Hegemann / Witt | Dramaturgie des Daseins | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 440 Seiten

Hegemann / Witt Dramaturgie des Daseins

Everyday live

E-Book, Deutsch, 440 Seiten

ISBN: 978-3-89581-573-7
Verlag: Alexander
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Das Buch versammelt Texte, die der Philosoph und Dramaturg Carl Hegemann in den letzten fünfzehn Jahren geschrieben hat.

Carl Hegemann über das Glück der Tragödie. Romantische, käufliche und revolutionäre Liebe. Fluchtbewegungen in Familie, Kunst und Staat. Allmacht, Nichtstun und ewige Ruhe. Leben im Selbstwiderspruch. Organisation und Desorganisation von Erfahrung. Adornos Geheimnis. Brechts Theaterrevolution. Schillers amoralische Anstalt. Fake-Strategien. Kunst in Gefahr. Das Männliche ist das Vergängliche. Das Elend der Unsterblichkeit. Der Übergriff als Kunst und Wirklichkeit u.v.a.m.

Mit Referenztexten von Frank Castorf, Diedrich Diederichsen, Boris Groys, Christoph Menke, René Pollesch, Christoph Schlingensief und 25 Bildern und Zeichnungen von Ida Müller und Vegard Vinge. Herausgegeben und mit einer Einleitung von Raban Witt.
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Lie to me, I promise I’ll believe
Kann man echte Liebe kaufen? Wahre Liebe ist jetzt käuflich! – Aber nur für kurze Zeit! (Werbetext für Romeo all’Arrabbiata und Julia Crema di Yogurt & italienische Kräuter, Brunch-Brotaufstrich 2007) Kann Liebe gleichzeitig echt und bezahlt sein? Diese Frage interessiert offenbar nicht nur Hersteller von Brotaufstrich oder deren Werbeagenturen, sie markiert auch zwei zentrale Problemkomplexe, mit denen René Pollesch sich in seinen Stücken herumschlägt. Der erste Komplex bezieht sich auf die Ökonomie, von der alles, was wir leben und erleben, letztlich abhängt. Alle unsere Bedürfnisse verweisen auf Geld, weil wir sie ohne Geld nicht befriedigen können. Wer zahlungsunfähig ist, dem sind die Schätze der Natur und der Reichtum der Gesellschaft verschlossen. Neben den Dingen, die wir zum Leben brauchen, gibt es ein abstraktes Ding, das als solches zu nichts zu gebrauchen ist, das aber für alle anderen Dinge tauschbar ist. Dieses Ding, eben das Geld, ist etwas, das in der Natur nicht vorkommt. Auf seine »Naturalform«, das Gold, ist es nicht angewiesen, es kann auch als Stück Papier oder als Zahl im Computer existieren. Diese abstrakte Ware, die selbst wertlos ist, die man aber anscheinend in jeden beliebigen Wert verwandeln kann, ist in unserer Gesellschaftsordnung das Objekt der Begierde schlechthin, etwas, auf das alle scharf sind, und etwas, das uns scharf macht. Selbst ernsthafte Künstler, von denen man annehmen könnte, sie seien nur ihren ästhetischen Obsessionen verpflichtet, neigen dazu, mit Frank Zappa zu sagen »We’re Only in It for the Money«, wenn sie mal ehrlich sein wollen. Wenn wir in erster Linie Geld anstreben, wenn es letztlich immer die Frage ist, ob sich das, was wir tun, als marktgängig und lukrativ erweist, wird es gleichgültig, was wir tun. Daraus resultiert Entfremdung und Verdinglichung, unser eigener Lebensprozess erscheint uns fremd, unsere Verhältnisse zu anderen Menschen erscheinen als Verhältnisse von Dingen. Der Schein, das »Als-ob« tritt an die Stelle wirklicher zwischenmenschlicher Vorgänge. Und damit sind wir, wie Pollesch gerne sagt, »getrennt von unserem Leben« oder, wie Marx gerne sagte, »atomisierte Individuen«. Die Wirtschaftsform, die diese Isolation und Gleichgültigkeit in wachsendem Maße erzeugt, ist gleichzeitig so produktiv wie keine andere in der Geschichte. Die beschriebenen unangenehmen Nebenfolgen kann sie nicht vermeiden, ohne sich selbst in Frage zu stellen. Deshalb sind Versuche, menschliche Beziehungsformen wie Liebe und Solidarität oder religiöse oder nationale Gefühle über den Marktmechanismus zu stellen, eine Bedrohung für das System. Diese Beziehungsformen müssen, um sie kompatibel zu machen mit dieser Wirtschaftsform, in Waren transformiert werden. Es gibt in Zeiten der Globalisierung nur wenig, das dieser Transformation Widerstand leistet, vielleicht die Selbstmordattentate, vielleicht der fundamentalistische Krieg gegen den Terror. Beide Phänomene speisen sich nicht aus ökonomischen, sondern eschatologischen Motiven. Die Absage an den Markt, sieht man an diesen Beispielen, kann heute vielleicht nur noch als Absage an das Leben gedacht werden. Wie verhält es sich aber mit der Vermarktung solcher Beziehungsformen wie Liebe und Solidarität? Liebe, so sagt man seit 2000 Jahren (seit Christi Liebestod am Kreuz), ist das Wichtigste im Leben. Nach Liebe gibt es eine unerschöpfliche Nachfrage. Sie ist ein knappes Gut. Denn, wie Adorno sagte, fühlen wir uns alle »ausnahmslos zu wenig geliebt«. Deshalb ist Liebe und nicht nur Sex das große Thema der Werbung. Aber es hat noch nie eine Geschäftsidee gegeben, die Liebe unmittelbar als Ware behandelt. Liebe lässt sich reell nicht unter die Warenstruktur subsumieren. Woran liegt das? Warum lässt sich Liebe nicht wie Sex oder Wellness verkaufen? Und warum ist auch Solidarität nicht käuflich zu erwerben? Natürlich kann ich mir einen Menschen engagieren und ihn als meinen Geliebten vorstellen, oder eine Gruppe, die sich solidarisch mir gegenüber verhält und dafür bezahlt wird, aber jedem ist klar, dass eine Solidarität, die endet, wenn die Zahlungen ausbleiben, genau so wenig Solidarität ist, wie Liebe Liebe ist, wenn für jeden einzelnen »Liebesdienst« oder »Liebesbeweis« gezahlt werden muss. Das ändert sich auch nicht, wenn pauschal bezahlt wird (zum Beispiel in der Ehe). Warum ist das so? Ganz einfach, Phänomene wie Liebe und Solidarität folgen strukturell einer Logik, die nicht die Logik des Marktes sein kann. Schon bei Shakespeare wird dies äußerst klar ausgesprochen, zum Beispiel wenn Julia sagt: »Ich wünsche nur, was ich bereits besitze. So grenzenlos ist meine Liebe, so tief das Meer, je mehr ich gebe, je mehr auch hab ich: beides ist unendlich.« Liebe entzieht sich jedem Kalkül, deshalb lässt sie sich nicht verkaufen. Das ist tragisch für den Markt, dass seine wunderbare Kraft, die Bedürfnisbefriedigung der Menschen dynamisch in ungeahnten Ausmaßen zu fördern, ausgerechnet bei einem der wichtigsten Güter des täglichen Bedarfs versagt: der Liebe. Und beunruhigend ist dabei, dass der Markt, um zu funktionieren, eigentlich keine Ausnahmen dulden darf. Das ist schon sein Problem bei unverkäuflicher Arbeitskraft, die man nicht wie andere unverkäufliche Waren einfach auf den Müll schmeißen kann, weil da ja lebendige Menschen dranhängen. Dass sich das Problem der Arbeitslosigkeit nicht durch das »freie Spiel der Kräfte« lösen lässt, weil man sonst die überflüssigen Arbeitskräfte verhungern lassen müsste, ist ein ruinöses Problem der Marktwirtschaft und der Menschen, die ihr ausgeliefert sind. Und nun, wenn wir feststellen, dass ein so wichtiges Gut wie die Liebe schlechterdings nicht für den Markt geeignet scheint, weil es wesentlich die dort herrschenden Gesetze unterläuft oder überwindet, stehen wir vor einem schweren Dilemma. Und das ökonomische Marktprinzip, dem die Welt den Fortschritt zu verdanken hat und sogar ihre demokratische Ordnung, scheitert ausgerechnet da, wo es für die liebesbedürftigen Menschen wirklich wichtig wird. Die Globalisierung nach innen, das heißt die Tendenz der Marktwirtschaft, sich jeden menschlichen Lebensbereich einzuverleiben, findet hier ihre Grenze. Die Liebe, nach der wir uns sehnen, ist unvernünftig. Und Unvernunft gefährdet den Markt. Der berühmte Autovermieter und Erfolgsunternehmer Sixt verkündete neulich: »Die oberste Vorraussetzung unserer Wirtschaftsordnung ist, dass die Beteiligten immer rational handeln. Wir wissen alle, dass das nicht stimmt.« Das heißt, die Rationalität des Marktes, das, was Konkurrenz überhaupt erst ermöglicht, dass alle Marktteilnehmer rational auf ihren Vorteil aus sind, lässt sich empirisch nicht bestätigen. Es gibt offenbar viele Handlungsmotive, die nicht marktmäßig kalkulierbar sind. Dostojewski war vor 150 Jahren wahrscheinlich einer der Ersten, die dieses Leck im rationalen Vorteilsdenken gesehen haben. In seinem Roman Aufzeichnungen aus dem Kellerloch lesen wir etwas, das wie ein Kommentar zu der Einsicht von Sixt klingt: Nach unserem eigenen, uneingeschränkten und freien Wollen, nach unserer allerausgefallensten Laune zu leben, die zuweilen bis zur Verrücktheit verschroben sein mag? Das, gerade das ist ja jener übersehene allervorteilhafteste Vorteil, der sich nicht klassifizieren lässt, und durch den alle Systeme und ökonomischen Theorien fortwährend zum Teufel gehen. Dostojewski erlaubt sich in diesem Text, den größten Vorteil ausgerechnet in der Vorteilsablehnung, in der Nicht-Rationalität, im Ignorieren des Kalküls zu finden. Jemanden nicht zu heiraten, nur weil er eine Erbschaft gemacht hat, jemandem alles zu geben, was man hat, ohne jegliche Gegenleistung: solche Verhaltensweisen – es gibt sie nicht nur bei Dostojewski – sind unter ökonomischen Gesichtspunkten nicht mehr zu fassen. Und hier wird auch der Widerspruch deutlich, der die Ausgangsfrage von René Pollesch charakterisiert. Liebe echt und bezahlt? Wenn sie bezahlt ist, folgt sie einem Kalkül, ist also von etwas anderem abhängig als ihr selbst, wird instrumentalisiert und damit entwertet. Wenn sie aber außerhalb des Kalküls liegt, widerspricht sie den obersten Voraussetzungen unserer Wirtschaftsordnung und ist nach deren Maßstäben ein gefährlicher Unsinn (Wie kann ein vernünftiger Mensch Julia zustimmen, wenn sie sinngemäß sagt: »Je mehr ich ausgebe, je mehr hab ich im Portemonnaie«?). Liebe auf dem Markt zu kaufen scheitert genauso wie Liebe, die sich jenseits des Marktes verwirklichen will. Die marktkompatible Liebe ist unecht. Die reine Liebe jenseits des Marktes tritt ihre eigenen Überlebensbedingungen mit Füßen. Vielleicht enden deshalb Liebesgeschichten zumindest im Theater gerne tödlich. Man kann nicht sagen, dass wir bis heute eine überzeugende Lösung für dieses Dilemma gefunden hätten. Wer kalkuliert, lebt länger, aber er kann und darf nicht lieben, wenn er konsequent...


Carl Hegemann, geb. 1949 in Paderborn, studierte 1969–1978 Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaften in Frankfurt am Main. Nach der Promotion unterrichtete er dort zehn Jahre Philosophie und Soziologie. 2004/2005 war er Gastprofessor an der HdK Karlsruhe und 2006–2014 Professor fu¨r Dramaturgie an der HMT "Felix Mendelssohn Bartholdy" in Leipzig. Seit 1979 arbeitet Hegemann an zahlreichen Theatern und Opernha¨usern, darunter das Tu¨binger Zimmertheater, das Burgtheater Wien, die Bayreuther Festspiele, die Schauspielha¨user in Freiburg, Bochum, Ko¨ln, Zu¨rich und Hamburg, die Staatsopern in Berlin und Hamburg sowie das Opernhaus in Manaus, Brasilien. Nach dem Tod von Heiner Mu¨ller war er 1996–1998 Ko-Intendant am Berliner Ensemble. An der Volksbu¨hne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin unter der Leitung von Frank Castorf war er 1992–2017 insgesamt 15 Jahre engagiert, zuletzt 2015–2017 als Chefdramaturg. Dort entstanden auch pra¨gende Arbeitszusammenha¨nge mit Christoph Schlingensief, Rene´ Pollesch, Herbert Fritsch und Bert Neumann. Hegemann unterrichtet u. a. an den Kunstuniversita¨ten in Wien und Berlin. Zuletzt arbeitete er mit Frank Castorf, Jette Steckel und Christoph Marthaler. 2018 gru¨ndete er die dramaturgische Beratungsagentur "Everyday live".


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