Galgut | Arktischer Sommer | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Galgut Arktischer Sommer

Roman - Autor mit dem Booker Prize 2021 ausgezeichnet

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-641-14338-1
Verlag: Manhattan
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Damon Galgut folgt dem britischen Autor E.M. Forster vom prüden England der Jahrhundertwende ins sinnliche Indien und zur Entstehung eines Meisterwerks.
Im Oktober 1912 nähert sich die SS City of Birmingham Indien. An Bord ist auch der 33-jährige Edward Morgan Forster, Autor von vier Romanen, die ihm in seiner Heimat bereits einigen Ruhm eingetragen haben. Nun ist er, beflügelt vom Erfolg seines jüngsten Werks »Wiedersehen in Howards End«, zu einer Reise ins Unbekannte aufgebrochen. Fern der Enge der englischen Kleinstadt Weybridge in Surrey zeichnet sich das Versprechen einer außergewöhnlichen Zukunft am Horizont ab. Und tatsächlich findet Forster - von der Sinnlichkeit Indiens gleichermaßen angelockt wie verstört - hier den Keim für einen großen Roman: ein diffuses erotisches Begehren und das Gefühl dräuenden Unheils unter einem gleißenden, leeren Himmel. Zwölf Jahre und zahllose innere Kämpfe werden diesem hoffnungsvollen Aufbruch folgen, bis daraus schließlich Forsters Meisterwerk »Auf der Suche nach Indien« entsteht.

Damon Galgut, 1963 in Pretoria geboren, zählt zu den renommiertesten Autoren Südafrikas. Sein jüngster Roman »Das Versprechen« wurde mit dem Booker Prize 2021 ausgezeichnet, einem der bedeutendsten internationalen Literaturpreise. Bereits zwei Mal stand Galgut mit »Der gute Doktor« (2005) und »In fremden Räumen« (2010) auf der Shortlist für diesen Preis. Auch seine Romane »Der Betrüger« und »Arktischer Sommer« wurden für zahlreiche Literaturpreise nominiert. Sein literarisches Werk erscheint in sechzehn Sprachen. Damon Galgut lebt in Kapstadt.
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Erstes Kapitel
SEARIGHT Im Oktober 1912 überquerte die SS City of Birmingham das Rote Meer, auf halber Strecke ihrer Fahrt nach Indien, als zwei Männer sich gemeinsam auf dem Vordeck wiederfanden. Sie waren jeder für sich dorthin gekommen, um einem Konzert zu entgehen, das einige der anderen Passagiere ausgerichtet hatten, doch da sie sich inzwischen flüchtig kannten, waren sie nicht unglücklich über die Gesellschaft. Es war später Nachmittag. Sie saßen an einem Platz, der nicht nur Sonne und Schatten, sondern auch Schutz vor dem Wind bot. Beide hatten sich Lektüre mitgebracht, die sie höflich beiseitelegten, als sie miteinander ins Gespräch kamen. Der eine, Morgan Forster, war dreiunddreißig Jahre alt und verstand sich unterdessen als Berufsschriftsteller. Sein jüngst erschienener vierter Roman war so erfolgreich, dass er sich die sechsmonatige Reise finanziell ermöglichen zu können glaubte. Es war sein erster Aufenthalt außerhalb Europas und erst die zweite längere Trennung von seiner Mutter. Der andere war ein Heeresoffizier auf der Rückreise zu seinem Stützpunkt an der indischen North-West Frontier. Er war ein paar Jahre jünger als Morgan, ein gut aussehender Bursche mit zurückgekämmtem blondglänzendem Haar und blendend weißen Zähnen. Sein Name war Kenneth Searight. Die beiden Männer hatten sich schon einige Male unterhalten, und Morgan fand Searight wider Erwarten recht sympathisch. Auf dem Schiff wimmelte es von Militärs und ihren grässlichen Fregatten, aber dieser Mann war anders. Zum einen reiste er allein. Zum anderen war Morgan aufgefallen, dass er dem einzigen indischen Passagier an Bord mit Anstand und Feingefühl begegnete, beides Eigenschaften, die man in diesen Kreisen oft vergeblich suchte, und das hatte ihn gerührt. Kleine Anzeichen wie diese ließen vermuten, dass ihnen mehr gemein war, als er anfangs angenommen hatte. Obwohl er erst vor einer Woche an Bord gekommen war, hatte Morgan das Gefühl, dass er sich schon viel zu lange auf dem Schiff befand. Er reiste mit drei Freunden, doch selbst deren Gesellschaft ging ihm allmählich auf die Nerven. In Gedanken zog es ihn immerfort hinaus, auf das Meer, das sie umschloss. Manchmal lief er an Deck stundenlang unermüdlich auf und ab, oder er saß an der Reling und verlor sich in ziellosen Tagträumen beim Anblick der fliegenden Fische, die sich vor dem Bug tummelten, oder der anderen Tiere – Quallen, Haie und Delfine –, die man bisweilen zu Gesicht bekam. In solchen Augenblicken vergaß er sich beinahe selbst. Einmal hatte er scharlachrote Schnüre in der Dünung treiben sehen. Es handele sich um Fischlaich, hatte man ihm gesagt, kurz vor dem Schlupf. Leben, das kein menschliches Leben war, das reifte, erblühte und verging, in einer nicht menschlichen Umgebung. Er aber konnte den Menschen nicht entkommen. Jeden Tag erwarteten ihn dieselben Gesichter. Das Schiff war wie ein winziges Stück England – Tunbridge Wells, um genau zu sein –, das sich losgerissen hatte und auf die offene See hinausgetrieben war. Aus irgendeinem Grund waren die Frauen am schwersten zu ertragen, vielleicht weil sie so viel redeten. Sie schienen davon überzeugt zu sein, dass er ihre Ansichten teilte, auch wenn dies gewöhnlich nicht der Fall war. Eine von ihnen, eine junge Dame auf der Suche nach einem Ehemann, hatte ein paar schüchterne Annäherungsversuche unternommen, bis seine steinerne Miene sie in die Flucht geschlagen hatte. Doch nichts erzürnte ihn so sehr wie die beiläufigen Gehässigkeiten, die bei Tisch in Gestalt scherzhafter Bonmots die Runde machten. Er hatte einige von ihnen in seinem Tagebuch notiert und lange darüber gegrübelt. Einmal hatte eine matronenhafte Frau, die in den Pardas von Bhopal als Krankenschwester gearbeitet hatte, ihm zwischen zwei Gängen einen Vortrag darüber gehalten, in welch erbärmlichen Verhältnissen der Mohammedaner gemeinhin vegetiere. Und wenn englische Kinder in Indien Station machten, so lernten sie zu sprechen wie die Mischlinge, ein schreckliches Stigma. »Und dieser junge Inder an Bord«, hatte sie halblaut hinzugesetzt. »Na, der ist doch Mohammedaner, oder? Gut, er hat eine englische Privatschule besucht, aber macht ihn das zu einem zivilisierteren Menschen? Er glaubt tatsächlich, er sei einer von uns. Was für ein absurder Gedanke.« Der Mann, dessen Name er sich partout nicht merken konnte, und Morgan hatten gemeinsame Bekannte, aber der Inder war ein strapaziöser Bursche, dessen Gesellschaft er ermüdend fand. Auch Morgan ging ihm mittlerweile aus dem Weg, doch er wusste, dass die Abneigung seiner Tischgenossin andere Gründe hatte, und dafür verabscheute er sie. Wenngleich sie damit keineswegs allein stand: Die meisten Passagiere begegneten dem armen Mann mit höflicher Verachtung. Tags zuvor hatte eine der Soldatenfrauen, eine gewisse Mrs Turton, bemerkt: »Wie ich höre, ist der junge Inder einsam. Nun, das geschieht ihm recht. Sie verweigern uns die Bekanntschaft ihrer Frauen, warum also sollten wir ihre Bekanntschaft suchen? Je freundlicher wir sie behandeln, desto geringer schätzen sie uns.« Morgan hatte etwas erwidern wollen, dann aber doch geschwiegen und sich anschließend Vorwürfe gemacht. Und so barg diese zufällige Begegnung mit dem glänzenden jungen Offizier einen Funken von Verheißung. Irgendetwas an Kenneth Searight – auch wenn er nicht recht zu sagen wusste, was – gehörte nicht in eine Uniform, passte nicht zu seinen untadeligen Manieren. Zunächst plauderten sie leichthin über die Reise. Vor Kurzem hatten sie den Suezkanal passiert, ein Erlebnis, das Morgan kurioserweise an eine Bildergalerie erinnert hatte. Und von Port Said war er enttäuscht gewesen: Alle hatten ihm erzählt, die Stadt sei das Tor zum Orient, die erste Impression des Morgenlandes, doch ihr fehlten die Gerüche, die pulsierende Lebendigkeit, die Farbenpracht, die er erwartet hatte. Es gab keine Minarette und nur eine Kuppel, und obwohl die Statue von de Lesseps gebieterisch auf den Kanal wies, sah es aus, als hielte sie einen Strang Würste in der anderen Hand. Dennoch war er natürlich an Land gegangen, und einige der Araber waren wunderschön, hatten ihm die Freude jedoch rasch verdorben, indem sie versucht hatten, ihm obszöne Postkarten zu verkaufen. (»Wollen sehen pikante Bilder? Nein? Na ja, vielleicht nach dem Essen.«) Alles in allem keine sonderlich erhebende Erfahrung. »Mit Ausnahme des Kohlenschiffs«, sagte Searight. »Ja«, erwiderte Morgan. »Mit Ausnahme des Kohlenschiffs.« Die Erinnerung an die Schaluppe stand ihm noch immer lebhaft vor Augen. Genauer gesagt, waren es die Gestalten darauf, die ihm auch jetzt noch keine Ruhe ließen: Schwarz von Kohlenstaub, waren sie aus totengleicher Starre zu hektischer Betriebsamkeit erwacht und hatten ihre Körbe singend und spottend an Bord geschleppt. Eine dieser Gestalten, von unbestimmtem Alter und Geschlecht, hatte nach Einbruch der Dunkelheit mit einer Laterne in der Hand an der Gangway gestanden, und das Bild, der gelbliche Schein der Lampe, der sich harsch gegen die schwarzen Schatten abhob, hatte ihm zugleich Angst und Hoffnung eingeflößt. Auch Searight war dort gewesen, wie Morgan jetzt wieder einfiel; sie hatten dicht nebeneinander an der Reling gestanden und das Schauspiel fasziniert verfolgt. Obgleich sie sich damals noch nicht gekannt, geschweige denn ein Wort gewechselt hatten, schien sie rückblickend so etwas wie Komplizenschaft zu einen. Sie sprachen über ihre Pläne nach der Landung in Bombay und beschlossen, gemeinsam bis nach Agra zu reisen; danach wollte Searight in Richtung Lahore und Morgan nach Aligarh weiterfahren. »Wohnen Sie dort bei einem Freund?« »Ja«, sagte Morgan und setzte kühn hinzu: »Er ist ein Einheimischer.« »Ah«, sagte Searight. »Dachte ich’s mir doch. Das freut mich, das freut mich sogar sehr. Das wahre Indien kann nur kennenlernen, wer sich unter die Inder mischt, auch wenn andere das anders sehen mögen. Inzwischen habe ich hier viele Freunde. Ah ja. Sehr enge Freunde sogar.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihre Kameraden das gutheißen.« »In der Armee herrscht weitaus mehr Verständnis, als Sie glauben, trotzdem muss man natürlich Vorsicht walten lassen. Alles eine Frage von Ort und Zeit.« Er stieß ein kurzes Lachen hervor. »Ist Ihr Freund Hindu?« »Nein, Mohammedaner.« »Ah ja. Die Mohammedaner. Die Hindus gelten im Allgemeinen als sinnlich, ihrer dekadenten religiösen Symbolik wegen. Die Mohammedaner hingegen sind ein Volk des Buches, genau wie wir. Ich sage Ihnen, die Pathanen sind ein Haufen junger Wilder, und ich werde dort bestimmt zahlreiche Freunde finden. Das ist einer der Vorzüge meiner Versetzung nach Peshawar. Vorher war ich in Bengalen stationiert, in Darjeeling, und habe mich dort prächtig amüsiert. Aber ich freue mich auf die Zukunft.« Morgan hatte das ungute Gefühl, dass ihm das Thema entglitten war und sie über verschiedene Dinge sprachen. Trotzdem sagte er: »Ich auch.« »Freuen Sie sich auf das Wiedersehen mit Ihrem Freund?« »Sehr sogar.« »Hat er Ihnen gefehlt? Dieses Gefühl kenne ich nur zu gut. Und wenn es mich befällt, dann drängt es mich, anderswo Trost zu suchen. Zum Glück ist derlei hier in Indien recht leicht zu finden. In England ist das schon schwieriger, wie Sie sicher wissen.« »Was?« »Trost.« Er warf Morgan einen vielsagenden Blick zu. »Vor ein paar Wochen erst habe ich im Hyde Park einen berittenen Gardisten kennengelernt.« Erschrocken über die Wendung, die das...


Mohr, Thomas
Thomas Mohr, geb. 1965 in Köln, übersetzt seit 1988 englischsprachige Literatur, u.a. Truman Capote, Emma Donoghue, James Ellroy, Olivia Laing und Mark Twain. Für sein übersetzerisches Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet.

Galgut, Damon
Damon Galgut, 1963 in Pretoria geboren, zählt zu den renommiertesten Autoren Südafrikas. Sein jüngster Roman »Das Versprechen« wurde mit dem Booker Prize 2021 ausgezeichnet, einem der bedeutendsten internationalen Literaturpreise. Bereits zwei Mal stand Galgut mit »Der gute Doktor« (2005) und »In fremden Räumen« (2010) auf der Shortlist für diesen Preis. Auch seine Romane »Der Betrüger« und »Arktischer Sommer« wurden für zahlreiche Literaturpreise nominiert. Sein literarisches Werk erscheint in sechzehn Sprachen. Damon Galgut lebt in Kapstadt.


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