Gajek / Lorke | Soziale Ungleichheit im Visier | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 334 Seiten

Gajek / Lorke Soziale Ungleichheit im Visier

Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945

E-Book, Deutsch, 334 Seiten

ISBN: 978-3-593-43247-2
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Nur selten blicken Arbeiten zum Thema Armut auf das Gegenstück: Reichtum. Kann man das eine soziale Phänomen ohne das andere überhaupt denken, lesen oder gar analysieren? Dieser Band eröffnet eine interdisziplinäre Perspektive auf bislang nicht zusammengedachte soziale Vorstellungen und vergleicht dabei grenz- und fachübergreifende Wahrnehmungsweisen miteinander. Ein wesentlicher Schwerpunkt liegt dabei auf der Rolle der Massenmedien.
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Inhalt(An)Ordnungen des Sozialen. "Armut" und "Reichtum" in Konstruktion und Imagination nach 1945Eva Maria Gajek und Christoph Lorke 7Teil I. Oben - Mitte - Unten."Arm" und "Reich" in der "alten" Bundesrepublik und den USAMediale Repräsentationen Hamburger Unternehmer in der "alten" BundesrepublikLu Seegers 33Reichtum im Fernsehen der 1980er Jahre. Rezeption von Dallas und Denver Clan in der westdeutschen ÖffentlichkeitAnne Kurr 57Kein Zeitalter der Extreme. Die Mitte als gesellschaftliches Leitbild in der BundesrepublikRüdiger Schmidt 85Konstruierte Unterschiede. Die untere Mittelklasse, Populisten und der US-Wohlfahrtsstaat in den 1960er JahrenChristian Johann 101"The poorest of the poor in this country". Die Culture of Poverty und Debatten um die Armut mexikanischer Einwandererfamilienin den USA der 1960er JahreClaudia Roesch 131?Teil II. Utopien des Egalitarismus.Soziale Imaginationen und soziale Abweichungen im StaatssozialismusDie egalitäre DDR? Staatssozialistische Intersektionalität und der lange Schatten des Intershops Jens Gieseke 163Media Images of "Conspicuous Consumption" and Private Entrepreneurs in Post-communist PolandPatryk Wasiak 181Erlaubte Wörter, verbotene Bilder. Armut und Reichtum in Medien der Volksrepublik BulgarienAnelia Kassabova 205Tunejadstvo in der Sowjetunion. Zeitautonomie zwischen staatlicher Repression und individuellen GestaltungsansprüchenTatiana Hofmann 231Teil III. Erinnerungen, Selbstzeugnisse und gegenwärtige Reflexionen. "Armut" und "Reichtum" in individuellen KonstruktionenIn der besseren Hälfte Deutschlands. Biografische Erinnerungen an soziale Gerechtigkeit und Solidarität in der DDRSabine Kittel 253"Aber damals waren wir alle gleich." Nostalgische Repräsentationen über Armut, Reichtum und Gleichheit in der späten SowjetunionKirsten Bönker 275Selbstzeugnisse von Obdachlosen. Zur medienspezifischen Varietät von ArmutsbildernGertraud Koch und Bernd Jürgen Warneken 291Der Konsum der Reichen. Ein Essay zur gegenwärtigen LageThomas Hecken 311Autorinnen und Autoren 329


(An)Ordnungen des Sozialen. "Armut" und "Reichtum" in Konstruktion und Imagination seit 1945
Eva Maria Gajek und Christoph Lorke
Das Institut für Demoskopie in Allensbach führte in den Jahren 1955, 1964 und 1971 eine Umfrage durch, die sich unter anderem mit der fol-genden Frage an die westdeutsche Bevölkerung wandte: "Würden Sie selbst gern in einem Land leben, in dem es keine Reichen und keine Armen gibt, sondern alle möglichst gleich viel haben?" Während in den 1950er Jahren noch die Hälfte (49 Prozent) der Befragten mit "ja, möchte ich" antworteten, waren es neun Jahre später weitaus weniger (37 Prozent). Zu Beginn der 1970er Jahre bejahte dann wieder gut die Hälfte aller Personen diese Frage der Demoskopen (51 Prozent). Soziale Ungleichheit ist und war in der bundesdeutschen Gesellschaft eine blei-bende Konstante, auch wenn sich das Niveau von Einkommen und Ver-mögen fortwährend wandelte. Was ebenfalls stetigen Veränderungen unterlag und daher stets im zeitlichen Kontext zu diskutieren ist, ist die Bewertung sozialer Ungleichheit, was nicht zuletzt die Zahlen dieser gerade einmal gut fünfzehn Jahre auseinanderliegenden Umfragen nahe legen.
Die Bundesrepublik durchlebte seit ihrer Gründung verschiedene Phasen der Wahrnehmung sozialer Disparität, die eng mit der soziologischen Erforschung und damit der Konzeptualisierung von "Ungleichheit" ver-knüpft waren. Hans-Ulrich Wehler unterscheidet dabei vier Zeitabschnitte, denen unterschiedliche Ungleichheitskonzepte zu Grunde lagen und die dadurch auch unterschiedlich gewichtete Diskussionen initiierten. Hatten die Wirren der untermittelbaren Nachkriegszeit und nicht zuletzt die Währungsreform die Auflösung ökonomischer und sozialer Hierarchien suggeriert, die der Soziologe Helmut Schelsky dann in den 1950er Jahren mit dem Begriff der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" auf den Punkt brachte, setzte der gesellschaftliche Wandel in einer zweiten Phase seit Mitte der 1960er Jahre bis etwa zur Mitte der 1970er Jahre erste kritische Stimmen frei. Nicht nur neomarxistische Strömungen innerhalb der Soziologie bemängelten die weitgehende Nicht-Reflexion sozialer Schieflagen in Wissenschaft und Öffentlichkeit und lieferten alternative gesellschaftliche Beschreibungsformeln. In der dritten Phase bis Mitte der 1980er Jahre wiederum rückte nunmehr jenseits der vertikalen die horizontale Ungleichheit in den Blick. Zum Untersuchungsgegenstand der Soziologie wurden fortan neben dem Geschlecht, dem Alter und der Ethnie auch die Familie, die Generation oder die Region. Diese breitere Kontextualisierung der sozialen Ungleichheit setzte sich in der vierten und letzten Phase mit der "kulturalistischen Wende" weiter fort, die mit einer Lebensstilanalyse die Begriffe Individualisierung, Pluralisierung, Lebensstil und Klasse in die Diskussion einbrachte. Seit dieser Zeit, so Wehler, würden sich Forschung sowie gesamtgesellschaftliche Debatten vorrangig an der Beckschen Vorstellung einer "Risikogesellschaft" abarbeiten.
In jüngster Zeit könnte den aufmerksamen Zeitungsleser das Gefühl beschleichen, das Thema der sozialen Ungleichheit durchlebe eine mar-kante Perspektiverweiterung. Es spricht gar einiges dafür, nun möglicher-weise von einer fünften Phase zu sprechen. Denn das 2013 erschienene Buch von Thomas Piketty erneuerte die Diskussionen über die Vermögensverteilung und setze, so der Deutschlandfunk, eine "Pikettymania" frei, die den Franzosen als "Popstar der Wirtschaftswissenschaften" feiere. Der Ökonom, der eine Untersuchung der Vermögensverteilung seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart vornimmt, kommt zu dem zentralen Befund, dass insbesondere seit den 1970ern von einer oligarchi-schen Verteilung des Reichtums zu sprechen sei. Diese Art Refeudalisie-rung prägt, lautet eine seiner zentralen Thesen, bis heute die soziale Realität und strukturiert wiederum auch aktuelle gesellschaftliche Diskussionen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Hans-Ulrich Wehler in seinem Buch über die "Neue Umverteilung". Angesichts gegenwärtig zu beobachtender "Formen krasser Ungleichheit", durch die Lebenslage vieler "Hartz-IV"-Empfänger einerseits und "obszöne" Managergehälter andererseits versinnbildlicht, dürfte, so Wehlers Prophezeiung, die soziale Frage eines der Kernthemen zukünftiger gesellschaftlicher Debatten werden.
Piketty und Wehler gehen in ihren Analysen einen neuen Weg, indem sie die beiden Pole sozialer Ungleichheit gemeinsam in den Blick nehmen. Das Forschungsfeld zur sozialen Ungleichheit war bisher nämlich in auf-fälliger Weise separiert: Zwar entwickelte sich seit Mitte der 1990er Jahre eine soziologische Vermögensforschung, die jedoch ohne fundierte historische Tiefenbohrung die zeitgenössische Bewertung von Reichtum in den Blick nahm. Die Geschichtswissenschaft hat den Sozialwissenschaften dabei auch keinerlei Schützenhilfe geleistet, sondern sich in der Untersuchung des Sozialphänomens auffällig zurückgehalten. Auch wenn sich die Bürgertums- und Adelsforschung bereits mit sozialen Praktiken von Reichen beschäftigt hat, ist die Frage nach der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Legitimation des Vermögens bislang nicht gestellt worden. Es muss vielmehr konstatiert werden, dass das historische Wissen über das Sozialphänomen Reichtum bis heute marginal ist. Die ersten wissenschaftlichen Studien - zunächst vor allem aus der Soziologie und Ethnologie - lieferten abseits der Ergebnisse zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand wichtige Hinweise auf Begriffe und Problemfelder von Reichtum, die jedoch einer historischen Überprüfung bedürfen. Dominant in der gesellschaftlichen Wahr-nehmung von Reichtum waren weitaus stärker die medialen Aneignungen, die gerade in der letzten Zeit eine Renaissance erleben. Neben der zahlrei-chen populärwissenschaftlichen Literatur zu reichen Familien(-dynastien) legte der Spiegel seine Mitte der 1960er Jahre publizierte Serie "Die Reichen in Deutschland" in den 2010er Jahren erneut auf, und zwar unter dem Titel: "Deutschland - deine Reichen". Trotz der zeitlichen Differenz von fast einem halben Jahrhundert kommt das Nachrich-tenmagazin zu einer ganz ähnlichen Pointe: Die deutschen Reichen besit-zen ein ambivalentes Verhältnis zu ihrem Reichtum: Zeigen und Verber-gen, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit charakterisieren hierzulande in Me-dien und Öffentlichkeit die Inszenierungen von Wohlstand, Vermögen und Besitz. Dieser Befund gilt jedoch nicht nur für das obere Prozent der deutschen Gesellschaft, sondern muss als wichtige Untersuchungsperspektive zeitgenössischer Konstruktions- und Wahrnehmungsmuster der sozialen Ungleichheit generell verstanden wer-den. So greift das noch näher zu diskutierende Wechselspiel aus Sicht-barkeit und Unsichtbarkeit auch bei einer Geschichte der Armut in auffälliger Weise.
"Armut" wurde als soziale Erscheinung in der Bundesrepublik journa-listisch etwa zeitgleich, im Gegensatz zum Gegenstand Reichtum jedoch noch früher wissenschaftlich "entdeckt". Viele dieser Untersuchungen forcierten nicht nur im Zuge der "Neuen Sozialen Frage", sondern auch etwa zehn Jahre später während der Debatte um die "Neue Armut" die Politisierung des Sozialen. Doch erst ab den frühen 1990er Jahren setzte eine retrospektiv-bilanzierende Beschäftigung mit dem Sozialphänomen in der bundesdeutschen Geschichte ein, zur selben Zeit also, wie dies auch für Reichtum zu konstatieren ist. Vorrangig aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wurde seinerzeit dem öffentlichen Stellenwert und den unter-schiedlichen Wahrnehmungsformen von Armut im historischen Verlauf nachgespürt. Die Studien grenzen aber den Gegenpol Reichtum größten-teils aus. Gleiches lässt sich für die in letzter Zeit auch von Seiten der Geschichtswissenschaft vorgelegten Vorschläge zur Historisierung bun-desdeutscher Armut bzw. Armutswahrnehmung festhalten. Eine zusammengedachte Geschichte, die die soziologisch-theoretischen Reflexionen über soziale Ungleichheit historisch ergänzt und die beiden Seiten der Extreme ins Visier nimmt, fehlt indes.
Eine weitere Leerstelle bildet für beide Pole ferner die Berücksichtigung der DDR innerhalb dieser Überlegungen. Ungeachtet der Tatsache, dass es auch hier seit den 1960er Jahren eine intensive, wenngleich interne wissenschaftliche Beschäftigung mit Formen sozialer Ungleichheit im Rahmen einer Lebensstandardforschung gab, scheint das Zusammendenken von planwirtschaftlicher östlicher "Fürsorgediktatur" (Konrad H. Jarausch) und marktwirtschaftlicher westlicher Demokratie zu viele methodische Imponderablen mit sich zu bringen. Doch auch in der DDR existierte im hohen Maße ein Empfinden von sozialer Ungleichheit, auch wenn es hier weniger um monetäre Kategorien, sondern vordergründig um Zugang zu und Verteilung von Ressourcen sowie Privilegien ging.
Der vorliegende Sammelband setzt an dieser Schnittstelle von historischen Fragen, gegenwärtigen Debatten sowie der Verbindung von soziologischen, kulturwissenschaftlichen und historischen Zugängen zu einer Un-tersuchung von Armut und Reichtum an. Dabei greift ein Verständnis von sozialer Ungleichheit, das nicht nur die real existierende ökonomische Beschaffenheit der beiden Pole in den Blick nimmt, sondern diese eng mit anderen sozialen Bedingungen verknüpft. Folglich geht es nicht vordergründig um statistische Erhebungen von Armut und Reichtum, deren Produktionsbedingungen wiederum eigene, quellenkritisch-methodi-sche Problematiken aufwürfen. Anknüpfend an die aktuelle soziologische und kulturhistorische Forschung werden die beiden Antipoden vielmehr als politisch-normative Relationsbegriffe verstanden. Beide besitzen - wie in der Regel alle sozialen Phänomene - keine einheitliche, fest verbindliche oder gar "eindeutige" Definition. Vielmehr unterliegen sie als veränderliche Strukturmerkmale einem historischen Wandel. Die Messkategorien des Gegensatzpaares sind somit nicht ein für alle Mal und damit definitorisch "irreversibel" festgelegt, ganz im Gegenteil: Ab wann ein Mensch oder eine bestimmte Lebenslage als "arm" oder "reich" verstanden werden kann, wird im historischen Verlauf allen voran durch gesellschaftliche Ausdeutungs- und Selbstver-ständigungsprozesse determiniert. Daraus resultierende Vorstellungs-welten des Sozialen werden, so soll im nächsten Punkt vertieft werden, erst durch normative Zuschreibungen hervorgebracht.
Images des Sozialen: Definition und Analysepotential
Insbesondere Massenmedien, lautet die übergeordnete Vorannahme der nachfolgenden Überlegungen, waren (und sind) in diesem Prozess normativer (Sozial-)Zuschreibung entscheidende "opinion leader" und somit Vermittler und Multiplikatoren sozialer Vorstellungswelten. Kommunika-tionswissenschaftliche Arbeiten haben ihren Einfluss hinsichtlich des (Nicht-)Sprechens und (Nicht-)Zeigens von Armut bereits erörtert. Diese Befunde gilt es nicht nur historisch zu überprüfen, sondern auch für die Gegenseite Reichtum nachzuvollziehen, zu der vergleichbare Untersuchungen noch nicht vorliegen. Massenmedien trugen mit ihren spezifischen Eigenlogiken - so die daraus folgende Ausgangshypothese - ganz maßgeblich zur Verbreitung und zur Produktion von Wissen über soziale Lagen und soziale Differenzen bei; sie waren in entscheidendem Maße an der Konstruktion sozialer Wirklichkeiten beteiligt, weil sie Wahrnehmungsmodi und Deutungsmuster determinierten und präfigurierten, Sehweisen streuten und lenkten, Aufmerksamkeiten konditionierten und kanalisierten - und dadurch soziale Imaginationen beförderten. In Anknüpfung an Émile Durkheim und Pierre Bourdieu resultieren in modernen Gesellschaften aus der Verbindung sozialer und symbolischer Formen durch spezifische Produktionsprinzipien öffent-lichkeitswirksame soziale Images von "Armut" und "Reichtum" - die nicht zuletzt auch individuelle Konstruktionen und Vorstellungswelten be-einflussen konnten.
Ausgehend von dieser Prämisse handelten nicht zuletzt Massenmedien die Etikettierungen "arm" und "reich" aus, vergaben oder verwarfen sie. Gerade mit Blick auf die Muster gesellschaftlicher Ungleichverteilung zeigt sich, dass diese sozialen Images Rückschlüsse vor allem auf die sym-bolische Ordnung innerhalb einer bestimmten Gesellschaft erlauben. Soziale Images waren zudem eng mit einer strategischen Handhabung von Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit verbunden, was somit auch auf die spezifischen Zeigbarkeitskonventionen und -regeln einer Gesellschaft hindeutet. Die Existenz dieser Images war vermutlich selten zweckfrei, vielmehr dienten sie der Orientierung und somit der Ordnung des Sozialen innerhalb einer Gesellschaft, konnten sie doch (vermeintlich) unübersichtliche, abstrakte soziale Tatsachen sinnhaft verdichten. Ihre Sichtbarkeit - bei gleichzeitiger Unsichtbarkeit der weniger offensichtlichen sozialen Realitäten - war ebenso wie die Produktion von Gegen-Images ein Umstand, der die Legitimität einer bestimmten sozialen Ordnung bestätigen oder hinterfragen konnte. Images können damit als Ausdruck öffentlich-medial verhandelter "Symptome" sozialer Selbstbeschreibungen verstanden werden, deren Untersuchung wichtige Erkenntnisse gerade über längerfristig überdauernde Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit sowie über den Umgang mit sozialer Abwei-chung für "Oben" und "Unten" liefern können.
Dabei scheint es nicht zuletzt geboten, darauf zu blicken, ob und inwiefern konstante Imaginierungsmodi von "Armut" und "Reichtum" auch immer zur "Produktion diskursiver Gewissheiten" beitrugen. Ganz im Sinne des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link ist damit nach den Kollektivsymboliken zu fragen, die es ermöglichen, aufzuzeigen, welche dominanten Narrative, Motive und Versinnbildlichungen des Sozialen nachweisbar sind. Lassen sich mehr oder weniger stabile gesellschaftlich festgelegte Rollen sozialer Risiko- bzw. Problemgruppen ausmachen? Wel-che Sozialfiguren von Reichen werden mit (il-)legitimen Vermögen wann (und weshalb) in Verbindung gebracht? Und welche Funktionen erfüllen diese Stereotypisierungen im Kontext des gesamten Sozialgefüges? Eine solche Perspektive auf die sozialen Images vermag also möglicherweise mit dazu beizutragen, die zeitgenössischen symbolischen Ordnungen des Sozialen zu dekonstruieren.
Die visuelle Kultur der Mediengesellschaften des 20. Jahrhunderts ist gekennzeichnet von Visualisierungszwängen. Gerade das Unsichtbare sichtbar zu machen, ist ein wichtiges Charakteristikum seit der massenme-dialen Sattelzeit. Massenmedien wollten und wollen nicht nur die Welt abbilden oder verdoppeln, sondern ihr Ziel war und ist es gerade, das sichtbar zu machen, was sich dem Auge des Rezipienten entzog und ent-zieht. Gleichzeitig ist es bei einer Untersuchung der sozialen Ungleichheit auf der anderen Seite wichtig zu beachten, dass jedes Sichtbare bzw. Sichtbargemachte immer das Unsichtbare mit sich führt. Gerade das in den Medienberichten Nichtgezeigte, das Verborgene, trägt zu einem besseren Verständnis von sozialer Ungleichheit als konstituierendes gesellschaftliches Sozialphänomen bei. Folglich geht es bei den nachfolgenden Überlegungen zudem um die Frage, mit welcher Methodik eine Geschichte der sozialen Ungleichheit als Wahrnehmungsgeschichte in Medien und Gesellschaft geschrieben werden kann. Was sind überhaupt abbildbare Abweichungen des Sozialen? Welches sind die Techniken der Sichtbarmachung des Unsichtbaren? Demnach ist es Anspruch der Beiträge dieses Sammelbandes, nicht nur zu beleuchten, welche Ausschnitte der Sozialphänomene gezeigt werden, sondern insbesondere warum. Damit wäre es möglich, den zeitgenössischen Strategien der Visibilisierung bzw. Invisibilisierung sowie den Leerstellen nachzuspüren. Indem sich dem Gegenstand nicht mehr nur auf die bloße Untersuchung des Dargestellten hin genähert wird, ermöglichen es die "blinden Flecken" zeitgenössischer (visueller) Kommunikation nachzuzeichnen, wie das Zeigbare die Möglichkeiten des Denk- und Sagbaren bestimmt hat und dadurch eine ebenso wichtige Aussagekraft erhielt. Ausgehend von der Annahme, dass das Gezeigte immer auch auf das Verborgene rekurriert, möchten die einzelnen Beiträge dieses Buches auch fragen, welchen Grad an gesellschaftlicher Anstößigkeit bestimmte Darbietungsformen von "arm" und "reich" in einer Gesellschaft erreichen konnten. Was war zu einer bestimmten Zeit überhaupt sag-, zeig- und darstellbar? Wann (und warum) beriefen sich Generatoren sozialer Images auf bestimmte Konnotationen?
Das (medien-)öffentliche Sprechen verschiebt sich beispielsweise nicht eben unwesentlich, wenn im Kontext von Reichtums-Darstellungen Be-griffe wie Luxus, Verschwendung, Habgier und Gewinnsucht statt solcher wie Sparsamkeit, Demut, Fleiß oder geschicktes Unternehmertum fallen. Ebenso relevant ist es weiterhin, dass die von den Massenmedien darge-botenen Images bei "Reichtum" auch immer mit einer Selbstinszenierung verknüpft sein konnten. Denn anders als die "Armen" der Gesellschaft konnten sozial besser Gestellte zumindest punktuell Einfluss auf ihre Darstellung nehmen und somit gezielt Ausschnitte "zu sehen geben".
Soziale Images standen somit letztlich auch immer für performative Machttechniken zur Durchsetzung ganz bestimmter Vorstellungen über die "richtige", also sozial akzeptierte und wünschenswerte Anordnung einer Gemeinschaft. Sie waren demgemäß Spiegel auch soziokultureller Normierungsprozesse. Diese wurden von verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren vorangetrieben. Dabei ist das gesellschaftliche "Oben" und "Unten" jedoch kaum ohne die "Mitte" zu verstehen. Vielmehr entstanden polarisierende Aufladungen des Sozialen erst durch Abstandsvermessungen, bei denen die "Mitte" als Lackmustest für beide soziale Pole fungierte. Aufgrund ihrer symbolischen Bedeutung avancierte die Mitte als moralische und soziale Kategorie zu einem zentralen Bezugspunkt für die Imagination sozialer Ordnung. Der Sammelband geht folglich von einem wirkungsvollen Dreieck von Oben-Mitte-Unten aus. Gemeinsam waren allen drei Größen bestimmte Wertvorstellungen: Erstens war die Arbeit sowie ihre Bewertung als ehrlich, "gut" und regelmäßig wichtige Leitkategorie innerhalb dieses sozialen Dreiecks. Zweitens kamen auf moralischer Ebene in allen drei Fällen noch weitere normative Verhaltensbegriffe wie Ehrbarkeit, Respektabilität und Verantwortungsbewusstsein hinzu. Als dritte Kategorie ist die Transparenz der jeweiligen sozialen Gruppe zu erwähnen. Diese spielte wiederum eine wichtige Rolle in der Identitätsbildung und den Vermessungen des sozial Akzeptablen. Gleichzeitig diente sie auch immer als Anhaltspunkt für das zeitgenössische Deuten und somit auch dem Verstecken von Schuld und Scham - sei es aufgrund von "zu viel" oder "zu wenig" Geld.
Soziale Imaginationen und (Medien-)Logiken des Kalten Krieges
Massenmedien waren nach 1945 wirkmächtige soziale Kommentatoren in gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozessen. In den letzten Jahren rücken Medienanalysen zunehmend in den Fokus geschichtswissenschaftli-cher Arbeiten, in denen Massenmedien nicht nur als Quelle, sondern vor allem auch als zentrale Akteure und Institution verstanden werden. Von dieser Prämisse ausgehend wird in diesem Buch auch darauf geblickt, auf welche Weise die eigenen Logiken von (Massen-)Medien auf die Thematisierung und die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit einwirkten - und somit gesellschaftliche Debatten ebenso beeinflussen konnten, wie ganz individuell-perönliche Konzeptionen des Sozialen. Gerade in den 1960er und 1970er Jahren verfestigte sich nach einem eher konsensorientierten Journalismus der 1950er Jahre in der Bundesrepublik eine kritische Öf-fentlichkeit. Es ist deswegen anzunehmen, dass die Massenmedien nicht nur gezielt bestimmte Images verbreiteten und transportierten, sondern darüber hinaus selbst die Wissensbestände, ihre Sinn- und Deutungsmuster mitprägten.
Ein solcher Einfluss kann durchaus, wenn auch mit Abstrichen, für den "Ostblock" angenommen werden. Ein im Band vorgenommener vergleichender Blick in den osteuropäischen Raum hinein vermag aufzuzeigen, inwieweit die Wahrnehmungen und Vorstellungen von beiden sozialen Phänomenen "Arm" und "Reich" an nationale oder - zumindest bis 1989/1990 - auch an systemische Grenzen gebunden waren. Wenn eine komparative Perspektive eingenommen wird, dann ausdrücklich, ohne damit Ost und West bzw. Diktatur und Demokratie gleichsetzen zu wollen. Stattdessen wird dadurch die Leitfrage verfolgt, wie (unterschiedlich oder ähnlich) in wohlfahrtsstaatlich verfassten modernen Industriegesellschaften Formen sozialer Spreizung diag-nostiziert worden sind.
Der gewählte mediale Zugriff eröffnet hierbei eine besondere Chance, dieser Frage auf den Grund zu gehen, lässt sich die Wissensproduktion, -distribution und -verfestigung des Sozialen unter demokratischen und diktatorischen Bedingungen auf diesem Wege doch zumindest ansatzweise vergleichen: Zwar waren Medien in den monothematischen Gesellschaften des Staatssozialismus ungleich stärker "von oben" gesteuert und folglich in weitaus größerem Maße propagandistisch-ideologisch überformt als in den pluralistischen westlichen Demokratien, wo es in der Regel alternative und auch abweichende Deutungsangebote geben kann bzw. konnte. Massenmedien dienten im östlichen Europa seit 1945 als Herrschaftsmittel der Staats- und Parteielite und somit vornehmlich einer direkten Propagierung gewünschter politischer, sozialer und kultureller Leitbilder, wodurch die Hegemonie über die symbolische Ordnung stabilisiert werden sollte. Neuere Forschungsarbeiten plädieren demgegenüber jenseits tradierter Totalitarismus-Vorstellungen für eine erweiterte analytische Perspektive auf die Massenmedien osteuropäischer Diktaturen. Ein solcher Ansatz spart Bedeutung und Reichweite des Politischen keineswegs aus, überbewertet diese Faktoren aber auch nicht a priori. Mittels eines solcherart geweiteten Blicks kann sich dann den Ausformungen und Prägekräften der imaginären Dimensionen des Kalten Krieges genähert werden. Denn auch in den Staatssozialismen Ost-europas konnten sich neben der offiziell-etablierten Öffentlichkeit auch (halb-)öffentliche, subkutane Meinungen zu bestimmten Themen - und somit gewiss auch zu sozialen Fragen - etablieren und entwickeln, die nicht zuletzt auf die Reproduktion sozialer Images zurückgriffen bzw. zurückgreifen mussten. Denn die Vielzahl sozialer Imaginationen, Projektionen und Fiktionen war im Zeitalter des Kalten Krieges nicht zuletzt Ergebnis (medien-)öffentlicher Diskurse. Die inhärenten Sag-, Zeig- und Problematisierbarkeitsregeln sowie abweichende Medienlogiken und -regime zwischen West und Ost sind dabei stets mitzudenken. In solchen Perspektiven drückten sich jedoch hier wie dort Selbstvergewisse-rungen und Leitvorstellungen über (Un-)Gleichheit und (Un-)Gerechtig-keit aus. Gerade in den Staatssozialismen waren die Kommunikations- und Definitionsprozesse hinsichtlich einer gerechten, richtigen und guten Ausformung der sozialen (An-)Ordnung wichtige Legitimationsressource für die Staats- und Parteiführungen. Ausgehend von diesen Überlegungen wird nicht nur zu fragen sein, wie die diskursiven Konstruktionen sozialer Hierarchien im Staatssozialismus funktionierten, sondern auch, ob in transnational-vergleichender Perspektive übergreifende Wirkmächte bestimmter sozialer Konzeptionen "across the blocs" festzuhalten sind.
Sowohl für Westeuropa und die USA als auch für den Osten sind nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Durchsetzung einer bipolaren Weltordnung gezielte Image-Politiken zu erwarten, die häufig von Politikern und Wissenschaftlern, Experten und sonstigen Wortführern initiiert und mithilfe vor allem der Massenmedien in die Haushalte getragen wurden. Hüben wie drüben lassen sich also spezifische Machtstrategien und mediale Eigenlogiken vermuten. Deswegen sollte in Untersuchungen bzw. Dekonstruktionen von sozialer Repräsentation auch immer die Rolle der Journalisten miteinfließen. Wer hatte Interesse an bestimmten Darstellungen und nahm darauf auch (wie) Einfluss? Wie gestaltete sich das Verhältnis zwischen Politik und Medien, zwischen Medien und Wissenschaft?
Die Phase der Blockkonfrontation während des Kalten Krieges scheint für eine solche Betrachtung prädestiniert, da hier nach gemeinsamen Erzählungen, Begriffen und Kommunikationsmustern, aber auch nach Variationen von Argumentationsstrukturen sowie Klassifizierungs- und Zuschreibungsweisen gesucht werden kann. Dadurch wird es möglich, grenzen- und medienübergreifende Wahrneh-mungs-, Verarbeitungs- und Kategorisierungsprozesse hinsichtlich "Ar-mut" und "Reichtum" ebenso abzubilden wie blockspezifische Diskurslo-giken und innerstaatliche Eigendynamiken bei der gesellschaftlichen Selbstkommentierung.
Die Frage nach der Wirkung solcher Imageproduktionen hält indes einige methodische Tücken bereit. Zweifellos gibt und gab es nicht eine alleinige Medienwirkung oder Botschaft. Vielmehr muss mit Blick auf die Komplexität moderner Gesellschaften von einer möglichen Vielstimmigkeit und Multiperspektivität ausgegangen werden, die unterschiedliche und keine gemeinsame Wirklichkeiten und Wirkungen umfassen. So formuliert bereits Reinhart Koselleck, dass die Wahrnehmungsgeschichte stets pluralistisch gebrochen sei. Gesellschaftliche Debatten, aber auch stärker individuelle Erinnerungen und Konstruktionen können jedoch die Wirkmächtigkeit sozialer Imaginationen belegen. Sie werden auch in diesem Band in einzelnen Beiträgen als Quelle genutzt und zeigen, dass die Wahrnehmungen zwar nicht allein durch und in den Medien, aber von ihnen zweifelsohne stark mitgeprägt und beeinträchtigt worden sind. Diesen Sonden der Imagewir-kung und den damit verknüpften Emotionen des Sozialen näher nachzugehen, ist eine herausfordernde Aufgabe bei der künftigen, nicht nur geschichtswissenschaftlichen Analyse von sozialer Ungleichheit.
Ziele des Bandes
Zusammenfassend lassen sich vier übergeordnete Absichten des Bandes formulieren:
Erstens ist es das Anliegen, Ergebnisse aktueller Forschungsanstrengungen zu sammeln und die gewählte Perspektive von WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen diskutieren zu lassen. Das gilt nicht nur für die Grenzen zwischen den Fachdisziplinen, sondern besonders auch für die oben skizzierte Trennung zwischen der Armuts- und Reichtumsforschung. Diesen (Defizit-)Befund aufgreifend ist es ein wesentliches Ziel des vorliegenden Bandes, beide Aspekte gemeinsam zu erörtern und das Phänomen der sozialen Ungleichheit in seiner Ge-samtheit und von beiden Polen seiner Extreme zu erfassen, und zwar aus der Sicht verschiedener Disziplinen wie Soziologie, Ethnologie, Li-teratur- und Geschichtswissenschaft. Auch wenn die Expertise der Beiträger und Beiträgerinnen des Bandes zumeist in der Erforschung eines der beiden Sozialphänomene liegt, wird die jeweilige Kontrastfolie stets mitgedacht. Damit deuten sie das große Potential einer zusammengedachten Geschichte von sozialer Ungleichheit an und zeigen, dass das eine viel besser in Relation zu dem anderen zu verstehen ist.
Zweitens hat der Band eine kulturwissenschaftliche Ausrichtung. Untersu-chungen zu Armut und Reichtum richteten das Interesse bisher vor-dergründig auf wirtschaftliche, statistische und sozialwissenschaftliche Fragen. Im Folgenden wird jedoch von einer konstitutiven Bedeutung öffentlicher Kommentatoren und allen voran der Medien für die soziale Konstruktion von "Armut" und "Reichtum" ausgegangen. Deswegen wird ausdrücklich der öffentlich-medial kommunizierte Stellenwert "armer" und "reicher" Menschen innerhalb verschiedener westlicher wie östlicher Öffentlichkeit(en) verfolgt.
Drittens wird vordergründig der Zeitabschnitt vom Ende des Zweiten Weltkrieges über die europaweit auszumachende Prosperitätsphase der "Glorious Thirty" und den sozioökonomischen "Bruch" ab Mitte der 1970er bis zum Zusammenbruch der "alten" bipolaren Weltordnung 1989/90 fokussiert. Ein Vorteil der Betrachtung dieser langen Zeit-spanne von der Nachkriegszeit bis in die jüngste Vergangenheit ist, Diskurskonjunkturen festzuhalten. Gleichzeitig bietet der Schwerpunkt der 1960er bis 1980er Jahre die Möglichkeit, die Besonderheiten der sozialen Imaginierung in einer Zeit verhältnismäßig stabiler sozialer Ordnung - und zwar durchaus block-übergreifend - nach Kriegsende und Wiederaufbau zu beleuchten. Wie oben skizziert, erhielt gerade in jenen Jahren der Bezugspunkt der "sozialen Mitte" - zumindest in westlichen Gesellschaften - für die beiden Pole der Extreme eine neue Relevanz, was sich in den entsprechenden Selbstbeschreibungsformeln niederschlug.
Im Osten Europas dominierten dagegen Zielrhetoriken wie die einer "sozialistischen Menschengemeinschaft" bzw. einer "Klassengesell-schaft neuen Typs". Nach wirtschaftlicher Konsolidierung und sozial-staatlicher Expansionsphase wähnten sich viele Länder des "Ostblocks" in den 1960er Jahren zumindest vorübergehend in einer trügerischen Phase relativer Stabilität. Nach dem "Schock" von Prag im Jahr 1968 reagierten die Staatsführungen hektisch-defensiv und erkannten die pazifizierende Dimension zusätzlicher wohlfahrtsstaatlicher Arrangements. Ein kontinuierlich zu verbessernder Lebensstandard und ein vergrößerter Katalog soziopoli-tischer Standardleistungen schien den Weg zu einer "Annäherung der Klassen und Schichten" weiter vorantreiben zu können - so lauteten zumindest die unermüdlich vorgetragenen programmatischen Zielset-zungen der jeweiligen Staatsparteien. Deutungen wie diese wurden je-doch mit den zunehmenden globalen Krisen seit den 1970er Jahren zusehends in Frage gestellt. Wie im Westen wurden, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, den Möglichkeiten der Plan- und Gestalt-barkeit des Sozialen ebenfalls Schranken aufgewiesen. Die bis dahin gängigen optimistisch-eudämonischen Formen sozialer Zustandsbe-schreibungen sollten auch hier allmählich an Überzeugungskraft verlie-ren.
Viertens endet die Perspektive dieses Buch nicht mit dem "Epochenjahr" 1989/90. Vielmehr werden auch aktuelle Entwicklungen berücksichtigt - wobei sich freilich grundsätzlich die Frage nach der Bedeutung dieser (politischen) Zäsur für die Beschaffenheit und Ausgestaltung sozialer Vorstellungswelten stellt. Mitgedacht werden deswegen immer auch heutige Formen der Vergegenwärtigung des Sozialen. Inwiefern sind frühere gesellschaftliche Wahrnehmungs- und Selbstbeschreibungsmodi wesentliche Referenzpunkte und Strukturierungsmerkmale auch in aktuellen Diskussionen um soziale Ungleichheit? Welche Rolle spielen dabei die eingangs erwähnten Befunde hinsichtlich einer zunehmenden sozialen Spreizung, die vermeintliche Verfestigung des "unteren Randes" oder explodierender Managergehälter? Wie ist in diese lange Wahrnehmungsgeschichte des Sozialen die Angleichung des ost- an das westdeutsche Wirtschafts- und Sozialsystem des Jahres 1990 und den daraus resultierenden Folgen einzubetten? Historische Erkenntnisse können so an aktuellen Entwicklungen gespiegelt werden. Angeknüpft wird dabei nicht zuletzt an den von Hans Günter Hockerts formulierten Anspruch, Zeitge-schichte (auch) als "Vorgeschichte heutiger Problemkonstellationen" zu begreifen. Dadurch kann es möglich werden, Hintergründe und langfristige Folgen moderner Gesellschaften zu erhellen und damit einen wissenschaftlich fundierten Beitrag zu aktuellen Debatten zu liefern.
Zu den einzelnen Beiträgen
Im ersten Abschnitt wird den Vorstellungs- und Repräsentationsmodi des Sozialen in den marktwirtschaftlichen, wohlfahrtsstaatlich formierten In-dustriegesellschaften des Westens nachgespürt, und zwar jene der "alten" Bundesrepublik und der USA. Zweifellos offener und ungleich direkter als im Staatssozialismus hielten Images sozialer Über- und Unter-privilegierung hier Einzug in die jeweiligen (Medien-)Öffentlichkeiten. Dabei war das Sprechen über soziale Kategorien wie Armut und Reichtum immer auch Gradmesser für moralische (oder auch: mora-lisierende) Vorstellungsweisen, denen eine übergeordnete Symbolkraft zukam. Lu Seegers zeigt in ihrem Beitrag am Beispiel von Hamburger Un-ternehmern auf, wie Reichtum in der "alten" Bundesrepublik medial repräsentiert wurde. Normative, als besonders erstrebenswert gedachte Werte wie Bescheidenheit und Understatement, Weitsicht und Demut sowohl in Unternehmertum als auch in Lebensstil waren symbolische Fluchtpunkte. Sie sollten helfen, Wirtschaftshandeln und Persönlichkeit medial zu synchronisieren und gleichzeitig die wohlhabenden Lebensver-hältnisse öffentlich als akzeptabel zu legitimieren. Dieses Ringen um sym-bolische Legitimität im öffentlichen Raum unterlag eigenen Logiken und Spielregeln. Dass die Bestätigung, allen voran aber eine Verletzung bzw. ein Überschreiten bestimmter geduldeter Zeigbarkeitsmuster die Ableh-nung oder Zustimmung durch die Medienrezipienten bedeuten konnten, zeigen die Zuschauerreaktionen auf die Fernsehserien "Dallas" und "Den-ver Clan" in eindrücklicher Form. Anne Kurr geht in ihrem Beitrag den Gründen für die unerwartete Popularität beider Produktionen in west-deutschen Wohnzimmern der 1980er Jahre nach. Das Darstellen einer reichen, im Überfluss lebenden US-amerikanischen Oberschicht folgte neuen Visualisierungs- und Darstellungsmustern und sorgte deswegen für nicht wenige Irritationen in der westdeutschen Öffentlichkeit - wodurch bisherige Wahrnehmungen und Bewertungen heimischen "Reichtums" insgesamt auf den Prüfstand gestellt werden sollten.
Wenn die (medien-)öffentlichen Aneignungen und Ausdeutungen der beiden sozialen Extreme "Arm" und "Reich" historisiert werden sollen, so kann dies kaum ohne einen Verweis auf den "Zwischenraum", die "Mitte", geschehen. Gerade in der (alt-)bundesrepublikanischen Geschichte kommt ihr eine besondere Rolle zu: Unter den Bedingungen schier grenzenlosen Wachstums war sie mental-ideelles und idealisierbares Gravitätszentrum und zentraler Orientierungspunkt sozialer Vorstellungswelten. Erst ab den 1970er Jahren, vor dem Hintergrund sozioökonomischer Veränderungen mitsamt einer ungekannten Krisenhaftigkeit, ist sie wieder zu einem problematisierbaren sozialen Be-griff geworden. Die Wandlung dieses sozialen Stabilisierungsankers der Gesellschaft zeichnet Rüdiger Schmidt in seinem Beitrag nach. Die Mitte war jedoch mitnichten nur in der Bundesrepublik Lackmustest für Größe, Form und Charakter des "Oben" und "Unten" einer Gesellschaft. Die symbolische Geltung der Mitte einerseits als moralische und soziale Kate-gorie, andererseits als zentraler Bezugspunkt für die Imagination sozialer Ordnung diskutiert Christian Johann. In seinen Ausführungen über die so-ziale (und sozialsymbolische) Beschaffenheit der USA der 1960er Jahre zeigt er, dass wohlfahrtsstaatliche Arrangements eine neue Sicht auf Armut etablierten und verfestigten. Populisten identifizierten auf der Suche nach Wählergruppen allen voran die untere Mittelklasse als jene Gruppe, deren soziale Verlustängste in Wahlkampfzeiten erfolgreich in-strumentalisiert werden konnten. In den eingängigen und öffentlichkeits-wirksam vorgetragenen Formeln, die Skepsis gegenüber oder gar Ableh-nung von wohlfahrtsstaatlichen Projekten ebenso enthielten wie latente Abstiegssemantiken, kam nicht zuletzt der wachsende Modernisierungswi-derstand von Teilen der Rezipienten zum Ausdruck. Von den Wortführern konnte dabei in vielerlei Hinsicht auf ein sich verfestigendes neues Armutsbild ihrer Adressaten zurückgegriffen werden, das auch in damaligen Massenmedien rege verhandelt und ausgedeutet wurde. Die öffentliche, mediale wie wissenschaftliche Kommentierung der Armut unter mexikanischstämmigen Familien, die Claudia Roesch in ihrem Beitrag betrachtet, spiegelt nicht nur jene zeitgenössischen Aushandlungen und Bemühungen um eine theoretisch-abstrakte Fassbarmachung sozialer Phänomene und ihrer beginnenden Verwissenschaftlichung (Culture of Poverty). Ihre Überlegungen verweisen daneben nicht zuletzt auch auf den Faktor race und dessen strukturierende Bedeutung in US-amerikanischen Armutsdebatten in den 1960er Jahren.


Eva Maria Gajek, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Gießen. Christoph Lorke, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Münster.


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