Haes / Mühlhahn | Hongkong: Umkämpfte Metropole | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Haes / Mühlhahn Hongkong: Umkämpfte Metropole

Von 1841 bis heute

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-451-82722-8
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Von einem unbekannten Fischerdorf an der Peripherie Chinas wurde Hongkong während 156 Jahren britischer Herrschaft zu einer der spektakulärsten und kosmopolitischsten Städte der Welt. Hongkongs Entwicklung – von der Besetzung durch die Briten über die Rückgabe an China im Jahr 1997 bis zum Kampf um Selbstbehauptung in der Gegenwart – ist die faszinierende Geschichte einer Stadt zwischen den großen Mächten in Ost und West. Die seit Sommer 2019 immer wieder aufflackernden Proteste und schweren Ausschreitungen sind ohne Bezug auf die komplexe Geschichte Hongkongs nicht zu verstehen. Das Buch analysiert vor dem historischen Hintergrund den gegenwärtigen tiefgreifenden Wandel der Beziehungen zwischen China, Hongkong und der Welt.
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Einführung
Dem traditionell wichtigsten Produkt der Region, dem Räucherholz, verdankt Hongkong seinen Namen, der übersetzt „duftender Hafen“ (Hoenggong auf Kantonesisch bzw. Xianggang auf Hochchinesisch) bedeutet. Unter den Briten war die Stadt aber als „Perle des Orients“ bekannt. Beide Bezeichnungen drücken die Faszination für eine Stadt aus, die auf einer tropischen Insel in einer beeindruckenden geografischen Umgebung entstand. Heute wird die immer noch im Zentrum dicht bewaldete und bergige Insel umsäumt von einem Kranz riesiger Wolkenkratzer und greller Neonlichter. Die vielfältige, kosmopolitische, mobile und kreative Bevölkerung bereichert mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Vergangenheiten vom chinesischen Festland oder aus anderen Teilen Asiens das urbane Leben. Aber Hongkong ist auch eine Stadt unter Druck. Proteste, Straßenkämpfe und hartes Durchgreifen haben die Stimmung geprägt. Die chinesische Zentralregierung behandelt Hongkong seit den politischen Konflikten in den letzten drei Jahren wie einen unliebsamen Verwandten: ein Problem, das hoffentlich ohne weitere Eskalation gelöst werden kann. Und Hongkong kommt mit dem Rollenwechsel vom reichen, gönnerhaften Onkel zum ungezogenen Neffen nicht gut zurecht. Hinzu kommt: Die Geschäftswelt bewegt sich seit Jahrzehnten kaum. Dominiert von Immobilienmagnaten, den sogenannten Tycoons, hat sie in den letzten 30 Jahren keine innovativen Unternehmen mehr hervorgebracht. Das ist auch ein Erbe der britischen Kolonialherrschaft, in der die Bürokratie die Wirtschaftseliten kontrollierte, indem sie Land – die knappste Ressource der Stadt – den Gefügigen zuteilte. So hängt trotz der hektischen Betriebsamkeit des Alltags ein stagnierender und deprimierender Geist über der Metropole. Hongkong ist eine Welt für sich, deren Gegenwart und Zukunft heute mehr denn je Gegenstand von kontroversen Diskussionen, kühnen Spekulationen und weltweiter Aufmerksamkeit sind. Für viele Beobachter zeichnet sich hier ein großer Kampf zwischen der autoritären Supermacht China und dem freiheitsliebenden Westen ab. Auf dem Spiel steht, so wird gesagt, die Zukunft der Demokratie.[1] Aber um die Zukunft zu denken, ist es zunächst notwendig, die Vergangenheit zu verstehen. Hongkong wurde von der Geschichte eine Bürde auferlegt, die in keinem Verhältnis zur Größe und bescheidenen Herkunft der Stadt steht. Ereignisse und Zustände in der Vergangenheit haben das Leben in Hongkong bis heute geprägt und beeinflusst. Genauso wie die heutige Stadt ihrer Geschichte vor 1997 – dem Jahr der Rückgabe an China – nicht entkommen kann, wird sie in der Zukunft nicht in der Lage sein, sich von den Erfahrungen und Enttäuschungen der Gegenwart zu lösen. Die Geschichte hat Hongkong zu einem Ort der Gegensätze und Widersprüche gemacht. 1967 beschrieb der Journalist und Autor Richard Hughes Hongkong treffend als eine „Unwahrscheinlichkeit, fast eine Unmöglichkeit, […] ein Paradox“.[2] Gegründet wurde Hongkong im Jahre 1841 als kleine britische Kolonie gegen den Willen des chinesischen Kaiserreichs, das aufgrund einer Kriegsniederlage der Abtretung zustimmen musste. Die Kolonie wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts sukzessive erweitert. 1898 zwang Großbritannien im dritten und letzten Vertrag China, die New Territories für 99 Jahre an Großbritannien zu verpachten. Aus dem Auslaufen der Pacht 1997 ergab sich schließlich die Rückgabe Hongkongs 1997 an das chinesische Festland. Hongkongs Rolle war und ist unvermindert einzigartig. Vier Aspekte charakterisieren seinen heutigen Platz in der Weltgeschichte. Erstens: Hongkong als Ort zwischen den großen Mächten. Im Laufe der Geschichte haben nicht nur Großbritannien und China, sondern auch Japan und die USA Hongkong für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert. Dabei ging es ihnen um die Entfaltung militärischer Macht, politischen Einfluss oder ökonomische Interessen. Das Wohlergehen der lokalen Bevölkerung war für die Mächte meistens sekundär. Aber Hongkong zeigt, dass sich Peripherien auch unter diesen Bedingungen dynamisch und kreativ entwickeln und ihre Existenz behaupten können. Die Stadt hat langjährige Erfahrung im Kampf um Selbstbehauptung gegenüber Fremdbestimmung. Verschiedene Hongkonger Gruppen entwickelten unter diesen Umständen innovative Strategien für Überleben und Wohlstand. Dazu gehört nicht zuletzt in den letzten Jahren zivilgesellschaftliches und politisches Engagement. Zweitens: Hongkong im Banne Chinas. In den letzten 180 Jahren spürte der kleine, aber bedeutsame Stadtstaat immer wieder die Auswirkungen der wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen auf dem chinesischen Festland, selbst zur Zeit des Kalten Krieges, als Hongkong unter britischer Herrschaft war und ein „Bambusvorhang“ die Stadt umgab. Dabei spielte Hongkong nicht nur die Rolle des Gegenpols oder Widersachers, sondern auch des Partners und Unterstützers für das Festland. Die Stadt war darüber hinaus gefangen im freien Spiel von globalen Veränderungen und chinesischen Entwicklungen und fand sich dabei oft zwischen den Stühlen. Seitdem China die Souveränität über Hongkong wieder zurückerhalten hat, stehen die sozialen und politischen Systeme des Territoriums in vielerlei Hinsicht in scharfem Kontrast zu denen des chinesischen Festlands. Daher kämpfen Teile der städtischen Zivilgesellschaft heute verbissen um die Beibehaltung und Erneuerung ihrer widerspenstigen und widersprüchlichen Rolle, mit ungewissem Ausgang. Der Druck des Festlands geht in Richtung fester Integration und Beendigung des Sonderstatus, aber es sind gerade das Andersartige und die Widersetzlichkeit, die es Hongkong erlaubt haben, eine wichtige, bereichernde Rolle in der modernen chinesischen und globalen Geschichte zu spielen. Drittens: Hongkong als Brennglas für den Kampf der Systeme. Im grellen Scheinwerferlicht der Stadt kollidierten die Systeme von Kolonialismus, Sozialismus chinesischer Prägung und Demokratie. Das Ringen um Demokratie hat in dem Stadtstaat eine weit in die britische Zeit zurückreichende Geschichte. Als Kolonialmacht verwehrte Großbritannien der Hongkonger Bevölkerung demokratische Mitsprache. Zum Zeitpunkt der Rückgabe an das Festland gab es keine funktionierenden und widerstandsfähigen demokratischen Strukturen und Prozesse. Umgekehrt aber haben sich auch viele Hongkonger zu lange zu selten für Politik interessiert. Hongkong boomte als Ort des Kapitalismus in seiner extremsten Form. Mit dem Konzept „Ein Land, zwei Systeme“ war die Demokratiefrage plötzlich allgegenwärtig. Anders als in funktionierenden Demokratien finden zwischen den verschiedenen Interessengruppen Hongkongs keine oder kaum Aushandlungsprozesse statt, weil das politische System ihnen weder den Zugang noch die Plattform dafür bietet. Politik wird daher eher auf der Straße gemacht als im Parlament oder in den Gremien. Alle heute vorhandenen demokratischen Elemente kommen aus der Mitte der Hongkonger Zivilgesellschaft, die darum mit großem Einsatz und großer Leidenschaft gekämpft hat. Dieses zarte Pflänzchen der demokratischen Selbstverwaltung ist heute zweifelsohne bedroht vom eisernen Griff des Festlands. Junge Hongkonger bezeichneten ihren Kampf um Selbstbestimmung und Autonomie im Jahr 2019 treffenderweise als „Freiheit für Hongkong: Revolution unserer Zeit“. Diese Revolution aber ist in Gefahr, weil sich zu wenige im Westen oder in China für Hongkongs Interessen und Belange einsetzen. Viertens: Die Schattenseiten des Kapitalismus. Die Hongkonger Bevölkerung als bunter Flickenteppich aus Einwanderern aus China, Europa und Asien war sich selten einig, in welche Richtung es gehen sollte. Die Stadt bewegte sich schon immer im Spannungsfeld zwischen Profit und Werten. Die reichen Unternehmer waren bereit, alles zu tun, um ihre guten und äußerst lukrativen Beziehungen mit China zu erhalten, unabhängig davon, wer dort mit welchen Methoden regierte. Die arme Bevölkerung schuftete in Fabriken, am Hafen und in den Lagerhallen und lebte unter erbärmlichen Bedingungen. Ungleichheit und Ausbeutung waren und sind an der Tagesordnung. Selbst die demokratische Opposition ist tief zerstritten. Heute ist Hongkong keine Kolonie mehr, und vieles hat sich verändert in der Stadt, in der Region und in der Welt. Die Stadt ist weiterhin und unvermindert ein Ort der Gegensätze, an dem sich die Herausforderungen und Kämpfe der Moderne widerspiegeln. Jenseits des Konflikts der politischen Systeme führte die grenzüberschreitende und umfassende Mobilität von Menschen, Ideen, Kapital und Waren zur Erosion der alten Frontstellungen und zur Zersplitterung und Auflösung der großen politischen Leitideen. Die Geschichte ist komplizierter, als die vereinfachte Vorstellung eines Kampfs zwischen Gut und Böse, zwischen Demokratie und Autokratie suggeriert. Zunehmend wurden einige wenige kohärente politische Weltanschauungen von den vielen Ansprüchen und Ideen ganz unterschiedlicher Gruppen – ethnische, religiöse, weltanschauliche Untergruppen etc. – in Bezug auf Gesellschaft und politische Führung abgelöst. All das hat eine kulturelle Matrix hervorgebracht, die der Soziologe Andreas Reckwitz als Suche nach Singularitäten bezeichnet: Selbstentwürfe, die individuelle oder partikulare Gruppenidentitäten samt ihrer Vergangenheitsbezüge und Zukunftserwartungen konstruieren, die sich nicht mehr einfach in einem großen Deutungsrahmen einfangen lassen.[3] Diese Prozesse finden überall auf der Welt statt. Sie lassen sich auch in Hongkong beobachten. Die Stadt ist gleichsam ein Reagenzglas, weil...


Julia Haes, Dr., geb. 1975, ist Vorstand eines deutschen Familienunternehmens und bietet mit ihrer Firma Finiens GmbH China-Beratung und China-Training an. Ihr besonderes Interesse gilt der chinesischen Wirtschaft und chinesischen Familienunternehmen. Sie hat an der Universität St. Gallen im Fach Wirtschaftswissenschaften promoviert.
Klaus Mühlhahn, geb. 1963, ist Professor für Sinologie und Präsident der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. Zuvor war er Vizepräsident der Freien Universität Berlin. 2009 erhielt er für sein Buch "Criminal Justice in China: A History" den renommierten John-King-Fairbank-Price der American Historical Association. Es ist Autor zahlreicher Publikationen zu China. Zuletzt erschien beim C.H. Beck Verlag seine umfassende "Geschichte des modernen China – von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart".


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