Görtemaker | Rudolf Hess | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 758 Seiten

Görtemaker Rudolf Hess

Der Stellvertreter

E-Book, Deutsch, 758 Seiten

ISBN: 978-3-406-65292-9
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Welch ein Anblick für die Welt», notierte Joseph Goebbels geschockt in seinem Tagebuch. «Ein geistig zerrütteter zweiter Mann nach dem Führer. Grauenhaft und unausdenkbar.» Da war Rudolf Hess soeben zu seinem mysteriösen Flug nach England aufgebrochen, um im Alleingang Frieden zu stiften. Wer war dieser von Rätseln umgebene Mann, der wie ein Schatten Hitlers wirkte, in Nürnberg zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und nach seinem Tod in Spandau zu einer Ikone der Neo-Nazis werden sollte? Manfred Görtemaker legt die erste grundlegende Biographie vor, die mit neuen Quellen einen außergewöhnlich präzisen Einblick in die Chefetage des NS-Regimes ermöglicht.

Der Potsdamer Zeithistoriker Manfred Görtemaker hat fast zwanzig Jahre lang an dieser akribisch recherchierten Biographie gearbeitet. Erstmals konnte er ca. 4.100 Briefe und 50.000 Blatt Schriftwechsel aus dem Hess-Nachlass im Berner Bundesarchiv auswerten und mit einer Sondergenehmigung die Papiere von Lord Selkirk of Douglas einsehen, dem Sohn des Duke of Hamilton, zu dem Hess nach Schottland flog. Zudem hat er eine beeindruckende Zahl von weiteren bislang unerschlossenen Archivalien herangezogen. Das Resultat ist ein ungemein plastisches Lebensbild des Mannes, der von Anfang an mit Hitler durch dick und dünn ging, dessen wachsende Machtfülle wie ein Alter Ego verwaltete und über dessen Einfluss als «Stellvertreter des Führers» sich kein Rivale Illusionen machte.
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Einleitung
Am frühen Nachmittag des 17. August 1987 bittet Rudolf Hess, der letzte noch verbliebene Häftling im Alliierten Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau, in den Garten gehen zu dürfen. Kurz nach 14 Uhr betritt er mit dem amerikanischen Sergeanten Anthony Jordan, der an diesem Tag als sein persönlicher Bewacher eingeteilt ist, den Aufzug, der ihn aus dem Zellenblock in das Erdgeschoss führt. Dort schließt Jordan die Tür der Absperrung und das Gartenhaus auf, in dem Hess gern länger Platz nimmt, um zu lesen, wenn er sich draußen aufhält. Der Wachsoldat auf Turm Nr. 3 beobachtet, wie der Häftling häufig stehenbleibt und sich umsieht. Da es leicht nieselt, trägt Hess seinen langen Regenmantel und einen Strohhut. Am Gartenhäuschen angelangt, geht er hinein und macht die Tür hinter sich zu, während Jordan draußen wartet. Über das, was nun geschieht, gehen die Auffassungen weit auseinander. Tony Le Tissier, der letzte britische Gouverneur des Spandauer Gefängnisses, berichtet, Hess habe im Gartenhaus zunächst Mantel und Hut abgelegt und eine Weile mit dem Rücken zur Wand zwischen der Tür und dem kleinen Fenster des Häuschens gestanden. Dann habe er ein Verlängerungskabel genommen, das 1,40 Meter über dem Boden am Fenstergriff verknotet war und für eine der Leselampen gebraucht wurde, die sich im Raum befanden, einen schlichten Laufknoten in das lose Ende des Kabels gemacht, die Schlinge um seinen Hals gelegt und sich mit dem Rücken an der Wand zu Boden gleiten lassen. Dabei habe sich die Schlinge zugezogen, und dies habe zum Ersticken und Tod durch Herzversagen geführt.[1] Der Sohn von Rudolf Hess, Wolf Rüdiger Hess, bezweifelte diesen Hergang. Seiner Auffassung nach beging sein Vater nicht Selbstmord, sondern wurde ermordet. Der Posten auf dem Wachturm Nr. 3 habe gar nicht sehen können, dass Jordan vor dem Gartenhaus auf Hess wartete, weil ein hoher Baum ihm den Blick versperrte. Vielmehr sei der Wärter, nachdem er mit Hess das Gartenhaus betreten habe, zum Telefon in das Hauptgebäude gerufen worden. Diesen Augenblick hätten zwei Agenten des britischen Special Air Service in amerikanischer Uniform genutzt, um Hess zu töten. Sie hätten ihn, noch ehe er in der Lage gewesen sei, um Hilfe zu rufen, durch einen Schlag auf den Hinterkopf betäubt, ihm anschließend die Schlinge des Verlängerungskabels um den Hals gelegt – und zugezogen.[2] Wolf Rüdiger Hess stützte seine Mordthese unter anderem auf Informationen des ehemaligen Armee-Chefarztes und beratenden Chirurgen am britischen Militärhospital in Berlin, W. Hugh Thomas, der seinen Vater in den 1970er Jahren mehrfach persönlich untersucht hatte.[3] Ungereimtheiten in den offiziellen Verlautbarungen über den Tod von Hess, wie die Existenz mehrerer Obduktionsberichte, hatten Thomas veranlasst, eigene Nachforschungen anzustellen, um die Wahrheit herauszufinden. Aufgrund seiner früheren Position in Berlin war es ihm möglich gewesen, mit zahlreichen direkten und indirekten Zeugen zu sprechen. Diese Recherchen hatten ein gänzlich anderes Bild ergeben als die offiziellen Mitteilungen. Demnach waren die Umstände des Todes von Hess zumindest unklar. Thomas vermutete daher Mord, wie er 1988 in seinem Buch Hess: A Tale of Two Murders schrieb.[4] Allerdings war seine Glaubwürdigkeit zweifelhaft, seit er 1979 in seinem vorangegangenen Werk The Murder of Rudolf Hess behauptet hatte, Hess lebe gar nicht mehr, sei vielmehr im Mai 1941 bei seinem spektakulären Flug nach Schottland von deutschen Jägern über der Nordsee abgeschossen worden, während zur gleichen Zeit ein Doppelgänger von Dänemark nach Großbritannien geflogen und dort auch gelandet sei. Den Mord am richtigen Rudolf Hess habe Heinrich Himmler befohlen. Der Mann aber, der seit Juli 1947 von den Alliierten im Kriegsverbrechergefängnis von Spandau hinter Gittern gehalten werde, sei nur sein Doppelgänger, den die Deutschen den Alliierten untergeschoben hätten. Thomas suggerierte also gleich zwei Morde: erst an Hess selbst – auf Anweisung von Himmler – und dann an seinem Double durch die Briten.[5] Als Rudolf Hess 1987 im Alter von 93 Jahren in Spandau starb, waren die Umstände seines Todes damit ebenso mysteriös wie viele Abschnitte seines vorherigen Lebens. Hess gehört dadurch zu denjenigen Gestalten des Dritten Reiches, die bis heute noch immer Rätsel aufgeben und sich deswegen zur Legendenbildung besonders eignen. Die Aufmärsche von Neonazis an seinem Grab in Wunsiedel, die bis zu dessen Auflösung und Einebnung am 20. Juli 2011 in regelmäßigen Abständen stattfanden, waren Ausdruck dieser Mystifizierung und trugen dazu bei, Hess zum Idol rechtsradikaler Bewegungen zu stilisieren. Doch schon in der Zeit seines politischen Aufstiegs und als «Stellvertreter» Hitlers in Parteiangelegenheiten war er vielen rätselhaft. Zwar sah man ihn häufig an Hitlers Seite und hörte ihn gelegentlich auch reden, etwa wenn er auf einem der Parteitage der NSDAP in Nürnberg eine Ansprache des «Führers» ankündigte. Aber wer Hess wirklich war, woher er kam, wie er dachte, wie viel Macht er besaß und was er politisch zu erreichen beabsichtigte – über all dies ließ sich bisher nur spekulieren. Dies gilt auch für die Hintergründe seines überraschenden Fluges nach Schottland am 10. Mai 1941. Für den britischen Historiker und Holocaust-Leugner David Irving war es die Heldentat eines «Friedensboten», der den Krieg zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien zu beenden suchte; seine Bemühungen seien jedoch vom britischen Premierminister Winston Churchill zunichte gemacht worden, weil dieser aus Sorge um sein Bild in der Geschichte einen militärischen Sieg über Deutschland erzwingen wollte und sich aus «Angst vor dem Frieden» den Angeboten von Hess verweigerte.[6] Der deutsche Historiker Rainer F. Schmidt sieht im Flug von Hess dagegen den «Botengang eines Toren», der sich vom britischen Geheimdienst MI5 in eine Falle locken ließ.[7] Andere Autoren sprechen ebenfalls von einer britischen «Verschwörung», der Hess zum Opfer gefallen sei.[8] Im Fall des britischen Publizisten Martin Allen, der immer wieder mit geschichtsrevisionistischen Werken zum Zweiten Weltkrieg auf sich aufmerksam macht, war dabei auch Betrug im Spiel.[9]  Er schmuggelte 29 gefälschte Dokumente in zwölf verschiedene Aktenbestände der National Archives of the United Kingdom, um seine Theorie zu untermauern, die Briten hätten während des Zweiten Weltkrieges insgeheim mit den Nazis kollaboriert.[10] Sicher ist: Der Flug verstärkte die Aura des Geheimnisvollen, die Hess stets umgab – schon zu seinen Lebzeiten. Geboren und aufgewachsen im ägyptischen Alexandria, erklärt sich sein Lebensweg, wie bei vielen Angehörigen seiner Generation, erst mit der Zäsur der Niederlage von 1918, die für ihn ein Trauma bedeutete. Während der bürgerkriegsähnlichen Kämpfe in den Anfangsjahren der Weimarer Republik wurde er zum fanatischen Anhänger Hitlers und zu einem überzeugten Nationalsozialisten und Antisemiten, nachdem antijüdische Ressentiments bei ihm bis dahin überhaupt keine Rolle gespielt hatten. Die ideologische Besessenheit, die seinen Weg danach kennzeichnete, ließ schließlich keine Umkehr in ein rational bestimmtes Leben mehr zu. Die Bahn, auf die er nach 1918 geriet, endete erst mit seinem Tod 1987 in Spandau. Von der deutschen Propaganda wurde er jedoch bereits nach seinem Schottland-Flug im Mai 1941 für «wahnsinnig» erklärt. Allerdings bezweifelte selbst Joseph Goebbels, dass die Behauptung, der «Führer» sei mehr als zwanzig Jahre von einem Geisteskranken umgeben gewesen, die Öffentlichkeit zu überzeugen vermöge. «Welch ein Anblick für die Welt», notierte er am 13. Mai in sein Tagebuch, «ein geistig Zerrütteter zweiter Mann nach dem Führer. Grauenhaft und unausdenkbar. Jetzt heißt es, Zähne zusammenbeißen.»[11] Schon am nächsten Tag war er um Rechtfertigung bemüht: «Die Sache musste auf Wahnvorstellungen zurückgeführt werden. Wie will man das sonst erklären?»[12] Auch hier sind noch viele Fragen offen: War der Flug die Tat eines Einzelnen? Was wusste Hitler? Hatte Hess sich mit ihm abgestimmt? Und wenn nicht: Wer war eingeweiht? Hätte sich der Flug ohne fremde Hilfe überhaupt bewerkstelligen lassen? Zur Beantwortung dieser Fragen wurde im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern erstmals vollständig die persönliche Korrespondenz von Hess zwischen 1908 und 1987 eingesehen, die etwa 4100 Briefe umfasst. Gleiches gilt für den privaten Schriftwechsel der Familie mit rund 50.000 Blatt, der ebenfalls...


Manfred Görtemaker ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam.


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