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E-Book

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Gröschner Walpurgistag

Roman

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-641-06831-8
Verlag: DVA
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ein rasanter Großstadtroman – verfasst von einer leidenschaftlichen Erzählerin
Es ist der 30. April in Berlin, die Stadt bereitet sich auf die alljährlichen Krawalle in der Walpurgisnacht vor. Für Annja Kobe ist damit der Zeitpunkt gekommen, von der Polizei unbemerkt mit ihrem Vater umzuziehen, der seit zehn Jahren und fünf Monaten tiefgefroren in einer Kühltruhe liegt. Sie bittet Alex um Hilfe, einen Stadtstreicher, der Berlins Schlupflöcher so gut kennt wie kein anderer. Auf ihrer Tagesreise durch die Stadt kreuzen sie die Wege von Menschen, die wegen neuer Besitzverhältnisse die Wohnung wechseln müssen, Gas ablesen oder Taxi fahren, zur Schule gehen oder sie schwänzen, sich auf der Flucht vor der großstädtischen Einsamkeit in Blind Dates stürzen oder glauben, die Welt durch Aktionstheater verbessern zu können. All diese Lebensgeschichten verweben sich zu einem dichten Netz, das sich über die Stadt legt, sodass Berlin selbst zu einem der Protagonisten wird, seine Gegenwart wie Vergangenheit.

„Walpurgistag”, der lang erwartete zweite Roman von Annett Gröschner, ist ein lebenskluges Buch, raffiniert strukturiert, temporeich, mit Lakonie und Witz erzählt.
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Autoren/Hrsg.


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"12.52 Uhr Liebig liest Zeitung im Torpedokäfer, und Annja Kobe spielt mit dem Eis (S. 226-227)

Liebig wartet schon eine Weile. Er sitzt am Tresen und hat sich alle Zeitungen von der Fensterbank genommen, wie er es auch an den Tagen tut, an denen kein Leichenschmaus stattfindet. »Alle mal herhören! Der Pariser Platz wird gepflastert. Das Tor ist zu!«, trötet er, aber die anderen im Raum sind mit sich beschäftigt, also fragt Liebig den Typen hinterm Tresen: »Zwingt Ferrari Schumi zum Verlieren?« Der Befragte poliert stoisch seine Gläser weiter und schaut ihm ausdruckslos ins Gesicht, als verstehe er seine Sprache nicht.

»Oh, hier steht’s ja: >Der Frühling tut Ihnen richtig gut. Sie sind ausgeglichen und wissen auch die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen.<« Der Tresentyp öffnet die Falltür. Liebig sagt: »Es war nicht so gemeint, mach das Verlies wieder zu.« Das Bierfass muss gewechselt werden. »Der redet nicht mit mir«, sagt Liebig zu Alex, der gerade hereingekommen ist und nun etwas umständlich versucht, den Barhocker zu entern, »dabei bin ich eine lebendige Zeitung.« – »Du musst mal nach seinen Bedürfnissen fragen. Vielleicht will er ja lieber die Wirtschaftsseiten der FAZ vorgelesen bekommen.« –

»Ich will, dass der Typ seine Klappe hält und mich in Ruhe meine Arbeit machen lässt. Schließlich ist meine beste Kraft gerade verstorben«, tönt es aus dem Tresenschrank, dann entweicht Luft aus einem Ventil. »O.k., trauert ihr, ich wende mich dem Schachspiel zu.« Liebig faltet den Berliner Kurier ordentlich zusammen. »Dann erfahrt ihr eben nicht, dass die Wolken im Laufe des Tages dichter werden.« Liebig tauscht die Zeitung gegen das Schachspiel auf dem Fensterbrett aus und verzieht sich in die hinterste Ecke der Kneipe, wo ihn keiner stört. Seine Trauerarbeit ist für heute getan, er sieht das ganz professionell, obwohl der Tote schon so etwas wie ein Freund war.

Die anderen, rund zwanzig Leute, in der Mehrzahl Frauen, sehen Aki dabei zu, wie er mit tänzelnden Schritten, was mir zeigt, dass er mal wieder eine Freundin sucht, die im Raum verteilten Vierertische zu einer langen Tafel umarrangiert. Die Frauen entfalten weiße Tischdecken und rücken Stühle. Am Tresen läuft der normale Nachmittagsbetrieb, der hier nicht Latte-macchiato-, sondern Bierausschank heißt. Mancher mag auch Schnaps mit Kaffee als Zugabe, aber filterlos und ohne Schnickschnack.

Liebig ist fast täglich hier, Alex gelegentlich, Aki selten, ich praktisch nie, jedenfalls nicht unter meinem bürgerlichen Namen Annja Kobe. Heute bin ich als Danielle Schneider anwesend, Danielle Schneider in Liquidation allerdings. Ich nehme die Gelegenheit wahr, mich unter den inzwischen am ersten Schnaps nuckelnden Damen umzusehen, ob nicht vielleicht eine darunter ist, die mir einen Gefallen tun könnte, ohne großen Einsatz, sie müsste mir nur ihren Personalausweis schenken. Aber keine der Frauen hat auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit mir. Sie sind entweder klein, dunkelhaarig und mit dicken Nasen oder von auffälliger Schönheit.

Alex hat mir vorhin beim Verlassen des Friedhofs abgeraten, mit hierherzukommen. Zu gefährlich, auch wenn ich mich noch so gut tarnte mit Perücke und Sonnenbrille. Beerdigungen seien nun mal Klatschbörsen, da zieht schnell mal ein Gerücht große konzentrische Kreise und will nicht mehr aus der Welt. Aber ich bin heute zu unternehmungslustig, um gleich wieder in meiner neuen Höhle zu verschwinden. Zwei Leuten, die mich gefragt haben, wie ich zu dem Toten gestanden hätte, habe ich gesagt, dass ich eine Ex sei, genauer gesagt, eine Ex aus dem Iskra-Klub, jenem legendären Klub im Haus der Jungen Talente, dem Blix Anfang der Siebziger vorstand. Ich sei damals eine streng geheim gehaltene Geliebte gewesen, denn Blix sei bekanntlich zu der Zeit verheiratet gewesen. Und deswegen sei ich dann auch nicht mehr hingegangen, um keinen Verdacht zu erregen, auch wegen der vielen Stasileute, die da gespitzelt hätten."


Gröschner, Annett
Annett Gröschner, 1964 in Magdeburg geboren, studierte Germanistik in Berlin, wo sie seit 1983 lebt. Für ihr schriftstellerisches Werk, das Sachbücher, Theaterstücke, Gedichte, Dokumentarliteratur wie Prosa umfasst, wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Außerdem schreibt sie als Journalistin für verschiedene Tages- und Wochenzeitungen und das Radio. 2000 veröffentlichte sie mit großem Erfolg den Nachwenderoman "Moskauer Eis". 2011 erschien "Walpurgistag", ihr zweiter, ebenfalls von der Kritik hochgeschätzter Roman, der mit dem Brandenburg Lotto Literaturpreis ausgezeichnet wurde.


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