Gahlen / Gnosa / Janz | Nerven und Krieg | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 10, 428 Seiten

Reihe: Krieg und Konflikt

Gahlen / Gnosa / Janz Nerven und Krieg

Psychische Mobilisierungs- und Leidenserfahrungen in Deutschland (1900–1939)

E-Book, Deutsch, Band 10, 428 Seiten

Reihe: Krieg und Konflikt

ISBN: 978-3-593-44541-0
Verlag: Campus Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



In den deutschen Kriegsdebatten ging es seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts auch um die Frage, welche Belastungen ein zukünftiger Krieg den Nerven der Bevölkerung abverlangen würde. Im Ersten Weltkrieg etablierten sich dann Nervenstärke und Nervenschwäche als häufig benutzte Kampfbegriffe; hinzu kam nun die massenhafte Erfahrung von psychischen Versehrungen und deren Behandlung. Dieser Band lotet das Verhältnis von Nerven und Krieg in der Vor- und Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs erstmals systematisch aus. Er richtet den Blick sowohl auf die zeitgenössischen Nervendiskurse wie auch auf individuelle wie gesellschaftliche psychische Mobilisierungs- und Leidenserfahrungen.
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Weitere Infos & Material


Inhalt
Vorwort 9

Nerven und Krieg – Einführung
Gundula Gahlen, Ralf Gnosa, Oliver Janz 11
I. Medizinische Diskurse über Nerven und Krieg
Die Nerven und Nervositätsdebatten vor 1914 – Organische
Schwäche oder traumatische Neurose
Bernd Ulrich 21
Die Wende zur »Willenskultur« in der Nerventherapie und das
nervöse Doppelgesicht des Krieges
Joachim Radkau 37
Psyche, Trauma und Kollektiv – Der psychiatrische Diskurs über
die erschütterten Nerven der Nation
David Freis 53
»Bis zur Unlöslichkeit verwickelt« – Zum Konzept von »Krieg
und Geistesstörung« bei Gustav Specht
Susanne UdeKoeller 77
II. Die Nerven der Kriegsteilnehmer an Front und Heimatfront 1914–1918
Zur Ambivalenz der Zermürbung – Die »Nerven« der Frontsoldaten
in öffentlichen und privaten Kriegsdeutungen 1914–1918
Christoph Nübel 101
Die Nerven der Offiziere als militärisches Problem – Diskurse und Handlungsstrategien in der deutschen Armee 1914–1918
Gundula Gahlen 121
Reassessing the Approach to War Hysterics during World War I
in Germany – Rhetoric, Reality, and Revelations
Rebecca A. Bennette 141
Zwischen »KaufmannKur« und Baldrian – Diskurse und
Praktiken militärpsychiatrischer Therapiemethoden im Ersten
Weltkrieg (1914–1918)
Philipp Rauh 171
Die Nerven der Anderen – Britische und deutsche Psychologen
im Ersten Weltkrieg. Ein Vergleich
Andrea Gräfin von Hohenthal 199
Die Nerven der »Daheimgebliebenen« – Die Familienangehörigen
der Soldaten in emotionshistorischer Perspektive
Silke Fehlemann 227
III. Fortwährende Leiden, Nervendiskurse und mediale Deutungsmuster in der Nachkriegszeit
Contested Memories of Traumatic Neurosis in Weimar and
Nazi Germany
Jason Crouthamel 253
Sendung und Bewusstsein – Deutsche Psychiater nach dem Ersten Weltkrieg
Thomas Beddies 273
Die Nerven der Stahlhelmmänner – Weltkriegserinnerung und Selbstverständnis in der Organisation »Der StahlhelmBund der Frontsoldaten« 1918–1933
Dennis Werberg 293
Normalität Kampfbereitschaft, Nervenschwäche Pazifismus – Auffassungen des Krieges als Nervenprobe in literarischen
Diskursen des Ersten Weltkriegs
Olga Lantukhova 327
Nervlich angegriffene Individuen, Massen und ihre Führer –
Spiegelungen neuropsychiatrischen und massenpsychologischen Diskurswissens in Robert Reinerts Film NERVEN (1919)
Julia Barbara Köhne 345
›Die Nerven der Welt sind krank.‹ Robert Reinert's Nerven and
the scripts of the German Revolution of 1918–19
Mark Jones 391
Autorinnen und Autoren 413
Personenregister 419
Ortsregister 427


Vorwort Der vorliegende Sammelband basiert auf der internationalen Tagung »Nerven und Krieg. Psychische Mobilisierungs und Leidenserfahrungen in Deutschland 1900-1933«, die vom 12. bis 13. Oktober 2017 an der Freien Universität Berlin von Gundula Gahlen, Björn Hofmeister, Christoph Nübel und Deniza Petrova konzipiert und organisiert wurde. Die Tagung wurde von der Fritz Thyssen Stiftung, der Middlebury School in Germany, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Freien Universität Berlin finanziell gefördert. Wir bedanken uns sehr für die geleisteten Beihilfen. Daneben gilt unser Dank Bianca Weihrauch und Ali Temel (Freie Universität Berlin), welche den Organisatoren während der Tagung tatkräftig zur Seite standen, sowie Ildikó DietrichWoitge, die das Poster und die Flyer gestaltete. Auch bei der Fertigstellung des Sammelbandes haben wir vielfältige Hilfen erfahren, für die wir uns ganz herzlich bedanken möchten. Die Fritz Thyssen Stiftung gewährte eine großzügige Druckkostenbeihilfe. Brier Hylen Field, Claudia Guillemin, Madeleine LaRue und Lara Wankel (alle Freie Universität Berlin) unterstützten uns versiert beim Lektorat des Manuskripts. Die Zusammenarbeit mit Jürgen Hotz (Campus Verlag Frankfurt a.M.) gestaltete sich effizient, unkompliziert und äußerst angenehm. Unser größter Dank gilt unseren Autorinnen und Autoren, mit denen die Zusammenarbeit eine große Freude war. Berlin, im Frühjahr 2020 Gundula Gahlen Ralf Gnosa Oliver Janz Nerven und Krieg - Einführung Gundula Gahlen, Ralf Gnosa, Oliver Janz Das Thema Nerven hatte in den deutschen Kriegsdebatten seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts einen zentralen Stellenwert. In Politik, Öffentlichkeit, Militär oder Wissenschaft wurde die Frage diskutiert, welche Belastungen ein zukünftiger Krieg den Nerven der deutschen Bevölkerung abverlangen würde. Im Ersten Weltkrieg wurden Nervenstärke und Nervenschwäche dann zu häufig benutzten Kampfbegriffen. Hinzu kam nun die massenhafte Erfahrung von psychischen Versehrungen und Leiden. Und auch nach dem Kriegsende blieb die sozialpolitische Verwaltung und medizinische Behandlung der psychischen Kriegsbeschädigungen ein brisantes Thema. Gleichzeitig erfolgte eine erneute geistige Kriegsmobilisierung in der Weimarer Republik. Im »Dritten Reich« wurden schließlich durch die »Gleichschaltung« des Staates zunehmend alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in diese Entwicklung einbezogen. Trotz seiner hohen zeitgenössischen Präsenz und seines Stellenwerts ist die Erforschung dieses Themenfeldes die Ausnahme geblieben. Eine umfassende Analyse der zeitgenössischen kriegsbezogenen Nervendiskurse in Politik, Gesellschaft, Militär und Wissenschaft, die sowohl ihre Wechselwirkungen als auch ihre praktischen Konsequenzen untersucht, liegt bislang nicht vor. Die Forschung konzentriert sich bislang im Wesentlichen auf die Behandlung und Versorgung traumatisierter Kriegsversehrter. Der vorliegende Band, der auf der 2017 an der Freien Universität Berlin abgehaltenen Tagung »Nerven und Krieg. Psychische Mobilisierungs und Leidenserfahrungen von 1900 bis 1933« beruht, zielt darauf ab, dieses Desiderat zu verkleinern, indem er das Verhältnis von Nerven und Krieg in dieser erstmals systematisch auslotet und hierbei Kontinuitäten und Brüche aufzeigt. Die zentrale These des Bandes lautet, dass Nerven als Chiffre und Konstrukt zu verstehen sind, mit der Politik, Gesellschaft, Militär und Wissenschaft ihre Kriegsdeutungen und Kriegserfahrungen verhandelten. Wir definieren Nerven als Modus einer Selbstbeschreibung, mit der die angesprochenen sozialen Systeme ihr Verständnis vom und ihr Verhältnis zum Krieg bestimmten. Gemeinsamer Fluchtpunkt der Beiträge ist dabei, dass Nerven von den Zeitgenossen als zentrale Mobilisierungsressource für den Krieg betrachtet wurden. Dabei rücken die Beiträge insbesondere Wechselwirkungen zwischen Politik, Gesellschaft, Militär und Wissenschaft in den Blick. Mit Nerven verbundene Deutungen und Praktiken sprangen von einem sozialen System auf das andere über. So vermochten die popularisierten wissenschaftlichen Befunde über Nerven dem politischen oder militärischen Nervendiskurs eine besondere Glaubwürdigkeit zu verleihen, wie im Gegenzug die Nervendiskurse dieser Systeme auf die Wissenschaft zurückwirkten. Die besondere Evidenz und Deutungsmacht der Chiffre »Nerven« ergibt sich aus diesen Wechselwirkungen. Das Forschungsproblem »Nerven« ist eben nicht nur auf die Medizin zu beschränken, sondern gewinnt seine Aussagekraft erst, wenn es im breiten soziokulturellen Kontext der Epoche verortet wird. Das ist von der Forschung bislang nicht berücksichtigt worden, weil sie Nerven nur am Rande oder nur auf einzelne soziale Systeme bezogen in den Blick genommen hat. Bernd Ulrich hatte bereits 1992 darauf hingewiesen, dass dem Thema »Nerven und Krieg« methodisch nur in einer »Trias von wissenschafts, medizin und sozialgeschichtlichen Perspektiven« nachgegangen werden kann. Diese Forderung greift der Sammelband auf und erweitert sie zusätzlich um eine politische und eine kulturgeschichtliche Dimension. Methodisch orientiert er sich dabei an dem historiographischen Konzept des »totalen Krieges«, das die Rückwirkung des Ersten Weltkrieges nicht nur auf die militärische Front und den Frontsoldaten, sondern mit einer breiteren Perspektive auf alle Lebens und Erfahrungsbereiche der Bevölkerungen der kriegführenden Nationen in den Blick nimmt. Entsprechend thematisiert der Band sowohl die zeitgenössischen Nervendiskurse in Wissenschaft, Militär, Politik und Öffentlichkeit wie auch individuelle und kollektive psychische Mobilisierungs und Leidenserfahrungen. Einerseits wird die diskursive Verhandlung des Themas Nerven durch die medizinischen Spezialisten, die militärischen und politischen Entscheidungsträger, durch Filmemacher und Literaten in ihren Wechselwirkungen untersucht. Andererseits richtet sich der Blick auf die Praxis, indem die Mobilisierungs und Leidenserfahrungen an der Front und in der Heimat im Ersten Weltkrieg sowie die Nachwirkungen in der Zeit nach 1918 analysiert werden. Der räumliche Schwerpunkt des Bandes liegt auf Deutschland, das im europäischen Kontext analysiert wird. Zeitlich fokussiert er auf die Endphase des Deutschen Kaiserreichs und die Zwischenkriegszeit. Dieser breit gefasste Untersuchungszeitraum knüpft an das Konzept des »langen Ersten Weltkrieges« an, mit dem gezeigt wird, dass der Erste Weltkrieg ein Katalysator von Entwicklungen war, die bereits zuvor angelegt waren, und dass der Konflikt langfristige Folgen hatte. Um 1900 hatte sich ein Konsens herausgebildet, dass ein zukünftiger Krieg den Charakter eines »Volkskrieges« annehmen würde, der auch die psychische Mobilisierung der Gesamtbevölkerung notwendig mache. Für diese Auffassung spielte eine große Rolle, dass die Nervenheilkunde mit der verstärkten Professionalisierung und in ihrer Auffächerung in Psychologie und Psychiatrie am Ende des 19. Jahrhundert zunehmend den Anspruch vertrat, Leitwissenschaft zu sein. In der Folge wurden auch soziale, politische, kulturelle und militärische Phänomene in immer stärkerem Maße psychologisch interpretiert und mitunter pathologisiert. Die wissenschaftlichen Befunde über Nerven verliehen dem politischen, militärischen und öffentlichen Nervendiskurs eine besondere Glaubwürdigkeit, wie andersherum Deutungen und Erfordernisse dieser Bereiche auf die Wissenschaft zurückwirkten. Bedeutsam war hier die um die Jahrhundertwende immer breiter geführte »Neurasthenie« Diskussion über Nervenschwäche, Stressbewältigung und männliche wie auch weibliche Angstreaktionen. Sie wurden als Reaktionen auf die Moderne gedeutet und machten sich beispielsweise in einem Boom der Kurorte bemerkbar. Einflussreich waren in diesem Kontext auch völkerpsychologische Anschauungen. In den Kriegsdebatten im frühen 20. Jahrhunderts wurde ein willensstarkes deutsches Wesen einem femininen und hysterischen französischen Charakter entgegengestellt. Gleichzeitig warnte die Völkerpsychologie vor inhärenten Gefährdungen des Nationalcharakters durch Ausprägungen von individueller oder kollektiver Willens- und Nervenschwäche, die die Lenkung und Kontrolle der Bevölkerung während eines Krieges gefährden könnten. In der Forschung ist die Kontinuität dieser Diskurse über 1914 hinaus bislang unbeachtet geblieben. Im Ersten Weltkrieg entwickelten sich Nervenstärke und schwäche zu zentralen politischen Schlagwörtern. Diskurse, die auf den Zusammenhang von Nerven, Wille und Charakter abzielten, wurden auf die Bevölkerung angewendet und waren als Mobilisierungs und Durchhaltepropaganda von großer ideologischer Potenz. Die um 1916/17 offen aufbrechenden politischen Kämpfe zwischen Annexionisten und Befürwortern eines Sieges »ohne Annexionen und Kontributionen« wurden mit psychologischen Begrifflichkeiten geführt. So wurde die Überreiztheit und das gehetzte Bewegungstempo der »Kriegstreiber« kritisiert, welche mit dem Vorwurf der willensschwachen pazifistischen »Flau und Schlappmacher« reagierten. Hinzu kam nun die massenhafte Erfahrung von psychischen Versehrungen und Leiden. Das Auftreten so genannter Kriegsneurosen war nicht nur ein therapeutisches Problem für die Militärmedizin, sondern rückte die Nervenärzte in den Mittelpunkt militärischer und staatlicher Bemühungen zur Aufrechterhaltung der Kampfkraft und Disziplin von Truppen und »Heimatfront«. Zugleich stießen die Kriegsneurosen in der Psychiatrie und Psychologie folgenreiche Debatten über seelische Traumata und Hysterie an, die aufgrund der Frage der Pensionsansprüche auch über das Ende des Krieges hinaus sozialpolitisch brisant waren. Ein weiterer Faktor war, dass die Kriegsniederlage 1918 als »nationales Trauma« empfunden wurde, das mit der Vorstellung einherging, dass die Gesellschaft paralysiert sei. Beispielhaft dafür ist die Debatte um den »kranken Volkskörper« der Weimarer Republik, in der die Niederlage als psychisches Versagen von militärischer und Heimatfront interpretiert wurde. Ein »willensstarker« politischer Führer sollte der vielstimmigen »Hysterie« der Demokratie eine kollektive »Volksgemeinschaftsutopie« entgegensetzen. Hinzu kamen radikale Deutungen des Krieges auf Seiten der paramilitärischen Kampfbünde, die seine vermeintlich stählende Wirkung auf Nerven, »Wille« und Männlichkeit der Soldaten betonten und im NSRegime dominant wurden. Diese skizzierten Entwicklungen verweisen auf die zentrale Bedeutung von Nerven, Hysterie und Neurose in den zwischen 1900 und 1939 kursierenden Kriegskonzeptionen. Sie belegen die Existenz von Kriegsmobilisierungsdiskursen in der Zwischenkriegszeit, welche um die individuelle und kollektive Kriegsbereitschaft und leistungsfähigkeit kreisten und etwa in »gesellschaftsmedizinische[n] Interventionen« der Psychiatrie Ausdruck fanden. In der Forschung wurde dieser Prozess als »Bellifizierung« beschrieben, ohne jedoch seine Reichweite auch im Hinblick auf den von den Zeitgenossen diskutierten Zusammenhang von »Nerven und Krieg« detailliert auszumessen. Der erste Teil des Bandes vermisst die medizinischen Diskurse über die Beziehung von Nerven und Krieg wie auch über die Bedeutung des Konstrukts »Nerven« als Ressource für eine erfolgreiche Kriegsführung in den zeitgenössischen medizinischen Diskursen. Die Beiträge von Joachim Radkau, Bernd Ulrich, David Freis und Susanne UdeKoeller legen eine Grundlage für die nachfolgenden Beiträge, weil sie die Relevanz medizinischer Deutungen aufzeigen und die psychiatrischen Anstrengungen in den Blick nehmen, welche auf eine Kultur des Wehrwillens und der Wehrhaftigkeit in der zivilen Gesellschaft zielten. Der zweite Teil, der sich mit den Nerven der Kriegsteilnehmer an Front und Heimatfront auseinandersetzt, widmet sich der Frage, welche Zerstörungskraft der Krieg auf die Psyche der Beteiligten ausübte und welche Anstrengungen unternommen wurden, um die Nerven der Beteiligten zu regenerieren. Hierbei werden auch die langfristigen Folgen der nervlichen Belastungen des Krieges sowie die Sinnstiftungen und politischen »Lehren« thematisiert, die hieraus gezogen wurden. Christoph Nübel und Gundula Gahlen untersuchen die »Nerven« der Frontsoldaten und Offiziere in öffentlichen und privaten Deutungen während des Krieges wie auch die Handlungsstrategien des Militärs, um mit psychischen Versehrungen umzugehen. Die Beiträge von Rebecca Bennette, Andrea von Hohenthal und Philipp Rauh gehen auf den kriegspsychiatrischen Umgang mit den Soldaten ein. Anders als von der Forschung konstatiert, wurden drakonische militärpsychiatrische Therapiermethoden keineswegs flächendeckend angewandt. Zugleich wurden Formen der Kriegsdienstverweigerung pathologisiert und damit stigmatisiert. Der Betrag von Silke Fehlemann zeigt die Relevanz emotionsgeschichtlicher Zugänge zum Ersten Weltkrieg, die bislang von der Forschung vernachlässigt wurden, im Kontext der Nervendiskurse aber zentral sind. Sie untersucht die Sorge und Trauer der »Daheimgebliebenen« im Krieg und verweist auf soziale Bruchlinien, die zuweilen quer durch Familien verliefen. Ein zentraler Befund ist, dass das Durchhalten der Heimat wesentlich in Nervendiskursen verhandelt wurde und Emotionen dabei eine zentrale Mobilisierungsressource bildeten. Der dritte Teil des Bandes blickt auf die psychischen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs, auf die Nervendiskurse und medialen Deutungsmuster in der Zwischenkriegszeit. Jason Crouthamel analysiert die Deutungen der Veteranen, die in der Weimarer Republik und in der NSZeit mit fortdauernden psychischen Leiden zu kämpfen hatten. Thomas Beddies und Dennis Werberg untersuchen die Nervendiskurse unter den zumeist nationalkonservativ eingestellten Nervenärzten und im Stahlhelm, die jeweils eine bedeutende Rolle im Prozess des Lernens aus den Weltkriegserfahrungen und einer erneuten geistigen Mobilisierung einnahmen. In beiden Gruppierungen kursierten viele Ideen, die dann in der Zeit des Nationalsozialismus zum politischen Dogma wurden. Gleichzeitig weisen aber auch die Diskurse Spezifika auf, die sich nicht als Vorgeschichte der NSZeit fassen lassen, sondern einen deutlichen Meinungspluralismus offenbaren. Die Beiträge von Olga Lantukhova, Julia Köhne und Mark Jones widmen sich der Bedeutung von »Nerven« in Sinnstiftungsnarrativen und medialen Deutungsmustern. Sie unterstreichen die Intensität der Deutungskämpfe um das Erbe des Krieges und arbeiten heraus, dass im Nervendiskurs Männlichkeitskonzepte und die Vorstellung einer »nervösen Epidemie« innerhalb der deutschen Nachkriegsgesellschaft verhandelt wurden. Das zeigt, dass mit dem Ersten Weltkrieg soziale Normen ins Wanken geraten waren, deren Gültigkeit mit der Chiffre »Nerven« von den Zeitgenossen nachgespürt wurde.


Gnosa, Ralf
Ralf Gnosa ist als Schriftsteller und Literaturwissenschaftler tätig.

Gahlen, Gundula
Gundula Gahlen, Dr. phil., PD für Neuere und Neueste Geschichte, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Janz, Oliver
Oliver Janz ist Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin.

Gundula Gahlen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin an der Charité Berlin. Ralf Gnosa ist als Schriftsteller und Literaturwissenschaftler tätig. Oliver Janz ist Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin.


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