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E-Book, Deutsch, Band 1, 181 Seiten

Reihe: Handlungskompetenzen in der Sozialen Arbeit

Heiner Kompetent handeln in der Sozialen Arbeit

E-Book, Deutsch, Band 1, 181 Seiten

Reihe: Handlungskompetenzen in der Sozialen Arbeit

ISBN: 978-3-497-61727-2
Verlag: Ernst Reinhardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Handlungskompetenzen bilden das Potenzial, über das eine Person verfügt und das notwendig ist, um komplexe und bedeutende Aufgaben zu bewältigen. Ob und wie die Fachkräfte der Sozialen Arbeit ihr Potenzial einsetzen, hängt von ihrer Qualifikation und Motivation sowie von den Rahmenbedingungen ihres Tätigkeitsfeldes ab. In diesem Einführungsband wird das Modell der Handlungskompetenzen und Handlungstypen theoretisch begründet und an Fallbeispielen anschaulich erläutert. Die 4. Auflage wurde bearbeitet von Mathias Schwabe.
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Zielgruppe


Studierende und Lehrende der Sozialen Arbeit sowie PraktikerInnen.

Weitere Infos & Material


2Fallvignette aus der Schulsozialarbeit: Fatima hat eine Mitschülerin bestohlen 2.1Fallschilderung Fatima (13 Jahre) hatte zweimal Mitschülerinnen bestohlen. Sie wurde daraufhin von der Klassenfahrt ausgeschlossen, musste in der Zeit der Klassenfahrt in der Parallelklasse am Unterricht teilnehmen und eine „Arbeitswoche“ bei der Schulsozialarbeiterin der Hauptschule verbringen. Die Lehrer erwarteten von der Schulsozialarbeiterin, dass sie (wie bei ihrer Vorgängerin üblich) Fatima in dieser Zeit mit Strafarbeiten wie Putzen, Aufräumen, Botengänge usw. beschäftigen würde. Die Schulsozialarbeiterin, Frau Malzer, sah allerdings in bloßen Strafaktionen ohne Bezug zu den Ursachen der Tat wenig Sinn und suchte nach eigenen Wegen. Glücklicherweise hatten Fatima und die Sozialarbeiterin sich schon zwei Monate vor dem Diebstahl kennen gelernt und ein Vertrauensverhältnis aufgebaut. Das Mädchen war eine Zeit lang täglich spontan vorbeigekommen und hatte immer mehr erzählt, was sie bewegte. Vor allem von ihrer häuslichen Situation hatte sie berichtet, z. B. von ihrem Vater, der seit dem Krebstod der Mutter vor vier Jahren kaum ansprechbar war und sich um fast nichts mehr richtig kümmerte. Die fünf Jahre ältere Schwester hatte bis vor einem Vierteljahr, als sie zu ihrem Freund zog, Fatima und ihre zwei und vier Jahre jüngeren Schwestern versorgt. Seit einigen Monaten musste nun Fatima für ihre Geschwister sorgen und noch zahlreiche Arbeiten im Haushalt übernehmen. Der Vater hatte sich schließlich etwas erholt, hatte aber viel mit Behörden und Ärzten zu tun, um seine Frühverrentung wegen eines Rückenleidens zu klären. So blieb Fatima kaum Zeit für ihre Schulfreundinnen und sie gehörte nicht mehr richtig zu ihrer Clique. Als Tochter eines Empfängers von staatlichen Unterstützungsgeldern (Hartz IV) konnte sie außerdem an manchen Vergnügungen der Klassenkameraden aus Geldmangel nicht mehr teilnehmen. Ihre Kleidung entsprach auch nicht dem, was als „cool“ galt. Der Vater hatte sich durch einen Ratenvertrag so verschuldet, dass der finanzielle Rahmen der Familie noch enger war. Die Schulsozialarbeiterin hatte dem Vater über Fatima die Informationsbroschüre einer Finanz- und Schuldnerberatungsstelle zukommen lassen und ein Gespräch angeboten. Aber der Vater hatte auch darauf nicht reagiert. Leider konnte sie daher auch nicht mit ihm darüber sprechen, ob er (wie in türkischen Familien teilweise üblich) diese Belastung von Fatima für einen selbstverständlichen Beitrag zum Familienzusammenhang hielt, ohne die Kehrseite zu sehen. Zum Zeitpunkt des Diebstahls war das Verhältnis zwischen Fatima und der Schulsozialarbeiterin gerade erheblich lockerer geworden. Angesichts einer Reihe dringender Einzelfälle hatte Frau Malzer wenig Zeit und sah auch keinen Grund, sich mit Fatima intensiv zu beschäftigen. Das Mädchen hatte damals weder schulische Schwierigkeiten, noch steckte sie in einer akuten familialen Krise – im Gegensatz zu anderen Schülern. Als Fatima dann beim Diebstahl erwischt wurde, rekapitulierte die Schulsozialarbeiterin für sich die letzten vier Wochen, in denen die täglichen informellen Begegnungen mit Fatima allmählich auf einen festen Pausentermin pro Woche reduziert worden waren. Hatte sie irgendwelche Krisenzeichen oder Hilferufe übersehen? Sie nahm sich vor, ihre Gewohnheit wieder aufzunehmen, am Ende des Arbeitstages noch einmal zehn Minuten alles Erlebte Revue passieren zu lassen. Nach der Meldung des Diebstahls durch die Klassenlehrerin wollte Frau Malzer mit Fatima Kontakt aufnehmen, aber diese kam in einer Pause von sich aus auf sie zu und erzählte ihr auf dem Flur vom Diebstahl. Es platzte förmlich aus ihr heraus. Auf die Frage: „Warum erzählst du mir das?“, antwortete sie, den Tränen nahe, „Weiß nicht. Irgendwie will ich, dass du weißt, dass ich das nicht mehr machen werde.“ Die „blöde“ Idee sei von den Mitschülerinnen gekommen. Sie hätte nur mitgemacht, obwohl sie schon befürchtet hätte, erwischt zu werden. Die Mitschülerinnen ihrerseits konnten oder wollten dazu nichts sagen, kicherten nur, bestritten aber die gemeinsame Planung auch nicht. Alle fanden, es sei eben „dumm gelaufen“. Die Klassenlehrerin wusste nichts Genaueres über den Tathergang oder die Motive, war aber überzeugt, dass Fatima die „Rädelsführerin“ war. Frau Malzer fragte Fatima nach ihren Ideen zur Zusammenarbeit in der Arbeitswoche. Als ihr nichts einfiel, schlug sie ihr schließlich vor, im Rollenspiel auszuprobieren, wie man auf Ideen von Mitschülern reagieren kann, die man nicht so gut findet, die z. B. vorschlagen, jüngere Mitschüler zu piesacken, etwas zu demolieren – oder eben zu klauen. Am Anfang hatte Frau Malzer Zweifel, ob die Methode „Rollenspiel“ das Richtige für die eher zurückhaltende Fatima sei. Aber diese begeisterte sich zunehmend dafür, gerade zum Thema „Bestohlen werden“. Zunächst verharmloste sie jegliche Form von „Mitgehenlassen“. Sie argumentierte auch in den Gesprächen nach dem Spiel nicht normenbezogen, sondern ergebnisbezogen („Pech, dass ich erwischt wurde“). Außerdem relativierte sie ihr Fehlverhalten durch den Verweis auf Mitschüler („Haben die anderen ja auch schon gemacht“). Diese Begründungen standen in merkwürdigem Kontrast zu ihrem Geständnis auf dem Flur. Sie nahm aber die andere Einstellung von Frau Malzer wahr, genoss die gemeinsam mit ihr verbrachte Zeit und setzte sich im Laufe der Woche immer ernsthafter mit deren Argumenten auseinander. Zu ihrer Unsicherheit, wie ernst bestimmte Normen und Werte der Erwachsenen zu nehmen seien, trug vielleicht auch der Vater bei, den der Diebstahl nicht beunruhigte. Am Ende der Woche bestritt Fatima ihren Anteil an der Tat nicht mehr und konnte besser nachvollziehen, dass sie bei etwas mitgewirkt hatte, das andere nicht mögen. Neurowissenschaftliche Grundlagen der Handlungsregulation Das menschliche Gehirn wird in den Neurowissenschaften als ein sich selbst organisierender Erfahrungsspeicher betrachtet, der aufgrund von Erfahrungen des Organismus seine Struktur ändern kann. Der genetisch angelegte Ausreifungsprozess des Gehirns geht dabei mit sozialen Ausformungsprozessen einher und ist an organische Entwicklungsschübe gebunden. Nach dem zweiten und zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr weist das Gehirn z. B. das doppelte Potenzial an Neuronen und synaptischen Verbindungsmöglichkeiten auf wie im Erwachsenenalter. Dieses Überpotenzial baut sich im Zuge der Herausbildung bevorzugter Verzweigungen zwischen den Nervenzellen wieder ab. Durch häufige Wiederholungen werden die neu entstandenen Verbindungen immer besser gebahnt, sind leichter aktivierbar und gewinnen als Formen der Realitätsaneignung Einfluss auf psychische Aktivitäten, oft ohne dass dies den Handelnden bewusst ist. Das Gehirn benötigt etwa 18 bis 20 Jahre, um jene Bahnungen zu etablieren, die für die kognitiv-emotionale Lebenskompetenz von Erwachsenen nötig sind. KlientInnen, die zwar veränderungsbereit sind, aber das Geplante nicht umsetzen können, weisen oftmals Reaktionsmuster auf, die einem früheren Lebensalter entsprechen. Sie sind z. B. nicht in der Lage, ¦sich von Ich-bezogenen Vorstellungen zugunsten einer sozial bezogenen und mehrperspektivischen Sicht der Wirklichkeit zu lösen, ¦klar zwischen ihren guten Absichten und ihrem tatsächlichen Handeln zu unterscheiden, ¦Moratorien zwischen Handlungsimpuls und Handlung einzuschalten, um mögliche Konsequenzen zu bedenken, ¦sich auch als Ursache ihrer Probleme und nicht nur als Pechvögel oder Opfer zu sehen. Im Rahmen einer wertschätzenden Beziehung gelingt es KlientInnen am ehesten, innere Bilder von sich selbst und ihrer Umwelt zu korrigieren, Lern- und Entwicklungsprozesse nachzuholen, eine intrinsische Motivation aufzubauen und so ihre Selbststeuerung zu verbessern (siehe auch Roth 2001; Hüther 2005; Storch/Krause 2007; Kron-Klees 2008, 97 ff., 124 f., 198 f.). Fatima, so berichteten die Lehrer, ist in ihrer Klasse isoliert. Sie ist die einzige Muslima, die ein Kopftuch trägt. Über eine mögliche Verstärkung ihrer sozialen Ausgrenzung durch den Ausschluss von der Klassenfahrt hatte sich die Lehrerkonferenz keine Gedanken gemacht. Frau Malzer erzählte der Klassenlehrerin andeutungsweise von Fatimas häuslicher Situation, dass sie selbst für die Clique sehr wenig Zeit hätte, und berichtete ausführlicher vom Gefühl des Mädchens, nicht wirklich zur Klassengemeinschaft zu gehören. Auch Fatimas Entwicklungen im Rollenspiel schilderte sie anschaulich. So veränderte sich das Bild der Lehrerin von der „Rädelsführerin“ allmählich und sie bemühte sich um Fatimas Integration in den Klassenverband. Zwei Monate später berichtete sie, dass Fatima sich mit einem Mädchen näher befreundet habe und auch von der Klassengemeinschaft besser akzeptiert werde. Sie wirke jetzt deutlich fröhlicher und selbstbewusster und sei auch konzentrierter im Unterricht dabei. Am Ende dieser Kooperation...


Prof. Dr. Maja Heiner (1944-2013) lehrte am Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Sozialpädagogik, Universität Tübingen.


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