Großbölting | Die schuldigen Hirten | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Großbölting Die schuldigen Hirten

Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-451-82654-2
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Eine »Zäsur in der Kirchengeschichte« – so bewertet der Historiker Thomas Großbölting den weltweiten sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. In diesem Buch zeichnet er die Geschichte von Betroffenen, Tätern und Vertuschern des Missbrauchsskandals nach und analysiert die fatalen kirchlichen Strukturen, die die Taten ermöglichten.

Das Buch ist damit zweierlei: das Gesamtbild eines der erschütterndsten Kapitel der Kirchengeschichte und ein Anstoß für die Zukunft.
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Einleitung: Vom guten zum schuldigen Hirten – der tiefe Fall der katholischen Kirche
Dieses Buch handelt von massivem und vielfachem sexuellen Missbrauch gegenüber Kindern und Jugendlichen. Viele hunderte Male wurden in der katholischen Kirche in Deutschland Kinder, Jugendliche und schutzbefohlene Erwachsene von Priestern, Ordensgeistlichen und anderen geweihten Personen missbraucht. Die Bandbreite dieser Taten ist groß und reicht von »schlüpfrigen Bemerkungen« bis hin zur brutalen Vergewaltigung: Die Betroffenen wurden durch Geistliche ausgefragt und in Gespräche über ihre Sexualität verwickelt. Ihnen wurden sexuell konnotierte »Witze« erzählt oder pornographische Bilder gezeigt. Betroffene wurden gegen ihren Willen berührt, umarmt, geküsst. Täter onanierten vor ihnen, rieben sich an ihnen, drangen auf verschiedene Art und Weise in ihre Körper ein. Neben sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen traten nichtsexualisierte körperliche Gewalttaten, aber auch psychische Abhängigkeiten, in die Betroffene gebracht wurden. Täter befriedigten somit nicht ausschließlich ihr sexuelles Verlangen, sondern übten physische, vor allem aber psychische Gewalt über diejenigen aus, die sie drangsalierten. Sexuelle Begierde und Machttrieb waren und sind untrennbar miteinander verbunden. Die vielfachen Verbrechen fanden in Kirchengebäuden, in der Sakristei, im Beichtstuhl, in Privatwohnungen, aber auch in Pfarrhäusern, in Jugendheimen, Zeltlagern und an vielen anderen Orten statt, denen allen eines gemeinsam ist: dass sie der katholischen Kirche zuzuordnen sind. Es gibt neben dem Skandal der Missbrauchstaten selbst einen zweiten Skandal, der noch viel tiefer in der katholischen Kirche verankert ist. In diesem Zusammenhang stehen nicht mehr allein die klerika­len Täter im Fokus, sondern mit den Bischöfen, Weihbischöfen und anderen personalverantwortlichen Funktionären die katholische Hie­rarchie: Auch wenn wir vor allem seit 2010, seit der Aufdeckung des systematischen Missbrauchs im vom Jesuitenorden getragenen Canisius-Kolleg, verstärkt öffentlich über den Missbrauch sprechen, waren viele dieser Verbrechen und Untaten bereits vorher in den Bischofssitzen und Generalvikariaten der Diözesen bekannt. Die amtskirchliche Reaktion darauf folgte einem Muster: Der sexuelle Missbrauch von Klerikern an ihren Schutzbefohlenen wurde fortgesetzt und systematisch verschleiert und vertuscht. Was so harmlos klingt – Vertuschen –, ist tatsächlich ein eklatantes Fehlverhalten und zog gravierende Folgen nach sich. Wer als Bischof und Personalverantwortlicher schwieg und die Täter einfach nur versetzte, der traf gleich zwei verhängnisvolle Entscheidungen: Er signalisierte dem Täter, dass diesem keine schweren Konsequenzen drohten. Immerhin musste aus der Erfahrung heraus der überführte Täter weder befürchten, öffentlich bloßgestellt zu werden, noch, seine Stellung als Pfarrer und damit seine Existenzgrundlage zu verlieren. Und – viel schlimmer – die vertuschenden Bischöfe schufen auf diese Weise wiederholt Gelegenheiten für das Verbrechen: Jenen pädosexuell fixierten Priestern, die immer wieder missbrauchten, führten die Vertuscher wiederholt Kinder zu, indem sie diese in neue Gemeinden versetzten und oftmals niemanden über den vorhergehenden Missbrauchsfall informierten. Der Versuch, den Ruf der Institution Kirche ebenso wie das Sakrament der Priesterweihe zu schützen, rangierte weit vor den berechtigten Interessen der Betroffenen nach Anerkennung ihres Leids, Wiedergutmachung und Gerechtigkeit. Institutionen- und Täterschutz waren die dominierenden Handlungsmuster der katholischen Hierarchie. Ein dritter Skandal, Vertrauensbruch und Anlass für zunehmenden Bedeutungsverlust zugleich, entwickelte sich vor allem seit 2010. Erst zögerlich, dann aber vom öffentlichen Druck zunehmend getrieben versuchten sich die Bischöfe und ihre Institutionen an der Aufarbeitung der Missbrauchskrise. Aber heute deutet sich auch nach über zehn Jahren weder an, dass die Institution einen Zugang zu den Betroffenen, noch, dass sie einen entschiedenen Ansatz gefunden hat, die den Missbrauch begünstigenden Faktoren selbst anzugehen. Die Konsequenzen sind drastisch: Wo bereits in den Nachkriegsjahrzehnten der Bundesrepublik die Kirchen massiv an Bedeutung verloren hatten, da beschleunigte das Bekanntwerden des sexuellen Missbrauchs und ihr Umgang mit diesem die Tendenz noch einmal: »Die Menschen glauben uns nicht mehr« – mit diesen schonungslosen Worten fasste Kardinal Marx als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz bei der Eröffnung von deren Vollversammlung im September 2018 seine Sicht auf die Entwicklung zusammen.1 Mit der Veröffentlichung (und dem Zurückhalten) weiterer Gutachten in Köln, Aachen, München und anderen Bistümern wie auch mit der öffentlichen Diskussion über das Fehlverhalten katholischer hoher Geistlicher bis hin zu Papst Benedikt XVI. spitzte sich die Situation noch weiter zu. Die katholische Kirche – einst eine Institution mit hoher Reputation und starker Prägekraft für die gesamte Gesellschaft und ihre politische Kultur – befindet sich im freien Fall. Dass momentan besonders die katholische Kirche im Fokus steht, ist nicht selbstverständlich, ganz im Gegenteil: Sexueller Missbrauch findet in allen Teilen der Gesellschaft statt. Es gibt sogar gut begründete Expertisen, die besagen, dass nicht der Beichtstuhl und das Messdienerlager die »Hotspots« sexuellen Missbrauchs sind, sondern dass die meisten Fälle in der familiären Umgebung von Betroffenen stattfinden. Zugespitzt gesagt ist es wohl nicht gefährlicher, »seine Kinder zum Kommunionunterricht und auf eine katholische Schule zu schicken als in einen Sportverein oder in die Musikschule.«2 Insofern ist die Diskussion um sexualisierte Gewalt in der Gesellschaft extrem eingeschränkt – ein Phänomen, über dessen Gründe noch zu sprechen sein wird. Und doch hat der Fokus auf die katholische Kirche seine Berechtigung, die zunächst aus der enormen Fallhöhe resultiert. Vom guten zum schuldigen Hirten
»Der HERR ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen. / Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.«  Bis heute beten Christinnen und Christen mit dem Psalm 23 eine der schönsten Versdichtungen des Alten Testaments und sprechen damit von Gott als einem guten und fürsorglichen Hirten, der sich um seine Schafe kümmere. Dem Johannesevangelium zufolge sagte Jesus selbst von sich: »Ich bin der gute Hirt« (Joh 10,14), und beschrieb sich als jemanden, der seiner Herde Schutz wie auch »ewiges Leben« gebe. Im Gegensatz zum Tagelöhner, der seiner Herde nicht verbunden sei, sei er der Hirte, der seine Schafe kenne, so wie sie ihn. Daher folgten ihm die Schafe, »denn sie kennen seine Stimme«. Diese biblischen Verwendungen des Bildes vom »guten Hirten« waren die Grundlage für einen rasanten Siegeszug der Metapher, die in der weiteren Geschichte oft und für immer mehr Akteure genutzt wurde:3 Schon die frühchristlichen Gemeinden stellten nicht nur Jesus bildlich als einen Hirten dar, der auf seinen Schultern ein Lamm trug, sondern bezeichneten auch ihre Gemeindeleiter als Hirten. Laut dem Evangelisten Johannes konnten sie sich dabei auf Jesus selbst berufen, der den Apostel Petrus aufgefordert habe, ihm nachzufolgen und an seiner statt »die Schafe zu weiden« (Joh 21,15–16). Diese Bildtradition verbreitete sich rasant und prägte insbesondere das Priesterimage in der hierarchischen Konstellation der katholischen Moderne: In der Nachfolge des guten Hirten Jesus waren es der Papst, die Bischöfe und die Priester, die Jesus im Hirtenamt folgten und dabei die Kirche verkörperten. Noch das Zweite Vatikanische Konzil Mitte der 1960er-Jahre verstand die Bischöfe als »eigentliche, ordentliche und unmittelbare Hirten« ihrer Teilkirchen und schrieb den Priestern zu, »entsprechend ihrem Anteil an der Vollmacht das Amt Christi, des Hauptes und Hirten« auszuüben.4 Ihr Beruf und ihre Berufung sei es, sich um ihre Gemeinden zu kümmern und diese notfalls unter Einsatz des eigenen Lebens zu verteidigen – ebenso wie der gute Hirte das für seine Schafe tue. Zugleich war im Bild des Hirten immer eine zweite Bedeutungsebene angelegt: die Konstruktion eines hierarchischen Abstands zwischen dem Hirten und seinen Schafen. Übertragen auf die Beziehung zwischen Kleriker und Laien war damit der Anspruch auf Autorität, Führung und Gefolgschaft gesetzt. Für den Kontext des Missbrauchs spielt diese Komponente als Machtelement eine besonders entscheidende Rolle. Sensibler als viele andere Zeitgenossinnen und Zeitgenossen haben die Mitglieder der britischen Popgruppe Pink Floyd die Ambivalenz dieses Bildes erkannt. Auf ihrem Album »Animals« griff die Band im Jahr 1977 den Psalm in ihrem Song »Sheep« in ganz anderer Weise auf. »The lord is my shepherd«, so zitieren die Musiker den ersten Vers. Das Keyboard präludiert zurückhaltend, fast leise im Zwölfachteltakt, der Ton hell und kräftig – um im Gegenvers die biblische Aussage in ihr krasses Gegenteil zu verkehren, musikalisch intoniert in e-Moll. Plötzlich lösen Schlagzeug und E-Gitarre das Keyboard ab. »You better watch out, / There may be dogs about / I’ve looked over Jordan, and I have seen, / Things are not what they seem.« Im Songtext wird der gute Hirte des Psalms, der seine Schafe an eine frische Weidestelle führt, zum grausamen Schlächter,...


Thomas Großbölting, geb. 1969, war von 2009 bis 2020 Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit August 2020 ist er Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) und Professor für Neuere Geschichte/Zeitgeschichte im Arbeitsbereich Deutsche Geschichte der Universität Hamburg. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Geschichte von Religion und Kirche in der Moderne; zuletzt: Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013.


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