Geck | Beethoven hören | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Geck Beethoven hören

Wenn Geistesblitze geheiligte Formen zertrümmern

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-15-961559-2
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ludwig van Beethoven wies einmal einen Musikerkollegen zurecht: "Glaubt er, dass ich an eine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht und ich es aufschreibe?" Doch wie lassen sich Beethovens "Geistesblitze" fassen? Was teilt sich uns heutigen Hörern durch seine Musik eigentlich mit?
In seinem letzten Buch spürt Martin Geck (1936–2019) Beethovens Persönlichkeit in dessen Werken (von den Streichquartetten und Klaviersonaten bis zu den großen Sinfonien) nach und findet ein verletzliches wie kämpferisches Ich. Sein Buch ist zugleich ein Appell, persönliche Eindrücke und das Staunen beim Hören von Musik ernstzunehmen. Geck zeigt dabei, wie Assoziationen und biographische Erfahrungen Brücken ins Ungewisse bauen können – und warum wir beim Beethoven-Hören fantasieren dürfen.
Geck Beethoven hören jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Vorwort

Zeichen und Wunder
Von der Sturm-Sonate zum Streichquartett op. 132
"Seine Ichheit auch in der Musik heraustreiben" – Mit der Sturm-Sonate auf "Neuem Weg"
Epiphanie: Das e-Moll-Thema im 1. Satz der Eroica
Plötzlichkeit: Vom Furor des Anfangens in der Fünften
Entzauberung und Illusionsbrechung: die Achte
"Ist da jemand?" Rufe der Sehnsucht in der Klaviersonate op. 110
Tönende Welterkenntnis: die Neunte
Das Ganze ist das Wahre, jedoch in seiner ganzen Zerbrechlichkeit: das Streichquartett a-Moll op. 132

"Merkwürdigkeiten" einer Durchführung
Zum 1. Satz von Beethovens Streichquartett B-Dur op. 130
Gastbeitrag von Peter Schleuning

"Ausbrüche"
Ein Dialog mit Peter Schleuning

"Musica impura" – suchendes Ohr versus forschenden Blick

Wittgensteins "Gebärde"
oder: Musikanalyse im Vorraum des Unsagbaren

Beethovens Musik vor dem Horizont elementarer Lebensprozesse
Eine phänomenologische Sicht
Die Pauke
Wut
Schwellenerfahrung

Beethovens "Neuer Weg" …
… oder der Entschluss, das Leben im Werk aufzuheben

Epilog
Warum wir beim Beethoven-Hören fantasieren dürfen

Anhang
Anmerkungen
Über den Autor


»Seine Ichheit auch in der Musik heraustreiben« – Mit der Sturm-Sonate auf »Neuem Weg«
Der Vorrede zum dritten Heft seiner Musicalischen Rhapsodien gibt der Komponist Christian Friedrich Daniel Schubart die Überschrift »Klavierrezepte«, obwohl es sich um Vokalmusik handelt. Doch ganz im Sinne der Gattung »Rhapsodie«, die sich ja der gestalterischen Freiheit verschrieben hat, heißt es dort: Um aber deine Ichheit auch in der Musik herauszutreiben, so denke, erfinde, fantasire selber. Dein eigens, dir so ganz anpassendes Gemächt wirst du immer am besten herausbringen. Ewiges Kopiren, oder Vortrag fremden Gewerks ist Schmach für den Geist. Sei kühn, schlag an Brust und Schedel, ob nicht Funken eigner Kraft dir entsprühen. Beethoven ist damals 18 Jahre alt, und es werden noch 16 Jahre vergehen, eher er – wenn die Erinnerung seines Schülers Carl Czerny stimmt, nach Abschluss seiner Klaviersonate op. 28 verkündet: »Ich bin mit meinen bisherigen Arbeiten nicht zufrieden; von nun an will ich einen anderen Weg beschreiten.« Die Beethoven-Forschung hat die erste Verwirklichung dieses »neuen Weges« im Anschluss an Czerny vor allem in den Klaviersonaten op. 31 und speziell in der Sturm-Sonate op. 31,2 gesehen, jedoch auch in der Eroica. Unter den Strukturanalytikern war namentlich Carl Dahlhaus bestrebt, den »neuen Weg« vor allem im Sinne einer »Formidee« zu beschreiben, die den »radikalen Prozesscharakter« der Musik zur Geltung bringe. Nach seiner Auffassung treibt Beethovens neue Intention »Paradoxien« und »Ambiguitäten« aus sich heraus, die sich etwa darin zeigen, dass man den Anfang der Sturm-Sonate in einer paradoxen Mehrdeutigkeit zunächst als Introduktion hört, die sich mit Takt 21 als thematische Antizipation erweist, um dann – wenn das ›Thema‹ sich zur Überleitung wandelt – rückwirkend den Charakter einer Exposition anzunehmen. Dahlhaus’ Bemühen, die Prozesshaftigkeit des Kopfsatzes der Sturm-Sonate im Sinne einer anspruchsvollen immanenten Logik zu erklären, macht vor einer formalen Deutung der auffälligen Rezitative in Takt 143–148 und Takt 155–158 der »Reprise« nicht halt. Diese enthalten harmonisch die Sequenz A-d/C-F, die bereits im Sonatenbeginn angelegt ist, und lassen sich aus dem den Satz eröffnenden Adagio ableiten. Fazit: Die rätselhafte Auskomponierung des Largo zum Rezitativ bildet also, funktional betrachtet, einen Widerpart zur ebenso rätselhaften Reduktion des [dem zweiten Rezitativ folgenden] Allegro: Im einen Vexierbild steckt die Lösung des anderen. Solches erklärt Dahlhaus jenen »Analytikern«, die dem »Dilemma« der komplizierten Struktur mit »verlegener Ratlosigkeit« begegnen. Aus Respekt vor seinen scharfsinnigen, hier notgedrungen verkürzt wiedergegebenen Analysen übersieht man gern, dass sie Deutungen darstellen, die der Absicht Beethovens entsprechen können, jedoch nicht müssen. Ich will diesen Deutungen nicht widersprechen, ihnen jedoch – gemäß der Intention meines Buchs – Beethovens Suche nach einem »neuen Weg« aus einem anderen Blickwinkel nachzeichnen, nämlich im Zeichen der Empfehlung Schubarts, ein Komponist müsse die Ichheit aus sich heraustreiben. Und bewusst übergehe ich hier die Beethoven in den Mund gelegte, von mir jedoch oben kommentierte Äußerung »Lesen Sie nur Shakespeare’s Sturm!«. In diesem Kontext geht es mir nämlich nicht um eine programmatische Deutung von op. 31,2, wie immer diese auch aussehen könnte. Natürlich kann ein Künstler auch im Zuge prozesshaften Komponierens seine Ichheit aus sich heraustreiben. Gleichwohl spricht aus Beethovens Werken eine »Ichheit«, die von Musikhörern deutlicher und mit mehr Identifikation wahrgenommen wird als verborgene motivisch-thematische Zusammenhänge. Es würde Sinn ergeben, dieser »Ichheit« schon in Werken, die der Sturm-Sonate vorausgehen, nachzuspüren, da es sich ja um einen höchst dehnbaren Begriff handelt. Drei Gründe sprechen jedoch dafür, mit diesem Werk einzusetzen. Zum einen bezieht sich Czernys Erinnerung auf die Klaviersonaten op. 31. Zum anderen nimmt Schindlers Frage nach einem »Schlüssel« ausdrücklich Bezug auf die Sturm-Sonate und die Appassionata op. 57. Zum dritten – und das ist das Wichtigste – zeigt vor allem der 1. Satz der Sturm-Sonate merklicher als alle anderen Werke Beethovens zuvor Momente eines »neuen Wegs«. Diese manifestieren sich in zwei Erscheinungen, auf die ich mich hier konzentriere und unter dem Aspekt »die Ichheit aus sich heraustreiben« betrachte. Es geht um den charakteristischen Satzanfang: und um die beiden aus dem Rahmen fallenden Rezitative aus der »Durchführung«: Die Vorstellung eines vorab sich selbst repräsentierenden Rhapsoden, die Schubarts Appell an die Ichheit des Komponisten nahelegt, wird am Anfang der Sturm-Sonate eindrücklich umgesetzt: Vor Beginn seines Vortrags spielt sich der Sänger auf seinem Instrument ein, im Arpeggio des Largos prüft er dessen Stimmung, im anschließenden Allegro die Geläufigkeit seiner Finger. Es besteht kein Anlass, diese Deutung einfältig und eines Beethoven unwürdig finden; sie ist vielmehr eine plausible Basis für tiefer gehende Deutungen. Diese könnten bei der Vorstellung einsetzen, man müsse den Beginn des Satzes nicht zwangsläufig als feste Themengestalt wahrnehmen, könne ihn vielmehr als ein in kürzester Zeit sich veränderndes Ereignis deuten – oder präziser: als Abfolge zweier auf einander bezogener, jedoch höchst unterschiedlicher Ereignisse. Auf engstem Raum dehnt sich und hastet die Zeit. Das gleicht einer Erinnerungsspur, die ich in einer älteren Arbeit metaphorisch als das Augenaufschlagen und anschließendes Strampeln des Säuglings gedeutet habe, also als eine Art elementarer Erfahrung von Zeit. Um etwas konkreter zu werden, könnte ich an den kleinen Ludwig van Beethoven denken, der von einem Nachbarn dabei beobachtet wird, wie er sinnend aus dem Schlafzimmerfenster schaut und dem Besucher mitteilt, er sei gerade mit »so schönen, tiefen Gedanken beschäftigt«, dass er sich nicht stören lassen wolle. Und ich könnte dazu fantasieren, dass der Junge im nächsten Augenblick zum Klavier rennt, um diese Gedanken in Töne zu fassen. Solche Fantasien darf nach common sense nur ein Literat äußern, aber kein zünftiger Musikologe. Indessen liegt es mir fern, Beethoven hier eine äußere Realität zu unterstellen; nicht einmal seine innere Realität wage ich zu rekonstruieren. Vielmehr nehme ich die Haltung des Hörers ein, dem entsprechende Assoziationen – oder auch andere – kommen und der deshalb erlebt: Hier äußert sich ein Individuum in einer Weise, die markante Spuren menschlichen Verhaltens abbildet, also für die »Ichheit« des Komponisten steht. Schon die gelegentlich »Raketenthema« genannten Anfangstakte von Beethovens erster gezählter Klaviersonate op. 2,1 stehen für eine solche Ichheit. Bereits auf sie könnten Schumanns Worte vom »jungen Beethoven« zutreffen, dem es »im Ballsaal […] zu eng und zu langweilig« geworden und der »lieber in’s Dunkle hinaus durch Dick und Dünn« gestürzt sei. Jedoch bleibt dieser Anfang trotz aller Charakteristik im Rahmen des Erwartbaren. Und es ist kein Zufall, dass man Beethoven ausgerechnet nach dem »Schlüssel« zur Sturm-Sonate und zur nicht viel später entstandenen Appassionata und somit zu Werken fragte, die in ungewohnter Weise ›gedankenvoll‹, für die Zeitgenossen vermutlich geradezu rätselhaft beginnen. Zwar ist es unnötig, deshalb das mehr als ein Jahrhundert alte Beethoven-Buch von Paul Bekker zu bemühen, der angesichts des Arpeggios die Vorstellung einer »mystischen Tiefe« bemühte, der »eine gespenstische Erscheinung mit leisen Schritten nach oben tappend« entsteige. Sinnvoll ist es jedoch, den anthropologischen Horizont dieser Geste wahrzunehmen – schlicht deshalb, weil diese Geste nicht im Rahmen gewohnter musikalischer Gesten bleibt und sich darin deutlich von dem Beginn der Sonate op. 2,1 unterscheidet: Der Künstler schöpft nunmehr aus den Tiefen seiner Erfahrung; er stellt ein »Ich« nicht einfach vor, treibt es vielmehr in fast buchstäblichem Sinn aus sich heraus. Das ist der neue Weg; und dieser lässt sich gut mit dem Wort »prozesshaft« beschreiben, wenn man dabei nicht nur das abstrakt kompositionstechnische Moment im Auge hat, sondern den leib-seelischen Gesamtzusammenhang des In-der-Welt-Ankommens. Diesen kann und darf jeder Hörer für sich und gegebenenfalls ohne entsprechende Angebote von außen erleben. Solches nenne ich – wie in dem Dialog mit Peter Schleuning ausgeführt – ein ganzheitliches Verständnis von Musik. Dieses impliziert auch ein Abrücken von der Vorstellung, man könne musikalische Verläufe verdinglicht wahrnehmen, wie es das Fachvokabular der Musikanalyse leicht suggeriert. Anstatt nur (!) von »Satzteilen« und von »Formverläufen« zu sprechen, müsste...


Martin Geck wurde 1936 in Witten geboren. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Theologie; ab 1976 war er Professor für Musikwissenschaft an der Universität Dortmund. Mit seinen zahlreichen Büchern zur Musikgeschichte und Biographien großer Komponisten erreichte er ein breites Publikum jenseits der Fachgrenze. Er galt als einer der besten Beethoven-Kenner, als "Doyen der Musikwissenschaft" (Frankfurter Allgemeine Zeitung) und als "letzter Generalist seiner Zunft" (Der Spiegel). Im November 2019 verstarb Martin Geck in Bochum, "Beethoven hören" ist sein letztes Buch. Hier zeigt sich Martin Gecks musikwissenschaftliches Credo und Vermächtnis in pointierter Weise.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.