: Niemand wollte sich die Finger an der heißen Kartoffel verbrennen, und der Bundesrat war strategie- und entscheidungsunfähig. Durch die langwierigen Aushandlungsprozesse bei der Kompromisssuche kann die Konkordanz auch zu einem generellen Reformstau führen, wobei die längst notwendige Reform der Altersvorsorge das problematischste Beispiel dafür ist. Innovationen sind kaum möglich, und der Kompromiss reicht nicht immer zur Lösung des eigentlichen Problems. Entscheidungsprozesse im von der Konkordanz geprägten Schweizer System sind langsam und inklusiv. Dies war in der Vergangenheit häufig eine Stärke, da durch die Entschleunigung der Entscheidungsprozesse sprunghafte und teure Fehlentwicklungen verhindert werden konnten. Die Behäbigkeit und Skepsis der Schweizer gegenüber großen Würfen ist beinahe klischeehaft, hat dem Land aber in der Vergangenheit häufig genützt. In Zeiten der forcierten Globalisierung und Digitalisierung sowie des Angriffskriegs auf die Ukraine ist jedoch unklar, ob es noch mit den künftigen Herausforderungen umgehen und rechtzeitig Lösungen zu den wichtigsten Fragen produzieren kann – insbesondere bei einer Veränderung der Rahmenbedingungen. Die innenpolitischen Kompromiss- und Einbindungsmechanismen stoßen in internationalen Verhandlungen an Grenzen. Die direkte Demokratie diente in der Vergangenheit mit Referenden oder auch Volksinitiativen als Korrekturinstrument, wenn die Konkordanz versagte. Es ist jedoch fraglich, ob sie diese Rolle auch in Zukunft zu spielen vermag oder ob es Reformen im politischen System der Schweiz braucht. Ein Regierungs- und Oppositionssystem wie in anderen Ländern würde nicht passen für die Schweiz, aber ein die Bundesratsparteien verpflichtendes minimales Regierungsprogramm könnte Anreize zur Lösung der anstehenden Probleme setzen.4 2.2. Die Schweizer Konkordanz im internationalen Vergleich
Alle großen europäischen Länder haben eine Mehrheitsdemokratie – auch Konkurrenzdemokratie genannt –, bei der die Parteien zwischen Regierung und Opposition wechseln und die Politik mit jedem Machtwechsel neu ausgerichtet wird. Die wesentlichen Konflikte werden durch politische Mehrheiten entschieden. Die Konkordanzdemokratie der Schweiz ist ein Gegenmodell dazu. Elemente davon finden sich auch in Österreich, den Niederlanden oder in Belgien. Oft sind es Länder mit einer stark zerklüfteten Gesellschaftsstruktur, die diverse Minderheiten einbinden müssen, um ein Auseinanderbrechen zu verhindern und Stabilität zu gewährleisten. Die Konkordanzdemokratie institutionalisiert den Minderheitenschutz und sorgt dafür, dass die Entscheidungen von den wichtigsten politischen Strömungen aus dem ganzen gesellschaftlichen Spektrum mitgetragen werden. Dies führt zu einer ausgeprägten Machtteilung und -begrenzung, die es in einer Mehrheitsdemokratie so nicht gibt. André Bächtiger und Dominik Hangartner stellten in einem internationalen Vergleich der Auswirkungen der Konkordanz auf die Parlamentsdebatten fest, dass es im Schweizer Parlament einen höheren gegenseitigen Respekt und auch mehr argumentative Überzeugungsbereitschaft gibt, da die siegreichen Koalitionen häufig wechseln und die Parteien und ParlamentarierInnen wissen, dass sie bei einem anderen Thema wieder auf eine Zusammenarbeit mit dem aktuellen Gegner angewiesen sein werden.5 Entsprechend sind die Mitteparteien häufig in wechselnde Koalitionen eingebunden und parlamentarisch sehr erfolgreich. Die wichtigsten Bedingungen für das Gelingen der Konkordanz, so der Politologe Wolf Linder, sind wechselnde Koalitionen, in denen der Ausgang von Entscheidungen ungewiss bleibt, dazu eine Kultur der Kompromissbereitschaft, die Achtung des politischen Gegners sowie der kreative Kompromiss ohne immergleiche Verlierer.6 Die Verhärtung der Fronten durch die parteipolitische Polarisierung hat jedoch auch an den Grenzen der Schweiz nicht Halt gemacht.7 Sie gehört seit dem Aufstieg der SVP und der gleichzeitigen Schwächung der bürgerlichen Mitte zu den am stärksten polarisierten Parteisystemen Europas. Von einem von der Konkordanz geprägten Sonderfall ist die Schweiz zu einem europäischen Normalfall geworden; bis in die 1980er-Jahre wurden pro Jahrzehnt nur etwa vier Volksinitiativen von Bundesratsparteien lanciert, in den 1990er-Jahren bereits sieben und seit 2000 über 20.8 Entgegen ihrer ursprünglichen Funktion nutzen die Parteien die direkte Demokratie als Instrument des Parteienwettbewerbs, obwohl sie ihre Interessen ja gleichzeitig auch im Konkordanzsystem einbringen könnten. Wenn Regierungsparteien so das Oppositionsinstrument der Volksinitiativen missbrauchen, schwächen sie die Konkordanzdemokratie. Auch der Politökonom Peter Katzenstein weist darauf hin, dass gerade kleine, offene Volkswirtschaften (Small open economies) über verhandlungsbasierte Entscheidungsprozesse verfügen.9 So können divergierende Interessen...


Nicola Forster, geb. 1985, ist ein Schweizer Politiker und zivilgesellschaftlicher Unternehmer. Er ist Gründer des Think-Tanks foraus (Forum Aussenpolitik) und des Staatslabors, Präsident der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) sowie Co-Präsident der Grünliberalen Partei (GLP) des Kantons Zürich.
Andreas Schwab, geb. 1973, ist seit 2004 Europaabgeordneter für die CDU aus der Südwestecke Baden-Württembergs in der Fraktion der Europäischen Volkspartei und Bezirksvorsitzender der CDU Südbaden. Seit 2019 ist er zudem Vorsitzender der EWR/EFTA Delegation des Europäischen Parlaments, zu der auch die Schweiz gehört.


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