Reflexionen zu Innovation und Kritik
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-7557-3246-4
Verlag: Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
02 Digitalisierung und betriebliche Bildung
Verflechtung sozio-technischer Prozesse als Referenz für erwachsenenpädagogisches Handeln
Philipp Assinger und Philip Webersink Zitation
Assinger, Philipp/Webersink, Philip (2022): Digitalisierung und betriebliche Bildung. Verflechtung sozio-technischer Prozesse als Referenz für erwachsenenpädagogisches Handeln. In: Magazin erwachsenenbildung.at. Das Fachmedium für Forschung, Praxis und Diskurs, Ausgabe 44-45. Online: https://erwachsenenbildung.at/magazin/ausgabe-44-45. Schlagworte: betriebliche Bildung, Arbeitsorganisation, Lernen im Arbeitsprozess, lernfeindliche Bedingungen, sozio-technische Verflechtung, Führungskräfteschulungen, Holzwirtschaft Kurzzusammenfassung
Die Nutzung digitaler Technologien steigert die Relevanz betrieblicher Bildung auch ohne dabei revolutionäre Auswirkungen zu postulieren. In ihren Funktionen als Arbeitsinstrumente, Lerninstrumente und Universalinstrumente erfordern und ermöglichen digitale Technologien betriebliche Bildungsarbeit. Wie sich diese Funktionen in Betrieben zeigen und welche Implikationen darin für betriebliche Bildung enthalten sind, ist Thema dieses Beitrags. Nach einem Problemaufriss folgt ein theoretischer Rahmen und dessen explorative Anwendung auf Daten aus holzverarbeitenden Betrieben. Ziel ist es, Anknüpfungspunkte für Wissenschaft und Praxis sichtbar zu machen. Die Ergebnisse legen der Erwachsenenbildung nahe, betriebliches Bildungspersonal dabei zu unterstützen, sich eine pädagogisch reflektierte Handlungsfähigkeit anzueignen. Für die Wissenschaft gilt es, den differenzierten Blick auf die Verflechtung technischer und sozialer Prozesse zu schärfen. Digitalisierung und betriebliche Bildung
Verflechtung sozio-technischer Prozesse als Referenz für erwachsenenpädagogisches Handeln
Philipp Assinger und Philip Webersink Digitalisierung fordert Bildungsakteurinnen und -akteure heraus, insbesondere jene, die in oder für Betriebe tätig sind. Für sie wie auch für Führungskräfte gilt es, einen reflektierten Blick für betriebliche Einzelfälle zu haben, ohne auf die Zusammenhänge mit allgemeinen Entwicklungen zu vergessen, sowie sensibel für Potenziale und Widerstände von Beschäftigten zu sein. Die Erwachsenenbildung kann hier tätig werden, indem sie Schulungen für betriebliches Bildungspersonal und Führungskräfte anbietet, in denen die Verflechtungen sozio-technischer Prozesse im Hinblick auf Bildungsfragen thematisiert werden. Gehypte Bilder und der
sozialwissenschaftliche Forschungsstand
Bilder eines „Neuen Zeitalters“ oder einer „Vierten Industriellen Revolution“ prägen seit knapp zehn Jahren die Diskurse zum Einsatz digitaler Technologien in Betrieben (vgl. Haberfellner/Sturm 2016, S. 57ff.; siehe auch Verein Industrie 4.0 Österreich 2018). Hinter diesen Bildern steht die Vision, dass die Vernetzung digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien mit mechanischen Anlagen eine Steigerung der industriellen Wertschöpfung herbeiführen könne. Assoziiert werden mit dieser Vernetzung die Schlagwörter „Cyber-Physical-Systems“, „Smart Factory“ oder „Industrie 4.0“ und damit gravierende Veränderungen der Arbeitsorganisation und folglich auch der betrieblichen Bildung. Ob mit dem Einsatz digitaler Technologien in Betrieben tatsächlich ein „Neues Zeitalter“ oder eine „Revolution“ einhergeht, wurde immer wieder kritisch diskutiert und empirisch relativiert (vgl. Pfeiffer 2016; Röben 2017; Matuschek/Kleemann/Haipeter 2018; Baethge-Kinsky 2020). Jörg Flecker, Annika Schönauer und Thomas Riesenecker-Caba (2016, S. 19) argumentieren, dass es sich in vielen Betrieben um eine „schrittweise Innovation“ handle, die an laufende Rationalisierungs- und Automatisierungsprozesse anknüpfe. Die Digitalisierung in der Vision einer „Industrie 4.0“ schreibe lediglich Restrukturierungsprozesse fort, während die damit verbundenen Problematiken wie Verdichtung und Entgrenzung von Arbeit bereits seit den 1990er-Jahren bekannt und vielfach beforscht seien, wie etwa Heiner Minssen (2017, S. 130f.) schreibt. Sieht man von gehypten Bildern ab, gibt es durchaus handfeste Indikatoren, die darauf hindeuten, dass mit der rezenten Digitalisierung eine bedeutungsvolle Form der technologischen Entwicklung in der industriellen Produktion vonstattengeht, deren Konsequenzen jedoch noch nicht abschätzbar sind. Grund für die eingeschränkte Abschätzbarkeit ist, dass wissenschaftliche Aussagen infolge der auch 2021 vielfach noch im Anfangsstadium befindlichen Verbreitung komplexer digitaler Systeme nur bedingt verallgemeinerbar sind. Kennzeichnend für den sozialwissenschaftlichen Forschungsstand ist aus unserer Sicht daher immer noch die bereits 2019 vorgebrachte Einschätzung von Stefan Kirchner und Wenzel Matiaske (2019, S. 125), wonach „wichtige empirische und theoretische Bausteine [fehlen], um ein halbwegs vollständiges Bild zusammenzusetzen, welches die aktuellen Zustände und Dynamiken der Arbeitswelt im Prozess der Digitalisierung auch nur grob abbilden könnte.“ Lernen in lernfeindlichen Umgebungen
Die Berufsbildungswissenschafter Christian Harteis, Michael Goller und Christoph Fischer orteten 2019 in einem beachtenswerten Beitrag eine „neue Qualität der Digitalisierung im Sinne von Industrie 4.0“ (Harteis/Goller/Fischer 2019, S. 240). Diese neue Qualität sei dadurch gekennzeichnet, dass Maschinen selbst zu Ausführenden werden könnten und Menschen nicht mehr notwendigerweise als AnwenderInnen der Maschinen Autorität über deren Einsatz ausüben würden. Dass sich Arbeitsaufgaben verändern, ist damit genauso impliziert, wie die Forderung nach Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von Beschäftigten, die notwendig werden, um in Zeiten volatiler Auftragslagen die effiziente Ressourcennutzung zu sichern. Für die berufliche Aus- und Weiterbildung bedeute dies laut Harteis, Goller und Fischer, dass sie lediglich die Entwicklung grundlegender Handlungs- und Beschäftigungsfähigkeit ermöglichen können, denn „eine erfolgreiche Bewältigung der Digitalisierung ist im Wesentlichen über informelle Lernprozesse am Arbeitsplatz zu leisten“ (ebd., S. 247). Inwiefern die von Harteis, Goller und Fischer skizzierte „neue Qualität der Digitalisierung“ tatsächlich in der Breite industrieller Betriebe beobachtbar ist, kann an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. Jedenfalls stimmen wir mit der Position hinsichtlich der Bedeutung informeller Lernprozesse am Arbeitsplatz überein, die u.a. auch von Peter Dehnbostel (2019a) vertreten wird. Mit der Verbreitung digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien und der damit einhergehenden Restrukturierung von Arbeit muss eine Neubewertung im Verhältnis von Arbeit und Lernen vorgenommen werden. Bildungsbedarfe zu antizipieren und in Bildungsangebote zu transferieren, wird durch die Prozesshaftigkeit digitalen Arbeitens schwieriger. Daraus resultiert die Aufwertung des Lernens im Prozess der Arbeit gegenüber seminaristischen oder kursförmigen Bildungsangeboten. Aber Lernen am Arbeitsplatz ist nicht selbstverständlich. Die Verdichtung von Arbeitsanforderungen bei höheren Effizienzerwartungen (vgl. Pabst 2016, S. 11), wie beispielsweise in einer digital überwachten Just-in-time-Produktion, lässt wenig Zeit zum Lernen. Dennoch können, wie Dehnbostel schon 2018 argumentierte, neue Arbeitsorganisationsformen erweiterte Handlungsspielräume schaffen, in denen Beschäftigte Erfahrungen machen, die sich positiv auf ihre Kompetenzentwicklung auswirken können (siehe auch Assinger/Ponsold/Webersink 2020). Daniela Ahrens und Michael Gessler bringen eine andere Perspektive ein, der Beachtung geschenkt werden sollte, nämlich, dass sich vor dem eben beschriebenen Hintergrund primär die Frage stellt, „wie Lernprozesse in eher lernfeindlichen Arbeitsumgebungen ermöglicht werden können“ (Ahrens/Gessler 2018, S. 168). Dazu möchten wir auch auf den Vorschlag von Uwe Elsholz und Julia Gillen (2012) zu einem arbeitsorientierten Blick auf betriebliche Weiterbildung verweisen. Forschung, aber wie?
Als Bildungswissenschafter interessiert uns, wie Zusammenhänge von Digitalisierung und betrieblicher Bildung analysiert werden können, sodass Anknüpfungspunkte für Wissenschaft und Praxis sichtbar werden. Wiederum bei Ahrens und Gessler (2018, S. 165) ist der Vorschlag zu finden, Verflechtungen technischer und sozialer Prozesse zu beachten. Dadurch ließe sich beforschen, welchen Einfluss Digitalisierung auf bestehende Handlungs-. Interaktions- und Kommunikationsmuster hat, und welche Anforderungen sich aus den veränderten Mustern ableiten lassen. Wir nehmen diesen Vorschlag zum Anlass, um mit dem vorliegenden Beitrag den Versuch zu starten, Eckpunkte einer wissenschaftlichen Betrachtung auszustecken, die es im Sinne der Verflechtung sozio-technischer Prozesse...