Hannover | Die Republik vor Gericht 1954-1995 | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 1138 Seiten

Hannover Die Republik vor Gericht 1954-1995

Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts

E-Book, Deutsch, 1138 Seiten

ISBN: 978-3-8412-1532-1
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die andere Geschichte der Bundesrepublik.
Die Liste von Heinrich Hannovers Mandanten spiegelt ein Stück bundesdeutscher Geschichte wider. Der Thälmann-Mordprozess, das Wiederaufnahmeverfahren für Carl von Ossietzky haben im ganzen Land Aufsehen erregt. Die Verfahren gegen Günter Wallraff, Ulrike Meinhof, Peter-Paul Zahl, Karl Heinz Roth, Astrid Proll, Daniel Cohn-Bendit oder der Prozess gegen Hans Modrow stehen symbolhaft für den Zustand unserer Bundesrepublik. An deren Rändern wurde zudem eine Fülle jener Namenloser zu Kriminellen erklärt, die in traditionellen Demokratien das Salz der Gesellschaft bilden: Kommunisten, Anarchisten, Kriegs- und Atomwaffengegner, radikale Kritiker und Unruhestifter. Heinrich Hannover war ihr Anwalt.
»Ich kenne kein Buch, das so präzise und eindrucksvoll den Teil der bundesrepublikanischen Geschichte festhält, den zu verschweigen und zu verdrängen sich Politiker, Journalisten und Historiker größte Mühe geben.« Karl Unger.
»Ein sehr wichtiges und spannendes Buch.« Die Zeit.
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2. Die erste Pflichtverteidigung (1954)
Man kann es angesichts meiner damaligen politischen Einstellung als Ironie des Schicksals oder als Zumutung bezeichnen, daß die Bremer Justiz mir als eine meiner ersten anwaltlichen Aufgaben die Verteidigung eines Kommunisten zudachte. Es war üblich, Berufsanfängern durch Pflichtverteidigerbestellungen über die Schwierigkeiten des Anfangs hinwegzuhelfen. Und so wurde ich, wenige Wochen nach meiner am 8. Oktober 1954 erfolgten Anwaltszulassung zum Pflichtverteidiger eines Kommunisten, dem vorgeworfen wurde, zusammen mit anderen des Landfriedensbruchs, des Aufruhrs, des Auflaufs, des Widerstands gegen die Staatsgewalt und der versuchten Gefangenenbefreiung schuldig geworden zu sein. Eine Verteidigeraufgabe, die bestimmend für mein ganzes weiteres Berufsleben werden sollte. Der Angeklagte hatte im November 1953 an einer Demonstration teilgenommen, bei der etwa sechzig Arbeitslose vom Arbeitsamt über den Wall zur Ruine des im Kriege beschädigten Theaters gezogen waren, um einer Forderung Nachdruck zu verleihen, ihnen zu Weihnachten eine Beihilfe (Kohlen- und Kartoffelgeld) zu gewähren. Die Polizei hatte bei der Anmeldung der Versammlung die Auflage gemacht, daß die Demonstration an der Theaterruine enden müsse, damit die am selben Tage im Rathaus stattfindende Sitzung der Bremer Bürgerschaft nicht gestört werde. Den Demonstranten wurde lediglich gestattet, eine dreiköpfige Delegation zum Rathaus zu entsenden, um ihre Forderungen zu vertreten. Die Versammlung löste sich denn auch, wie von der Polizei gewünscht, am vorgeschriebenen Ort auf, nachdem eine Delegation gewählt und zum Rathaus geschickt worden war. Die Demonstrationsteilnehmer entfernten sich in kleineren und größeren Gruppen nach verschiedenen Richtungen. Der größte Teil bewegte sich jedoch durch die Bischofsnadel in Richtung Innenstadt. Bis dahin war alles friedlich verlaufen. Aber nun geschah folgendes: Der Einsatzleiter der Polizei befürchtete, daß die Arbeitslosen nun doch zum Rathaus gehen würden, und ließ die Bischofsnadel, eine schmale Verbindungsstraße zum Domshof und zum Stadtzentrum, absperren. Vor der aus elf Beamten bestehenden Sperrkette stauten sich nunmehr die Menschen, die ins Stadtzentrum wollten, darunter auch Passanten, die an dem Umzug nicht beteiligt gewesen waren und deren Zahl an diesem Tag besonders groß war, weil auf dem Domshof Wochenmarkt stattfand. Es kam zu Unmutsäußerungen aus der Menge, die binnen kurzem auf achtzig bis hundert Personen angeschwollen war. Die später als Zeugen vernommenen Polizisten wollten auch Rufe wie »Wir werden den Abgeordneten die Maske vom Gesicht reißen! Auf zum Rathaus! Zeigt denen, was eine Harke ist!« gehört haben. Jedenfalls kam es dann zum Einsatz des Gummiknüppels und zur Festnahme eines Demonstrationsteilnehmers namens Becker, der, nach Aussagen der Polizeibeamten, gerufen haben soll, man solle sich nicht um die »paar Polizisten« kümmern, sondern mit Gewalt zum Rathaus vordringen. Der von mir zu verteidigende Angeklagte Rühmann1 soll nunmehr zusammen mit einem anderen Demonstrationsteilnehmer versucht haben, diese Festnahme zu verhindern, indem er einen der Beamten von hinten zurückgerissen habe. Über die weitere Behandlung meines Mandanten hieß es später im Urteil des Landgerichts, vor dem die Sache angeklagt wurde: Nunmehr kam der Polizeimeister S. seinen beiden Beamten zu Hilfe, so daß Becker, der selbst keine Gegenwehr leistete, nicht befreit wurde. Rühmann und D. wurden gleichfalls festgenommen. Rühmann erlitt bei dem Handgemenge eine Verwundung über dem Auge. Ich hatte Zeugen dafür benannt, daß Rühmann sich nicht an einem der Beamten vergriffen hatte, daß er vielmehr zweimal grundlos von dem Polizeimeister S. geschlagen worden war. Das erste Mal, als er sich niedergebückt hatte, um heruntergefallene Transparente aufzuheben, das zweite Mal, nachdem er infolge des ersten Schlages zu Boden gefallen war. Dieser zweite Schlag hatte meinen Mandanten am Auge getroffen und dazu geführt, daß die Sehkraft des Auges nahezu erloschen war. Dafür, daß ich diese Zeugen in naivem Vertrauen auf ein Wahrheitsermittlungsinteresse der Staatsanwaltschaft und des Gerichts schon vor der Hauptverhandlung benannt hatte, hätten mich reaktionäre Justizreformer gewiß gelobt. Denn eines ihrer stereotyp wiederkehrenden Argumente, mit denen sie eine unwissende Öffentlichkeit traktieren, geht bekanntlich dahin, Rechtsanwälte würden die Hauptverhandlung durch Anträge in die Länge ziehen und dadurch eine schnelle Abwicklung der Prozesse verhindern. Aber zwischen dem, was ich auf der Universität über Wahrheitsfindung und faires Verfahren gelernt hatte, und dem, was ich in der Praxis kennenlernte, klaffte eine Lücke, die ich erst nach und nach mit desillusionierenden Erkenntnissen ausfüllte. Denn was passierte mit den von mir benannten Zeugen? Sie wurden von der Staatsanwaltschaft ebenfalls angeklagt, weil ja auch sie an der »öffentlichen Zusammenrottung« teilgenommen haben mußten, die nach der damaligen Gesetzesfassung zum Straftatbestand des Aufruhrs und des Landfriedensbruchs gehörte. Und damit waren sie als Zeugen ausgeschaltet und nach gängigem Juristenverständnis unglaubwürdig. Kam hinzu, daß sie, ebenso wie Rühmann, Kommunisten waren, was schon allein genügt hätte, Richtern und Schöffen die bekannte Brille zu verpassen, die zu einseitiger Rechtsblindheit führt. Daß politische Vorurteile meine Verteidigeraufgabe ungeheuer erschwerten, begriff ich schon bei dieser ersten Kommunistenverteidigung. Hatte ich sie doch bisher selbst geteilt und wußte daher nur zu gut, wie es in den Köpfen der Richter und Schöffen aussah. In meinen Notizen für das Plädoyer, die ich in der seit über vierzig Jahren auf dem Boden aufbewahrten Akte Rühmann fand, lese ich mit gewisser Rührung, welche naiven Appelle ich damals an das Gericht richten wollte oder gerichtet habe: KPD-Mitgliedschaft nicht strafbar. Anklageschrift stellt kommunistische Natur des Erwerbslosenausschusses in den Vordergrund. Stimmungsmache gegen die Angeklagten. Gericht möge sich davon freihalten. Nur Gesetzesverstöße abzuurteilen, nicht KPD-Eigenschaft. Als Pflichtverteidiger keine Rechtfertigung der kommunistischen Ideale der Angeklagten zu geben, sondern nur mitzuhelfen, das Recht zu finden. Daß Anlaß bestand, politische Vorurteile zu Lasten der Angeklagten zu befürchten, hatte die Formulierung der Anklageschrift hinreichend deutlich gemacht. Bevor diese zur Darstellung des eigentlichen Sachverhalts kam, verbreitete sich der Verfasser lang und breit über den politischen Charakter der Demonstration. Da war zu lesen – wohlgemerkt: zu einer Zeit, als die KPD noch eine legale Partei war und auch kommunistische Abgeordnete die Interessen ihrer Wähler in der Bremer Bürgerschaft vertraten! –, daß die Arbeitslosendemonstration vom 25. November 1953 ein Protestmarsch des »sog. Arbeitslosenausschusses, einer kommunistischen Tarnorganisation«, gewesen sei. Nach dem durch die Währungsreform bedingten Anwachsen der Arbeitslosigkeit im Jahre 1948 hätten sich in verschiedenen Teilen der Bundesrepublik örtliche Erwerbslosenausschüsse gebildet, die zunächst bestrebt gewesen seien, auf politisch neutraler Basis die wirtschaftlichen Verhältnisse der Arbeitslosen zu bessern, deren Arbeitseinsatz zu ermöglichen und bei den örtlichen Kommunalverwaltungen Erleichterungen und Unterstützungen für die Erwerbslosen und ihre Familien zu erwirken. Sodann heißt es in der Anklageschrift: Über ihren örtlichen Bereich hinaus haben diese Vereinigungen jedoch erst im Frühjahr 1951 Bedeutung gewonnen, nachdem sich in der KPD die Ansicht durchgesetzt hatte, daß bei den zumeist in dürftigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden Arbeitslosen ein für ihre umstürzlerische Tätigkeit günstiger Nährboden gegeben sei. Sie setzte daher alle möglichen Mittel ein, diese Erwerbslosenausschüsse durch finanzielle Unterstützung und durch die Gestellung von Agitatoren und Funktionären für ihre politischen Zwecke zu gewinnen, und erreichte es auch nach kurzer Zeit, die maßgebenden Funktionen in den Ausschüssen an sich zu reißen. Ich will mich jetzt nicht mit einer Analyse dieser an antikommunistische Einstellungen appellierenden Tiraden aufhalten, die nicht einmal den Schein der Objektivität und der politischen Neutralität wahrten und mit den eigentlichen Tatvorwürfen überhaupt nichts zu tun hatten. Sie zielten so offensichtlich darauf ab, das Gericht gegen die Angeklagten einzunehmen und ihnen von vornherein die Glaubwürdigkeit zu versagen, daß diese Strategie der Staatsanwaltschaft auch einem Anfänger auf der Verteidigerbank nicht verborgen bleiben konnte. Nur noch ein weiterer Satz aus diesem Anklagepamphlet: Auch in Bremen dient der sog. Arbeitslosenausschuß der kommunistischen Wühlarbeit. Im Unterschied zur Anklageschrift liest sich das Urteil des Landgerichts vom 27. Dezember 1954 so, als hätten politische Überzeugungen der drei Berufsrichter und der beiden Schöffen bei der Wahrheitsfindung keine Rolle gespielt. Weder ist die Parteimitgliedschaft der Angeklagten erwähnt, noch ist von dem Arbeitslosenausschuß und seinem angeblich der kommunistischen Wühlarbeit dienenden Zweck die Rede. Zuviel politische Enthaltsamkeit, um glauben zu können, daß die wirklichen Gründe des Urteils mitgeteilt worden sind. Denn in der Sache war die Verteidigung chancenlos. Ein Antrag, die Verhandlung...


Hannover, Heinrich

Heinrich Hannover wurde 1925 in Anklam (Mecklenburg-Vorpommern) geboren. Zwischen 1943-45 war er Soldat der Wehrmacht, kehrte aus dem Krieg jedoch als überzeugter Pazifist zurück. Die ursprünglich angestrebte Laufbahn als Förster konnte Hannover nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr realisieren und studierte stattdessen ab 1946 Jura in Göttingen. 1954 wurde er als Rechtsanwalt in Bremen zugelassen und arbeitete fortan wiederholt als Strafverteidiger in politischen Prozessen. Für seine Tätigkeit wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem 1973 mit dem Fritz-Bauer-Preis und 2012 mit dem Max-Friedlaender-Preis. Heinrich Hannover machte sich auch als Autor zahlreicher Kinderbücher einen Namen. Er starb 2023 in Worpswede.

Im Aufbau Verlag ist sein Buch "Die Republik vor Gericht 1954-1995. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts" lieferbar.

Mehr zum Autor unter www.heinrich-hannover.de.


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