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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 1, 416 Seiten

Reihe: Der Hof der Wunder

Grant Der Hof der Wunder

Roman

E-Book, Deutsch, Band 1, 416 Seiten

Reihe: Der Hof der Wunder

ISBN: 978-3-492-99430-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



In einem alternativen Paris des Jahres 1828 ist die Französische Revolution fehlgeschlagen. Skrupellose Aristokraten teilen sich die Stadt mit neun kriminellen Gilden, die die Unterwelt regieren. Zwischen den Gilden herrscht ein brüchiger Frieden. Nina, Angehörige der Diebesgilde, versucht, das junge Mädchen Ettie zu retten. Denn ausgerechnet Kaplan, der Oberste der »Gilde des Fleisches«, spezialisiert auf Menschenhandel und Prostitution, hat es auf die schutzlose Ettie abgesehen. Doch die verbündeten Diebe wollen sich nicht mit Kaplan anlegen. Nina und Ettie bleibt nichts anderes übrig, als sich den verfeindeten Gilden anzudienen und bis zur großen Zusammenkunft der Gilden, dem legendären Hof der Wunder, zu überleben. Aber als Kaplan auf die Spur der beiden kommt, droht in ganz Paris ein Krieg auszubrechen ...
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1
Le Debut de l’Histoire
Es ist die Zeit einer Hungersnot, eine Zeit, in der einen das Verlangen nach Nahrung quält und von innen nach außen zu verschlingen droht, das einen nur noch auf den Tod warten lässt. Und Tod, der Endlose, kommt immer. Lange vor Anbruch der Morgendämmerung ist es dunkel und still. Die Leichen der Verhungerten hat man während der Nacht auf das Straßenpflaster von Paris gelegt, wo sie auf die Karren warten, die sie fortbringen werden. Die Toten haben die Augen weit aufgerissen, sie hören nichts; ihnen ist alles egal, und sie haben keine Angst mehr. Sie erinnern mich an meine Schwester Azelma. Azelma, die niemals weint, hat zwei ganze Tage lang geweint. Ich habe den Grund dafür nicht begriffen, sie wollte weder essen noch schlafen. Ich habe alles getan, damit sie aufhört. Ich habe ihr sogar gesagt, dass Vater mit zwei Flaschen Schnaps im Bauch und Zorn im Blick kommt. Aber sie hat sich nicht gerührt, hat nicht zugehört, ihr war alles egal. Sie hatte keine Angst mehr. Am dritten Tag hat sie schließlich aufgehört. Ein paar Stunden lang hat sie auf dem Bett gelegen und in die Ferne gestarrt. Sie reagierte nicht, sah mich nicht einmal an. Ich glaube, das Weinen gefiel mir besser. Normalerweise hat Azelma mich mit einem gemurmelten »Komm schon, petite chaton« geweckt, und ich habe mich in ihre Wärme gekuschelt, während sie mir das Haar gebürstet und mir beim Anziehen geholfen hat. Jetzt schlüpfe ich ohne sie aus dem Bett und ziehe mich in der Kälte an, nehme das Kleid, das mir langsam zu kurz wird. Ich zerre ein paarmal mit der Bürste an meinem Haar und flechte es zu einem schiefen Zopf. Dann spritze ich mir eiskaltes Wasser aus dem schweren Porzellankrug ins Gesicht und werfe meiner Schwester einen verstohlenen Blick zu. Sie liegt auf der Seite, die Augen weit geöffnet, ohne etwas zu sehen. Die Schenke ist still zu dieser Stunde. Ich zögere kurz, aber Azelma regt sich nicht, also gehe ich nach unten, schnappe mir einen Eimer und nehme ein verblichenes Schultertuch vom Haken. Es gehört meiner Schwester und ist mir zu groß, aber der Brunnen ist viele Straßen von der Schenke entfernt, und der Weg wird kalt sein. Ich hasse den Weg in der Dunkelheit, und ihn allein zu gehen hasse ich auch, aber ich muss es tun. Draußen eile ich zum Brunnen und versuche den Blick auf die Leichen auf der Straße zu vermeiden, als ich an ihnen vorbeikomme. Am Brunnen senke ich den Eimer und hieve ihn gefüllt wieder nach oben. Meine eiskalten Finger kämpfen mit der Last. Der Weg zurück ist gefährlich glatt, und bei jedem vorsichtigen Schritt gefriert mein Atem zu Wolken. Mit jedem Atemzug denke ich an meine Schwester, und wieder nagt die Furcht an mir. Als ich die Schenke erreiche, sind meine zitternden Finger erleichtert, den Eimer abstellen zu können. Ich schütte etwas Wasser in einen Topf und setze ihn zum Kochen auf, dann blicke ich mich um. Der Boden muss geschrubbt werden, obwohl das den Gestank von altem Wein nicht entfernen wird. Im Dämmerlicht ist der Schankraum ein wahres Chaos aus Tellern, leeren Bechern und Krügen; das alles muss gespült werden. Ich habe Hunderte Teller gespült und abgetrocknet, habe den Boden Dutzende Male geputzt, und Azelma war immer an meiner Seite. Sie rümpfte die Nase, bespritzte mich mit Seifenblasen und sagte: »Katzen hassen Wasser.« Mit einem Seufzen entscheide ich mich, mit dem Boden anzufangen. Der Besen ist schwer, er lässt meine müden Arme schrecklich schmerzen, aber ich schiebe ihn energisch über die Bohlen. Vielleicht gelingt es mir ja, die Weinflecken wegzuscheuern. Vielleicht kann ich auch die Worte wegscheuern, die mir unablässig durch den Kopf gehen. Meine Schwester, meine Schwester. Gestern Abend hat Vater nichts gesagt, als Azelma schon den dritten Abend hintereinander nicht aus dem Zimmer kam. Als hätte er vergessen, dass es sie gibt. Er hat gesummt, fröhlich mit den Fingern auf den Tisch getrommelt. Er hat mir sogar ein Stück warme Brioche zugeworfen, was so ungewöhnlich war, dass ich mich kaum überwinden konnte, es zu essen. In der ganzen Stadt gibt es kaum genug Mehl für Brot, geschweige denn für Brioche, also weiß ich nicht, wo er sie gestohlen hat. Mein Vater ist ein Dieb. Statt diesem Stück Backwerk hat er sonst funkelnde Juwelen und schwere Börsen voller Gold gestohlen. Aber welchen Nutzen hat Gold schon in Zeiten der Hungersnot? Bei dem Duft der Brioche hat mein Magen laut geknurrt. Aber die Furcht nagte viel dringlicher an meinen Knochen als der Hunger, also brachte ich Azelma das Gebäck, wo es noch immer auf dem angeschlagenen Teller neben ihrem Bett liegt und vertrocknet. Meine Hände sind vom Putzen gerötet, auf meiner Stirn perlen Schweißtropfen, aber ich zittere noch immer. Wenn Azelma nicht isst, wird sie schon bald bei den Leichen draußen in der Kälte liegen und darauf warten, dass man sie abholt. Doch sie ist weder krank noch fiebrig, davon habe ich mich überzeugt. Mit ihr stimmt etwas anderes nicht, etwas Schreckliches. Aber was noch viel schlimmer ist, ich kann nichts tun, damit es aufhört. Ich komme mir wie das Kätzchen vor, mit dem Azelma mich immer vergleicht – winzig und zerbrechlich schlage ich mit den Pfötchen gegen den Wind. Von der Treppe kommt ein Laut. Ich drehe mich um. Dort steht Azelma. Sie hat sich angezogen und das Haar geflochten, sie sieht mich an. Das sollte mich erleichtern, aber ihre Miene ist beunruhigend. »Ich mache den Rest«, sagt sie tonlos. »Du holst Femi.« Eigentlich sollte ich froh sein, nicht mehr putzen zu müssen, aber meine Finger fassen den Besenstiel nur noch fester. Ich runzle die Stirn. Warum soll ich Femi Vano holen, den man den »Boten« nennt? Er kommt und geht, wie er will, flüstert meinem Vater Dinge ins Ohr. Er spricht leise mit Azelma und bringt sie zum Lachen. Aber die Sonne ist noch nicht einmal aufgegangen; Vater schnarcht in seinem Bett. Warum muss ich jetzt Femi holen? Können wir nicht einfach Seite an Seite putzen, wie sonst auch? Azelma kommt die Stufen herunter und nimmt mir den Besen ab. Meine Schwester kann mit Worten umgehen; ihre Stimme ist wie Honig, und die Gäste lieben sie dafür. Und weil sie hübsch und anschmiegsam ist. Aber auch wenn sie jetzt gedämpft spricht, ihr Tonfall ist befehlend. »Bring ihn nach hinten und sag es niemandem. Hast du mich verstanden?« Ich nicke und gehe zögernd zur Tür. Azelma fragt mich sonst immer, ob ich ein Schultertuch habe. Oder sie erinnert mich daran, dass ich einen Mantel brauche. Sie ermahnt mich, vorsichtig zu sein und nicht zu trödeln. Aber diesmal wendet sie sich ab und sagt kein Wort. Ich werfe ihr einen letzten Blick über die Schulter zu. Dieses harte Mädchen kenne ich nicht. Sie ist nicht meine Schwester. Sie ist etwas anderes, ein hohles Ding, das nur das Gesicht meiner Schwester trägt.   Ich rufe Femi, indem ich auf die Weise pfeife, die er mir beigebracht hat. Plötzlich ist er da, scheinbar wie aus dem Nichts. »Kätzchen«, sagt er mit einer angedeuteten Verbeugung, aber ich habe keine Zeit für seine Höflichkeiten und zerre ihn am Arm zur Schenke. Azelma schaut mit leblosem Blick zu uns auf und befiehlt mir, das Kerzenwachs von den Tischen zu kratzen und in den Topf zu werfen, in dem man es zu neuen Kerzen schmelzen wird. Als sie aus der Hintertür schlüpft, um mit Femi zu sprechen, schleiche ich auf Zehenspitzen in die Küche und klettere auf den hohen roten Hocker, den ich fürs Spülen benutze. Auf die Zehen gestellt, kann ich durch die zersprungene Scheibe gerade eben den oberen Teil ihrer Köpfe ausmachen. Sie stehen an der Wand, drücken sich dagegen. »Er kommt dich holen?«, höre ich Femi fragen. Ein langes Schweigen folgt. Als Azelma endlich spricht, klingt ihre Stimme bitter. »Vater wird noch etwas feilschen, das tut er immer. Du musst sie mitnehmen, solange sie beschäftigt sind. Ihnen wird gar nicht auffallen, dass sie weg ist.« »Wir können fliehen.« Femis Stimme hebt sich verzweifelt. »Wir können uns verstecken.« »Wer ist ihm jemals entronnen? Wie weit werden wir schon kommen, bevor man uns findet? Selbst wenn wir durch ein Wunder entfliehen könnten, würden wir sie verdammen, denn man wird uns mit Sicherheit aufspüren. Und wenn wir sie zurücklassen, wer wird dann wohl den Zorn meines Vaters zu spüren bekommen, was glaubst du? Hast du schon einmal daran gedacht, wen er Kaplan ausliefern könnte, um ihn zu beschwichtigen? Oder mich zu bestrafen?« Azelma schüttelt den Kopf und blickt zum Fenster, als würde sie mich dort spüren. Ich ducke mich, damit sie mich nicht sieht. »Du hast mir süße Dinge zugeflüstert, Femi Vano«, sagt sie, und ich hebe gerade rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie sie ihm sanft die Hand an die Wange legt. »Aber wo ich hingehe, werden die Worte verblassen. Wenn ich Glück habe, werde ich mich an nichts erinnern. Schwöre es mir bei Knochen und Eisen – du wirst einen Beschützer für sie finden.« Femi hebt die Hand, und nach einer funkelnden Bewegung seines Messers ist die Handfläche von einem langen dunklen Strich gezeichnet. Blutstropfen bilden sich wie schwarze Diamanten. »Mein Wort, mein Blut«, sagt er. »Ich gebe dir mein Versprechen bei Knochen und Eisen.« Ihre Stimme wird weicher, sie legt eine Hand auf seine Brust. »Liegt dir etwas an mir?« »Das weißt du doch.« »Dann weine nicht um mich. Ich bin bereits tot.« »Nein, nicht tot. Die Toten sind wenigstens frei …«   Als Azelma zurück ins Haus kommt, ist ihr Gesicht eine kalte Maske. Femi folgt ihr. Wie seine Vorfahren, die Maghrebiner aus Nordafrika, trägt er sein dichtes Haar in Zöpfen. Er hüllt sich immer in einen schweren...


Grant, Kester
Kester Grant ist eine britisch-mauritische Schriftstellerin. Geboren in London und aufgewachsen in England, im Kongo und auf Mauritius, fühlt sie sich heute mit ihrem Ehemann, ihren Hunden und Katzen überall dort zu Hause, wo ihr die besten Ideen zum Schreiben kommen. »Der Hof der Wunder« ist ihr erster Roman.

Kester Grant ist eine britisch-mauritische Schriftstellerin. Geboren in London und aufgewachsen in England, im Kongo und auf Mauritius, fühlt sie sich heute mit ihrem Ehemann, ihren Hunden und Katzen überall dort zu Hause, wo ihr die besten Ideen zum Schreiben kommen. "Der Hof der Wunder" ist ihr erster Roman.


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