Hegemann / Pollesch | Identität und Selbst-Zerstörung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 248 Seiten

Hegemann / Pollesch Identität und Selbst-Zerstörung

Grundlagen einer historischen Kritik moderner Lebensbedingungen bei Fichte und Marx (1978) plus Das Drama der Subjektkonstitution (2012)

E-Book, Deutsch, 248 Seiten

ISBN: 978-3-89581-467-9
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



"Das Theater ist nicht tot, es stinkt nur ein bisschen." Carl Hegemann

Unter dem Titel Identität und Selbst-Zerstörung beschäftigt sich Carl Hegemann mit dem krisenhaften modernen Subjekt in seiner Beziehung zur Gesellschaft und der Rolle des Theaters in diesem Kontext. Auf der Grundlage dieses philosophischen Textes von 1978, entwickelte er seine Arbeitsweise als Dramaturg an der Volksbuhne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin und beeinflusste so in Zusammenarbeit mit Frank Castorf, Christoph Schlingensief und René Pollesch maßgeblich die deutsche Theaterlandschaft der letzten Jahrzehnte.

Die Neuausgabe ist ergänzt um ein Vorwort von Christoph Menke, einen Text von René Pollesch (2017) und den Text "Das Drama der Subjektkonstitution" (2012) von Carl Hegemann.
Hegemann / Pollesch Identität und Selbst-Zerstörung jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Vorwort
Christoph Menke »DAS THEATER IST GENAUSO RANDSTÄNDIG WIE DIE PHILOSOPHIE« Carl Hegemanns Begründung einer transzendentalen Dramatik Vor nahezu vierzig Jahren hat die Dissertation von Carl Hegemann bereits eine Idee entwickelt, die heute in vielen theoretischen Diskussionen wichtig geworden ist. Diese Idee besagt, dass die Kritik der Gesellschaft und die Konstitution des Subjekts zusammengedacht werden müssen: Wenn man begreifen will, worin die gegenwärtige Gesellschaft falsch ist, muss man die Grundbedingungen und -strukturen gelingender Subjektivierung verstehen. Und das kann man nicht in Form einer Ethik, einer Theorie des Guten tun. Sondern nur indem man versteht – so Hegemanns provokante Grundthese, mit der er vor vierzig Jahren noch ziemlich alleine dastand –, wie es überhaupt Subjektivität geben kann. Man muss also eine »transzendentale« Analyse der Konstitution des Subjekts ausarbeiten. Man muss Marx und Fichte zusammen lesen – aber nicht wie zwei Teile, die einander (äußerlich) ergänzen, sondern als zwei Weisen des Denkens, die innerlich verbunden sind, weil jede die andere braucht. Das ist der eine Grund, aus dem die unveränderte Wiederveröffentlichung dieser längst vergriffenen Frankfurter Dissertation an der Zeit ist. Der andere Grund ist, dass die Verbindung von Gesellschafstheorie und Subjektphilosophie, die Hegemanns Dissertation entwirft, zugleich ein Drittes hervorbringt, das hier keinmal ausdrücklich genannt wird, aber an jeder Stelle, und nicht nur zwischen den Zeilen, lesbar ist: die Theorie und Praxis eines Theaters der Paradoxien, die Carl Hegemann in seiner Arbeit als Dramaturg anschließend entwickelt hat.1 Man muss nur die Motti lesen, unter die Hegemann die Kapitel seiner Dissertation gestellt hat, und man ist in der Volksbühne der neunziger und nuller Jahre, in deren Leporellos viele von ihnen einen Wiederauftritt hatten. Dabei zitieren Hegemanns Volksbühnen-Leporellos aber nicht seine Dissertation; vielmehr scheint dem heutigen Leser Hegemanns Dissertation seine zum Teil viel später geschriebenen Texte und Programme zum Theater zu antizipieren, ja diese Texte und Programme allererst möglich gemacht zu haben. Die Motti seiner philosophischen Dissertation sind die Keime seiner Dramaturgie. Hegemanns Dramaturgie folgt aus der Theorie, die seine Dissertation entwickelt. Denn im Theater verwirklicht sich die Verbindung zwischen der Kritik der Gesellschaft und der Erfahrung der Subjektkonstitution. Oder Marx und Fichte, die die Dissertation zusammenbringt, werden in Schiller aufgehoben (gegen dessen schlechtes Image als Inbegriff von bürgerlicher Ästhetik und »Vermittlungsdenken« Hegemann immer wieder angeschrieben hat). An Schiller sieht man, wie die transzendentale Analyse der Subjektkonstitution die denkbar radikalste Gesellschaftskritik begründet. Ihr zentraler Satz lautet, dass die gegenwärtige Gesellschaft eine ohne Subjekte ist. Also nicht nur eine Gesellschaft ungleicher Verteilungen, miserabler Chancen, krisenhafter Ökonomien, repressiver Staatsapparate – das alles auch –, sondern viel grundlegender: die »Ruinierung der Konstitutionsbedingungen von Subjektivität« (S. 158). Denn die Gesellschaft zerreißt das Subjekt in die beiden Pole, die nur zusammen seine Form ausmachen: in Einheit oder Identität auf der einen Seite und in Offenheit und Rezeptivität nach außen auf der anderen Seite. In unseren Gesellschaften, so Hegemanns Diagnose, haben die Subjekte entweder eine personale Identität, die schlecht abstrakt bleibt, oder sie sind einer chaotischen Fülle von Reizen reflexhaft ausgeliefert. (Schiller nennt die ersten kultivierte »Barbaren« und die zweiten unzivilisierte »Wilde«.) Indem aber die Subjekte nur entweder das eine oder das andere sind, sind sie gar keine Subjekte mehr. Hegemann versteht den Begriff der Verdinglichung wörtlich: Gesellschaftliche Verdinglichung ist die Auflösung von Subjektivität (S. 154). Aber das kann man nur erkennen, wenn man weiß, was Subjektivität ist, wie also ihre Konstitution »gelingt«: Man braucht eine allgemeine Theorie des Subjekts. (Hegemann sagt: Man braucht Einsicht in die »transzendentalen Minimalbedingungen, die ich mit Hilfe der Fichteschen Bewusstseinstheorie entwickelt habe«; S. 144.) Schiller ist aber auch noch in einer zweiten Hinsicht das Modell dafür, wie man Marx und Fichte zusammendenken kann. Denn Schiller begründet aus der Verbindung von Gesellschaftskritik und Subjekttheorie, warum es Kunst geben muss und worum es in der Kunst gehen muss. Und das tut er am Paradigma des Theaters. Genau denselben Schritt macht Hegemann nach seiner Dissertation: den Schritt zur Dramaturgie. Das ist nicht der Schritt von der Theorie zur Praxis; es geht nicht um Anwendung oder, schlimmer noch, Illustration. Der Schritt zur Dramaturgie hat einen viel tieferen Grund: Er gründet in der Einsicht, dass es in der Konstitution des Subjekts und in der Dramaturgie des Theaters um dasselbe geht. Diese Einsicht, die seine eigene Arbeit leitet, hat Hegemann als eine Grundüberzeugung »der entwickelten klassischen deutschen Philosophie« verstanden, der seine Dissertation gewidmet war. Denn: »Hier ist etwas entstanden, das die Subjektkonstitution mit dem Drama und das Drama mit der Subjektkonstitution strukturell verbindet.«2 Diese Verbindung zwischen dem Drama und der Subjektkonstitution liegt nicht im Thematischen. Sie ist strukturell. Die These lautet: Die Konstitution des Subjekts hat die Struktur des Dramas, und das Drama hat die Struktur der Subjektkonstitution. Man versteht also den Schritt, der Hegemann von der Philosophie zur Dramaturgie geführt hat, gar nicht, wenn man die Philosophie als Grundlage und die Dramaturgie als deren Anwendung sieht.3 Der Gedanke, durch den Hegemann die Philosophie und das Theater miteinander verbindet, ist viel grundlegender und weitreichender. Es ist der Gedanke, dass die Subjektkonstitution in sich selbst dramatisch ist und dass deshalb das Theater – ob es das nun weiß oder nicht (und meistens weiß es das nicht) – nichts anderes als das Drama der Subjektkonstitution spielt. Aber worin besteht denn das Drama, das sich in der Selbstkonstitution abspielt? In seiner Dissertation beschreibt es Carl Hegemann mit Hilfe von Fichtes Wissenschaftslehre (S. 72–88). In ihr fragt Fichte danach, wie die Welt, in der wir leben, und das, was wir in ihr erkennend und handelnd tun, möglich ist: wie sich das Subjekt konstituiert, das handeln und erkennen kann. Handeln und erkennen zu können heißt, Selbstbewusstsein zu haben (oder selbstbewusst zu sein). Fichtes Frage ist also, wie sich Selbstbewusstsein oder »Identität« konstituiert. Um das zu begreifen, geht er davon aus, dass das »Ich« immer schon, also vorweg, von Anfang an tätig ist. Diese Tätigkeit ist »rein«: auf kein Objekt und keinen Zweck gerichtet, sondern sich unendlich fortsetzend. »Das Wesen des Ich besteht in seiner Tätigkeit« (Fichte).4 Aber so tätig zu sein, ist etwas ganz anderes als mit Selbstbewusstsein zu handeln und zu erkennen (also ein »Subjekt« im Bezug auf ein »Objekt« zu sein). Der primären, reinen oder absoluten Tätigkeit fehlt der Selbstbezug, der erst die Richtung auf einen Zweck (im Handeln) oder auf einen Gegenstand (im Erkennen) möglich macht; sie ist noch ohne Selbstbewusstsein, also unbewusst. Um ihrer selbst bewusst und damit zur Tätigkeit eines Subjekts zu werden, muss sich die Tätigkeit auf sich selbst zurück wenden. Gerade das aber, so der entscheidende Gedanke, der Carl Hegemann fasziniert, kann nur durch einen Anstoß von außen geschehen, den das Subjekt erleidet: Um also sich als aktives seiner selbst bewusst zu sein, muss das Subjekt passiv sein. Das ist die »für das Selbstbewusstsein konstitutive Paradoxie«: Der Anstoß von außen, der passiv erlitten wird, »ist konstitutive Bedingung für das auf sich reflektierende Bewusstsein, das sonst kein Ich wäre« (S. 83). Das Subjekt wird also durch sein Paradox konstituiert. Es ist der Effekt einer Vereinigung von Aktivität und Passivität, die zugleich wesentlich gegeneinander gerichtet sind. Das selbstbewusste Subjekt – und damit alles, was es tut: Erkennen und Handeln, also unsere gemeinsame, soziale Welt – ist nicht eine gesicherte, in sich ruhende Einheit; es ist nichts anderes als Vollzug eines Streits. Die »Identität« des Subjekts ist sein »Selbst-Widerspruch« (Hegemann). Dieser Streit, der das Subjekt ausmacht, ist unbeendbar und unauflösbar, weil seine beiden Seiten gegeneinander gerichtet sind. Denn wie Hegemann zeigt, ist beiden die Tendenz zur Verabsolutierung eingeschrieben; beide Seiten sind pathologisch. Die Passivität, die das Subjekt erleidet, ist zugleich von ihm »gesetzt« (S. 80 f.), es will also sein Erleiden. Das Subjekt will bestimmt werden – also kein Subjekt...


Carl Hegemann ist Autor und Dramaturg. Er studierte Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft in Frankfurt am Main und promovierte 1979 mit einer Arbeit über Identität und Selbst-Zerstörung. Er war u. a. Dramaturg an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (1992-1995, 1998-2006) und am Thalia Theater Hamburg (2011-2015), Chefdramaturg am Schauspielhaus Bochum und am Berliner Ensemble, sowie erneut an der Volksbühne seit 2015. Von 2006 bis 2015 unterrichtete er als Professor an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Hegemann arbeitete seit 1997 regelmäßig mit Christoph Schlingensief zusammen, u. a. bei dessen Aktion Chance 2000 und bei dessen Parsifal-Inszenierung bei den Bayreuther Festspielen. Er ist Herausgeber einer Reihe von Publikationen im Kontext der Arbeit an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, beispielsweise der Buchreihen Kapitalismus und Depression und Politik und Verbrechen. 2005 erschien sein Buch Plädoyer für die unglückliche Liebe – Texte über Paradoxien des Theaters.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.