Freitag / Vatter | Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band Band 3 3, 480 Seiten, Gewicht: 1 g

Reihe: Politik und Gesellschaft in der Schweiz

Freitag / Vatter Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz

E-Book, Deutsch, Band Band 3 3, 480 Seiten, Gewicht: 1 g

Reihe: Politik und Gesellschaft in der Schweiz

ISBN: 978-3-03810-124-6
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Band 3 der Reihe 'Politik und Gesellschaft in der Schweiz'.
Wer wählt in der Schweiz wen und warum? Welche Schweizer wählen die SVP? Sind die Wähler der GLP grün oder liberal? Sind die Linken auch die Netten? Wählen Reiche heute links und Arbeiter rechts? Welches Profil weisen die gewählten Volksvertreter auf? Was haben BDP-und CVP-Wähler gemeinsam? Beeinflussen Wahlsysteme das Wahlverhalten in der Schweiz? Welche Effekte haben Wahlkampagnen? Entscheiden Themen, Köpfe oder Zuneigungen zur Partei die Wahl? Wer geht nicht zur Wahl? Diesen und anderen zentralen Fragestellungen gehen Berner Politikwissenschaftler in vertieften Beiträgen zur Wahlbeteiligung und zur Wahlentscheidung im Vorfeld der Nationalratswahlen und Ständeratswahlen 2015 nach. Untersucht werden sowohl die Rahmenbedingungen, Einstellungen, Verhaltensmuster und Motive des einzelnen Wählers als auch die Voraussetzungen und Bedingungen seiner Wahlbeteiligung.
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Wenn die Regeln die Resultate bestimmen: die Wirkungen des schweizerischen Wahlsystems auf die Wahlerfolge und Repräsentation der Parteien
Adrian Vatter
1. Einleitung
Wahlsysteme bilden die Spielregeln, nach denen die Wähler ihre politischen Präferenzen für Parteien und Kandidierende in Stimmen ausdrücken und diese in Mandate übertragen werden. Sie prägen den Charakter eines politischen Systems entscheidend mit und werden von führenden Politikwissenschaftlern als «the most fundamental element of representative democracy» betrachtet (Lijphart 1994: 1).1 Der Grund liegt darin, dass es sich bei der Gestaltung des Wahlsystems im Kern um eine zentrale Machtfrage handelt, die darüber entscheidet, welche politischen Gruppierungen die Parlamentsmehrheit stellen und welche in der Minderheit sind (Nohlen 2009: 68). Wahlsysteme stellen damit ein Spiegelbild der realen Machtverhältnisse dar und lassen entsprechend konkrete Rückschlüsse auf das Machtkalkül und die Strategien der politischen Akteure zu (Rokkan 1970: 156 ff.). Auch in der Schweiz hat der grundlegende Wechsel vom Majorz- zum Proporzwahlsystem zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Wandel der realen Stärkeverhältnisse geführt, der durch den fortlaufenden Bedeutungsverlust der freisinnigen Partei zum Ausdruck gebracht wird. Während das damals eingeführte Proporzwahlsystem bei den Nationalratswahlen lange Zeit unumstritten war, ist es in den letzten Jahren im Zuge der Debatte über ein «möglichst gerechtes» Wahlsystem von kleineren Parteien zunehmend infrage gestellt worden (Bundeskanzlei 2013). Eine ähnliche Entwicklung findet sich auch in den Kantonen und Gemeinden: Insbesondere das Anliegen einer möglichst unverfälschten Wiedergabe des Wählerwillens war Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen im Kontext von Verfassungsrevisionen, Volksentscheiden und Bundesgerichtsurteilen. Dies hat in rund einem halben Dutzend Kantone auch zur Einführung möglichst proportionaler Wahlsysteme («doppelter Pukelsheim») mit beträchtlichen Auswirkungen geführt (Vatter 2014). Der Beitrag geht den Konsequenzen der wichtigsten Ausprägungen des schweizerischen Wahlsystems nach. Nach einem Überblick über die historischen Entwicklungslinien und die aktuelle Ausgestaltung des Wahlverfahrens für den Nationalrat2 steht die Behandlung der Frage im Zentrum, wer von den spezifischen Charakteristika des schweizerischen Wahlsystems profitiert und wer davon benachteiligt wird. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, wieweit das schweizerische Wahlverfahren die drei Kernfunktionen von Wahlsystemen, nämlich diejenigen der Repräsentation, Konzentration und Partizipation, zu erfüllen vermag, wobei der Schwerpunkt beim ersten Kriterium liegt. Das Kapitel schliesst mit einer zusammenfassenden Betrachtung. 2. Die historische Entwicklung des schweizerischen Wahlsystems
Gemäss der Bundesverfassung von 1848 waren grundsätzlich alle männlichen Schweizer ab 20 Jahren zu den eidgenössischen Parlamentswahlen zugelassen, womit die Schweiz ursprünglich zu den Pionieren bei der Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten männlichen Wahlrechts in Europa gehörte. Allerdings legten die Kantone ihre Ausschlussgründe so rigoros aus, dass sie bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts de facto ein Zensuswahlrecht praktizierten. So wurden in der Mehrzahl der Kantone vor allem Niedergelassene und Aufenthalter aus anderen Kantonen, Armengenössige, Konkursite, Steuerschuldner, Verurteilte und Bevormundete vom eidgenössischen Wahlrecht ausgeschlossen. In einzelnen Kantonen wurden auch mit Wirtshausverbot Bestrafte (Bern, Schwyz, Freiburg, Solothurn, Aargau), Wahlbetrüger (Tessin), Erbschaftsverweigerer (Wallis), Söldner (Neuenburg, Genf), Bettler und Landstreicher (Solothurn) sowie Personen ohne genügenden Religionsunterricht (Appenzell Innerrhoden) von der Wahl ferngehalten (Gruner 1978: 127, 143; Poledna 2007).3 Insbesondere durch die Niedergelassenen und Aufenthalter boten sich den Parteien zahlreiche Gelegenheiten zur Manipulation des Wahlakts, und es vergingen Jahrzehnte, bis jeder Schweizer Bürger unabhängig von seinem Wohnstatus an den Nationalratswahlen teilnehmen konnte und die Vorrechte der Alteingesessenen abgeschafft wurden. Einzelne Kantone (Luzern, Schwyz, Zug, Tessin) hielten auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Formen des Zensuswahlrechts fest, indem sie bei nicht bezahlten Steuern das Wahl- und Stimmrecht aberkannten. Insgesamt schwankte der Anteil der Wahlberechtigten an der Gesamtbevölkerung im Zeitraum von 1850 bis 1910 zwischen 23 und 25 Prozent (vgl. Abbildung 1). Dies stellt zwar einen im internationalen Vergleich hohen Wert dar, macht aber die wahlrechtliche Diskriminierung einzelner Gesellschaftsgruppen offensichtlich, «die vornehmlich den unteren sozialen Schichten angehörten» (Gruner 1978: 117). Dieses bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts praktizierte Zensuswahlrecht benachteiligte insbesondere die sozialdemokratische Wählerschaft. Während auch nach der Einführung des Proporzwahlsystems 1919 ursprünglich nur männliche Schweizer zu den Wahlen zugelassen waren, scheiterten Anfang der 1920er-Jahre erste Versuche auf kantonaler Ebene, das Wahlrecht für Frauen einzuführen. 1959 kam es zur ersten Bundesabstimmung über die Einführung des Frauenstimmrechts, die jedoch von den wahlberechtigten Männern abgelehnt wurde. Damit betrug der Anteil der Wahlberechtigten an der gesamten Bevölkerung bis Ende der 1960er-Jahre weniger als 30 Prozent. Erst 1971 wurden die politischen Rechte auf Bundesebene den Frauen durch eine Volksabstimmung zugesprochen, wodurch die Schweiz im Vergleich mit anderen etablierten Demokratien das Schlusslicht darstellte. Auch die Herabsetzung des Mindestalters für das Stimm- und Wahlrecht war ein langwieriger Prozess. So wurde erst 1991 das Stimm- und Wahlrechtsalter auf Bundesebene von 20 auf 18 Jahre gesenkt. Aufgrund des bis heute fehlenden Ausländerstimmrechts bei den Nationalratswahlen liegt der Anteil der Wahlberechtigten an der gesamten Wohnbevölkerung in der Schweiz bei rund zwei Drittel. Von Beginn weg unbestritten war die Durchführung der Nationalratswahlen in den Kantonen als eigenständige Wahlkreise anstelle eines einzigen nationalen Einheitswahlkreises. Damit sollte ein gewisser regionaler «Proporz» im Sinne einer Vertretung aller, insbesondere auch der kleinen Kantone, gewährleistet werden. Deshalb wurde auch eine Zusammenlegung einiger kleinerer Kantone zu einem einzigen Wahlkreis ausgeschlossen. Das föderal motivierte Bekenntnis zum sogenannten «geografischen Proporz» (Gruner 1978: 548) bot damit zwar der katholisch-konservativen Minderheit vereinzelt die Chance, eine ihr günstige Wahlkreisgestaltung in den von ihr dominierten ehemaligen Sonderbundskantonen4 vorzunehmen. Insgesamt nutzte aber hauptsächlich die freisinnig-radikale Mehrheitspartei die Wahlkreisgestaltung flächendeckend in ihrem Interesse. Nachdem sich das Parlament 1848 für eine variable Sitzzahl im Nationalrat ausgesprochen hatte, waren die Wahlkreiseinteilung und die Anzahl der Sitze pro kantonalen Wahlkreis nach jeder Volkszählung neu vorzunehmen.5 Dies führte dazu, dass nicht nur die Wahlkreisgrenzen innerhalb der Kantone oft nach politischen Gesichtspunkten gezogen wurden, sondern ebenso die Verteilung der neu zu vergebenden Sitze an die einzelnen Wahlkreise, um insbesondere den bundesfreundlichen Parteien eine Mehrheit zu verschaffen (Wahlkreisgeometrie; gerrymandering). Gerade das starke Bevölkerungswachstum in urbanen Gebieten zu Beginn des 20. Jahrhunderts bot der freisinnigen Partei grossen Spielraum, durch die gezielte Verteilung zusätzlicher Sitze ihre Mehrheitsstellung zu stärken, während diese Praxis vor allem für die Minderheitenparteien wie die Sozialdemokraten und die Diasporakatholiken von Nachteil war. Ein Blick in die Entstehungsgeschichte des schweizerischen Bundesstaates zeigt, dass die Mehrheitswahl in Pluralwahlkreisen lange Zeit die vorherrschende Wahlregel war (Kölz 2004; Lutz 2004). So wurde 1848 für die eidgenössischen Parlamentswahlen die Mehrheitswahl mit absolutem Mehr im ersten und zweiten Wahlgang (und mit relativem Mehr im dritten Durchgang) in Wahlkreisen mit einem oder mehreren zu verteilenden Sitzen eingeführt.6 Im damals unumstrittenen Mehrheitswahlsystem sahen die liberal-radikalen Sieger ein geeignetes Mittel, um dem durch den Bürgerkrieg gespaltenen jungen Bundesstaat eine funktionsfähige und stabile Exekutive zu geben, die sich auf eine sichere Mehrheit im Parlament stützen konnte (Gruner 1978: 95). Erst 1872 wurde im Zuge der geplanten Verfassungsrevision zum ersten Mal über die Einführung des Verhältniswahlrechts debattiert. Die führende freisinnige Partei, die über eine absolute Mehrheit in der Bundesversammlung verfügte, sprach sich jedoch klar dagegen aus.7 Als Folge von politischen Unruhen, Pattsituationen zwischen ähnlich starken Parteien und Konflikten innerhalb des rechten Lagers führten einzelne Kantone erstmalig die Verhältniswahl bei kantonalen Grossratswahlen ein, so zwischen 1890 und 1892 die Kantone Tessin, Neuenburg und Genf (Lutz und Zila 2009). Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wuchs die Zahl auf 9,5 und die Kantone sammelten damit erste positive Erfahrungen mit dem neuartigen Wahlsystem, die auch die eidgenössische Proporzdebatte prägten. Unter dem Eindruck des für die Minderheitenparteien ungerechten Majorzwahlsystems und der für sie enttäuschenden Wahlkreisrevision von 1890 setzten sich vor allem die Linke sowie die reformierten und katholischen Konservativen in einer Zweckallianz für die Einführung des Proporzwahlsystems ein. Allerdings scheiterten 1900 und...


Markus Freitag, Prof. Dr., studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Germanistik. Nach Aufenthalten an der ETH Zürich und den Universitäten Bern, Basel, Berlin und Konstanz ist er Ordinarius und Direktor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern und Inhaber des dortigen Lehrstuhls für Politische Soziologie. Zahlreiche Publikationen.
Adrian Vatter, Prof., Dr., ordentlicher Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Schweizer Politik und Direktor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Weitere Forschungsschwerpunkte: politische Institutionen der Machtteilung und die empirische Demokratieforschung. Zahlreiche Publikationen.


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