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E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Gröschner Moskauer Eis

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-8412-1357-0
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die 26-jährige Annja Kobe wird im Winter 1991 in ihre Heimatstadt Magdeburg gerufen, weil ihre Großmutter im Sterben liegt. Ihr Vater, der sich um seine Mutter kümmern sollte, ist verschwunden. Annja geht in die Wohnung ihres Vaters und findet ihn tiefgefroren in seiner eigenen Kühltruhe. Als Mitglied einer Familie von manischen Gefrierforschern – schon ihr Großvater war Kälteingenieur – ist sie zwar erschrocken, ihren Vater in gefrorenem Zustand zu finden, aber eigentlich nicht besonders verwundert darüber. Das Überraschende aber ist, dass die Truhe an keine Steckdose angeschlossen ist. Bis zum Tod ihrer geistig verwirrten Großmutter sucht Annja nach den Hintergründen dieses Gefriervorganges, den sie sich wissenschaftlich nicht erklären kann. Die einzige mögliche Zeugin, die Kollegin des Vaters, Luise Gladbeck, ist wenige Tage zuvor gestorben ...
Ein humorvolles und ironisches Buch über eine Insel in der Elbe voller skurriler Leute, einen zurückgezogenen Nationalpreis, die Hauptsätze der Thermodynamik, Alpträume, Gefrierfleischverluste, Sportfanatiker, Sekretärinnen, eine Kühltruhe, die auch nach 30 Jahren noch funktioniert, und mehr als zehn Kugeln Eiskrem.
»Zum Dahinschmelzen« TAZ.
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3. Kapitel
Ammoniak Schmelzpunkt. Der Schmelzpunkt liegt zwischen –77,3 und –77,73 °C. Am 30. November hatte ich das Telegramm des Krankenhauses in meinem Briefkasten gefunden. Nach dem Telefonat mit dem Arzt war ich ins Auto gestiegen und in Richtung Magdeburg losgefahren. Lange würde die Reise nicht dauern. Mein Vater würde sich wieder anfinden, wahrscheinlich war er nur auf einer Dienstreise und hatte vergessen, Großmutter Bescheid zu sagen. Ich würde alles Notwendige regeln, die Sache nach Vaters Rückkehr in seine Hände legen und wieder nach Berlin zurückfahren. Ich hatte niemandem erzählt, wo ich hinfuhr, es lohnte sich einfach nicht. Am 16. Dezember war ich um 9 Uhr ins Arbeitsamt bestellt. Bis dahin würde ich längst wieder zurück sein. Hinter Michendorf geriet ich in dichten Nebel und konnte nur noch Schritt fahren. Über Verkehrsfunk wurde gewarnt, daß kurz hinter der Abfahrt Burg- Ost ein Kühlschrank auf der Autobahn liege. Als ich nach vier Stunden Ziesar erreichte, stand der Verkehr still. Man konnte die Hand nicht mehr vor Augen sehen, und es dauerte ewig, bis das Blaulicht, das gespenstisch durch den Nebel flimmerte, an mir vorbei war. Ich verbrachte den Rest der Nacht in der Autobahnraststätte zwischen lauter Gestrandeten; eine bunte Mischung aus Familien, Truck-Fahrern und alleinreisenden Männern, bis die drei bei dem Auffahrunfall Getöteten samt ihren Wracks weggeschafft waren. Die Raststätte leerte sich. Ich drückte die Kippe aus und folgte den anderen. Über den Unfall sprach niemand. Die letzten zwei Jahre hatten bewiesen, daß man sich an alles gewöhnen konnte. An anderes Geld, einen anderen Staat, an eine gehäufte Anzahl von Toten im Straßenverkehr. Kurz vor Burg- Ost mußte ich an den Kühlschrank auf der Straße denken. Aber der Verkehr floß ohne weitere Unterbrechung an der Autobahnabfahrt vorbei. Daß ich schließlich die Elbe überquerte, konnte ich nur am Geräusch der Räder erkennen, die über eine lange Brücke fuhren. Der Fluß war nicht zu sehen, aber ich roch ihn durch die geschlossenen Fenster und erinnerte mich an eine Gewißheit aus meiner Kindheit – wenn der Zug über den Fluß fährt, bist du gleich zu Hause. Es dämmerte schon, als ich im Krankenhaus ankam. Der Arzt hatte seinen Dienst längst beendet und würde an diesem Tag nicht mehr kommen. Ich sollte mich bis morgen gedulden. Großmutter schlief, die Decke hatte sie aus dem Bett geworfen. Vor mir lag ein Bündel aus Knochen, das ich fast nicht erkannte. Ihr Nachthemd hatte sie sich ausgezogen und die Windel war ihr bis in die Kniekehlen gerutscht. Ihre Brüste waren nur noch zwei winzige schrumplige Hautsäcke. Ich deckte Großmutter vorsichtig zu, weil es mir unangenehm war, sie so sehen zu müssen. Dann verließ ich das Zimmer und fuhr auf die Insel in Vaters Wohnung. Vielleicht hatte er eine Nachricht hinterlassen. Ich weiß nicht, warum ich so ein klammes Gefühl hatte, als ich in den Fahrstuhl stieg und auf die 18 drückte. Die Wohnung war aufgeräumt, nirgendwo lag ein Zettel, aber ich suchte nicht lange, weil mich eine bleierne Müdigkeit überfiel. Ich schlief sofort ein. Ich träumte, ich sei Medizinstudentin und solle einen Schädel sezieren. Es war obligatorischer Teil des Studiums, dem man sich nicht entziehen konnte, wollte man eines Tages den Abschluß machen. Vor der Tür des Anatomischen Institutes stand ein alter Wachmann. Er gab mir den Schädel und sagte scherzhaft: »Nicht fallen lassen.« Ich ging einen langen Weg nach Hause und hatte plötzlich das Bedürfnis, ihn noch auf der Straße auszupacken. Ich hatte noch nie einen Toten gesehen. Ich wickelte während des Gehens den Schädel aus dem Zeitungspapier. Als ich in Höhe meines Hauses war, hatte ich endlich alle Zeitungspapierschichten entfernt. Und hielt den Kopf meines Vaters in der Hand. Voller Panik wickelte ich das Papier wieder um den Schädel, aber es kam mir vor, als wäre der Bogen zu kurz, um den Kopf vollständig zu bedecken – mal fehlte ein Stück am Haaransatz, mal schaute die Nase unter dem Papier hervor. Ich wollte den Schädel fallen lassen, aber er klebte wie ein tiefgefrorener Eisblock an meinen Händen. Ich schaute mich ängstlich um, ob mich jemand gesehen haben könnte, aber die Straße war menschenleer, und auch die Gardinen bewegten sich nicht. Ich war in einem fürchterlichen Zwiespalt: Sezierte ich den Schädel nicht, wäre mein Studium vorbei, sezierte ich ihn, tat ich etwas, was ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren konnte. Ich fand einen Kompromiß; ich schaute das Gesicht nicht an, ich sezierte den Kopf meines Vaters von hinten und mit einem Tränenschleier vor den Augen. Wenn ich einen Schnitt ansetzte, kam kein Blut, sondern eine graue Flüssigkeit, die mich an das Wasser der Elbe erinnerte. Als ich den Schädel schließlich doch umdrehte, weil ich mir nicht mehr sicher war, daß er zu meinem Vater gehörte, war das Gesicht ausgelöscht. Ich stand auf und ging zum Fenster. Es begann schon wieder dunkel zu werden. Nebliger Dunst hing über den beiden Elbarmen, die sich an der Spitze der Insel zu einem Strom vereinigten, der zu dieser Jahreszeit in träger Gelassenheit Richtung Hamburg floß. Im Winterhafen lagen die Schiffe und warteten auf das Frühjahr. In dem alten grauen Haus neben dem Hafen hatten wir bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr gewohnt. Neben Fräulein Gries. Wegen ihres Hundes Kalif hatte ich schon als Kind schlechte Träume. Mein erster, immer wiederkehrender Traum war der, daß ich auf der Uferseite der Elbstraße entlangging und Kalif mir entgegenkam. Beim ersten Mal fraß er mich nur auf, und ich erwachte. Beim zweiten Mal lag ich unzerkaut in seinem Bauch und gruselte mich, weil es so dunkel war. Nachdem dieser zweite Traum so oft wiedergekehrt war, daß ich nicht mehr einschlafen konnte, faßte ich, während ich im Bauch Kalifs lag, den Entschluß, mit aller Kraft durch den Arsch des Hundes wieder ins Freie zu gelangen. Es war ein wunderbares Glücksgefühl, als ich beim Herauskriechen die Johanniskirche am Westufer erkannte. Die Kosmetikerin Gries betrieb in ihrer Wohnung eine kleine Praxis, die meine Mutter einmal im Monat aufsuchte. Fräulein Gries schwor auf Gurkenmasken, um die Gesichtshaut meiner Mutter straffer und jünger erscheinen zu lassen. Wenn im Winter keine Gurken zu bekommen waren, brachte Vater manchmal Mutter zuliebe eine aus der Versuchsanordnung zur Kältelagerung von Gemüse mit. Den Quark rührte Fräulein Gries selbst an. Quark gab es schließlich immer. Ich durfte zusehen, wie das Gesicht meiner Mutter unter Gurkenscheiben verschwand, und hatte die Aufgabe, nach 20 Minuten Scheibe um Scheibe aufzuessen, denn nach Meinung von Fräulein Gries hatten sie noch ausreichend Vitamine. Dabei wurde ich argwöhnisch von Kalif bewacht, der nur durch gutes Zureden von Fräulein Gries davon abgehalten werden konnte, es mir nachzutun. Denn Kalif leckte mit Inbrunst Gesichter ab, am liebsten meins, weil ich noch so klein, der Hund aber so groß war, daß wir uns Auge in Auge gegenüberstanden, wenn wir uns begegneten. Dabei verströmte er einen üblen Geruch und stieß einen wohligen Schmatzlaut aus. Ich mußte stocksteif verharren, bis er fertig war. Fräulein Gries war der Meinung, daß es eine große Ehre sei, von ihrem Kalifen abgeleckt zu werden. »Das macht er nicht mal mit mir«, sagte sie. Dafür schenkte sie mir Ketten, aus dem Westen, wie sie betonte, die mir aber gar nicht gefielen. Ich bekam schnell heraus, daß diese Ketten aus Papierschnipseln gebastelt waren, die man auseinanderfalten konnte. Einmal hatte ich drei Tage zu tun, bis ich eine Seite einer Illustrierten zusammengepuzzelt hatte, auf die zwei Reportagen gedruckt waren. Eine über die Gattin des Schahs von Persien, besser gesagt über die 197 Paar Schuhe, die sie besaß, und eine über einen Mann aus Gelsenkirchen, der so arm war, daß er sich keinen Dynamo für sein Fahrrad leisten konnte und deshalb in der Nacht von einem Auto überfahren wurde und noch am Unfallort starb. Ich schaute erst einmal in meinem Atlas nach, wo der Iran und wo Gelsenkirchen lagen. Gelsenkirchen fand ich nicht, den Iran unter der Sowjetunion. Fräulein Gries war ein bißchen wie Farah Diba und Kalif wie der Schah von Persien, denn auch der wurde von seiner Frau über alles geliebt. Fräulein Gries betonte immer, daß sie die Arbeit als selbständige Kosmetikerin nur für Kalif und ihre alte Mutter tun würde, die in der weitläufigen Wohnung im hintersten Zimmer hauste, währenddessen Kalif auf alte Art den Herrn im Hause mimte. Er hatte Mutter Gries einmal gebissen, so daß sie sich nur in der Wohnung bewegte, wenn der Hund mit Fräulein Gries auf Spaziergang war. Eines Tages mußte Fräulein Gries ihre Praxis schließen, weil sie nicht Mitglied der Produktionsgenossenschaft Handwerk werden wollte. Sie konnte auch nicht mehr dorthin, wo die Perlenketten herkamen, und so schraubte sie das Schild »Gertrud Gries, staatl. gepr. Kosmetikerin, Termine nach Vereinbarung« ab und machte gar nichts mehr. Manchmal traf ich sie noch auf der Treppe, und jedesmal, wenn ich sie sah, sagte sie: »Deine Akne, mein Kind, wäre ein großes Geschäft für mich geworden. Aber wenn dieser Staat mich nicht will, dann mußt du eben alleine damit fertigwerden. Aber drück ja mit deinen dreckigen Fingernägeln die Pickel nicht aus.« Kalif lief ihr zu dieser Zeit nur noch schwerfällig hinterher. Bald darauf starb Mutter Gries. Die Kondolenzbezeugungen nahm Fräulein Gries mit stoischer Ruhe entgegen, nach einer Woche in Schwarz war es so, als habe es Mutter Gries nie gegeben. Ein Jahr später aber kam der...


Gröschner, Annett
Annett Gröschner wurde 1964 in Magdeburg geboren. Sie veröffentlichte Gedichte, Reportagen, Dokumentarliteratur sowie drei Rundfunkfeatures. Annett Gröschner lebt als freie Journalistin in Berlin.


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