Henschel | Kindheitsroman | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 496 Seiten

Reihe: Martin Schlosser

Henschel Kindheitsroman

E-Book, Deutsch, 496 Seiten

Reihe: Martin Schlosser

ISBN: 978-3-455-81391-3
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Bundesrepublik Deutschland, 1964 bis 1975: Ein Kind namens Martin Schlosser erzählt aus seinem Leben, vom Sandkasten bis zur Pubertät, von den ersten Liebesperlen im Hinterhof bis zum Wunschtraum, der neue Eddy Merckx zu werden, der neue Mark Spitz, der neue Gerd Müller oder am besten alles auf einmal.
"Kindheitsroman" ist der erste Band einer großangelegten Chronologie, in der man erfährt, was der Protagonist von Mecki, Lurchi, Gustav Gans und Percy Stuart hält und von den eigenen Geschwistern, wie er zum Brandstifter und Ladendieb wird, was er als Fan von Borussia Mönchengladbach erlebt und wie es ist, wenn man den Eltern beichten muss, dass man in Biologie auf Sechs steht.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Cover
Titelseite
Motto
Kindheitsroman
Weil ich mit Ingo [...]
Im Turnverein gefiel es [...]
Michael und ich spazierten [...]
Bildquellen
Über Gerhard Henschel
Zu dieser Ausgabe
Impressum


Kindheitsroman
Licht ausmachen, Handflächen neben die Augen legen und durchs Fenster schräg nach oben kucken, in den fallenden Schnee: Dann hatte man das Gefühl, man würde fliegen, zwischen den Schneeflocken durch. Das hatte Renate mir beigebracht.   Ich und du, Müllers Kuh.   Renate hatte vorne einen braunen Leberfleck am Hals. Daran war sie immer zu erkennen.   Da war ein Weg, wo Mama sich mit anderen Müttern unterhielt, die auch alle Kinderkarren dabeihatten. Die Sonne schien, und über eine Mauer hingen Zweige runter mit roten Beeren. Ich hatte Krümel aus dem Graubrot im Netz gepult. Wegen dem Loch im Brot kriegte ich zuhause keine Bombongs.   Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast. Meins war das Lätzchen mit den Marienkäfern. Ein Löffel für Oma, ein Löffel für Opa, bis unten im Teller die schwarzen körnerpickenden Hühner auftauchten. Mein Löffelstiel war zur Seite gebogen. Ein Löffel für Martin. Das war ich selbst. Martin Schlosser. »Nicht träumen!« Nach dem Essen leckte Mama einen Lätzchenzipfel an und wischte mir damit den Mund ab. Bim, bam, beier, die Katz mag keine Eier.   Volker hatte Murmeln mit farbigen verdrehten Schlieren innendrin.   Wenn Papa gute Laune hatte, ließ er mich kopfüber an der Decke langspazieren oder kitzelte mich durch: »Prr-prr-prr-prr-prr!« Papa roch nach Pfeife, und ihm wuchsen graue Haare aus der Nase. Auf Papas Knien: So fahren die Damen, so fahren die Damen – so reiten die Herren, so reiten die Herren – und so reitet der Bauersmann, der nicht besser reiten kann. Da fiel ich immer fast runter.   Leute, die uns besuchten, kriegten vom Wohnzimmer aus die Festung Ehrenbreitstein gezeigt und die Striche an der Kinderzimmertür: wie groß ich wann gewesen war. Die Jalousie war grün.   Bei der roten Autokiste im Kinderzimmer war das Lenkrad ab.   Im Doppelstockbett durfte Volker oben schlafen, weil er drei Jahre älter war als ich. Dafür war er drei Jahre jünger als Renate. Zum Beten faltete Mama ihre Hände über meinen. Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm. »Und jetzt will ich keinen Mucks mehr hören!« Meine Beine waren mit Bademantelgürteln an die Bettpfosten gebunden, eins links und eins rechts, damit ich die Decke nicht abstrampeln konnte. Maikäfer, flieg!   Unten auf dem Hof machte Mama ein Foto von Volker und mir auf dem Dreirad. Volker fuhr, und ich stand hinten auf der Stange. An den Sandkasten kam man nicht ran, der war immer besetzt. Ein Kind hatte auch einen Ball.   Der Hof war voller Rauhbeine, die den Mädchen hinten den Rock hochhoben: »Deckel hoch, der Kaffee kocht!« Straßenwörter, die nicht in die Wohnung gehörten, waren Scheiße, Kacke, Arsch und Sau.   Einmal machte Renate mit ihren Freundinnen eine Puppenmuttiparade vom Hof bis zum Rheinufer, und die Puppen kriegten das Deutsche Eck gezeigt. Ulrike Quasdorf hatte den schlechtesten Puppenwagen. Die Räder eierten und quietschten, und vorne fehlte eins. Ihre neue Puppe Annemarie hieß so wie eine Frau aus der Tagesschau. Annemarie war besser als Renates alte Puppe Christine, die nur aufgemaltes Haar hatte. Annemarie hatte echtes und machte immer Bäh, wenn sie auf dem Kopf stand. Das Bäh kam aus einem Sieb am Rücken raus. Bei der Parade wollte ich auch mal schieben, aber Renate ließ mich nicht.   Groß und Klein. Nach Groß mußte ich immer noch Mama rufen, damit sie mir den Po abwischte. »Mama, fertig!« Dreimal am Tag oder noch öfter.   Im Wildgehege Remstecken waren Fasane, Rehe, Wildschweine und Kühe. Mama hielt mir ein Papiertaschentuch vor die Nase: »Schnauben! Tüchtig!« Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen. Das Taschentuch warf ich einer Kuh zu, und die fraß es auf. Für uns selbst gab es Fanta mit Eiswürfeln.   Im Sommer wurden zum Planschen Wannen im Hof aufgestellt: ein Eimer heißes Wasser, zwei Eimer kaltes. Angelika Quasdorf machte Pipi ins Wasser und spritzte damit. Die war ein freches Luder.   An Oma Schlossers Krückstock war in der Mitte ein silbernes Wappen genagelt. Sie redete Mama und Papa mit ihren Vornamen an, Inge und Richard, und sie nähte ein Kleid, das Renate immer wieder anprobieren mußte, mit allen piekenden Stecknadeln drin.   Als rauskam, daß Renate mit den Quasdorfs zum Rheinufer gegangen war, schwimmen, wurde sie von Mama ins schwarze Klo gesperrt. Tür zu, Schlüssel rum und kein Licht! Der Schalter war außen, und das Klo hatte kein Fenster. Das schwarze Klo war die schlimmste Strafe. Wenn man an der Klinke rüttelte, heulte, brüllte und gegen die Tür trat, wurde man erst recht nicht rausgelassen. Raus durfte man erst, wenn man nicht mehr bockig war.   Gut war das Spiel, jemanden was nachsprechen zu lassen, bloß abgekürzt. »Ich kaufe Zucker«, mußte man sagen, und dann mußte der andere sagen: »Ich ka Zucker.« Dann sagte man: »Ich kaufe Nudeln.« Und der andere mußte sagen: »Ich ka Nudeln.« Dann sagte man: »Ich kaufe Mehl«, und wenn man Glück hatte, sagte der andere: »Ich Kamel.« Einmal war ich darauf reingefallen, aber als ich andere damit reinlegen wollte, kannten die das schon alle.   Dann fuhren Mama, Papa und ich mit dem Käfer nach Dänemark. Renate wurde bei Oma und Opa in Jever abgeliefert. Volker war schon da. Renate und Volker waren auch beide in Jever geboren worden. Ich war in Hannover geboren worden, von wo wir nach Lützel gezogen waren. Auf einem Rastplatz gab es ekligen Kartoffelsalat zu essen, mit langstieligen bunten Plastiklöffeln aus Gläsern mit Schraubverschluß. A-a mußte ich hinter einer Mülltonne auf den Rasen machen, mit dem Rücken an Mamas Bauch und ihren Händen in den Kniekehlen.   Hinten im Käfer sah ich im Liegen die kleinen schwarzen Punkte an der weißen Decke tanzen.   In Dänemark stellte Papa Klappstühle vor dem Zelt auf und rauchte Pfeife. Ich durfte wieder Fanta trinken.   Am Hafen sprang ein Fisch aus dem Eimer von einem Angler und flitschte über die Steine.   Die dänischen Kühe hatten Augen wie die Rehe in Remstecken.   Ins Wasser wollte ich lieber nicht.   Auf dem Rückweg machten wir in Jever Station, um Renate und Volker einzusammeln. Oma Jever, die Mamas Mutter war, briet Rührei mit Schnittlauch, und Opa konnte so miauen, daß man dachte, unterm Tisch sitzt ’ne Katze. Mein großer Vetter Gustav stotterte. Tante Gisela war seine Mutter, aber die hatte keinen Mann, deshalb wohnte Gustav bei Oma und Opa. Der Wohnzimmerteppich hatte ein Muster, das sich gut als Straße für Spielzeugautos eignete. In der Ecke tickte und gongte die Standuhr. Im Garten gab es eine Schaukel, einen Sandkasten, einen Schuppen, Sträucher mit Johannisbeeren und eine Spielwiese, und im Fernsehen kam das Sandmännchen. Nun, liebe Kinder, gebt fein acht, ich hab euch etwas mitgebracht!   In Jever hörte ich auch, daß ich eine neue Kusine bekommen hatte. Hedda. Renate sagte: »In acht Jahren bin ich ’ne schöne junge Frau, und Hedda ist ’ne olle Göre!« Wir waren alle aus Mamas Bauch gekommen, erst Renate und dann Volker und dann ich.   In Jaderbutendieks wohnte Tante Lina. Sie hatte ein Punktekleid an und kochte Hühnersuppe. Als wir die aufhatten, machten wir Winkewinke.   In Lützel wurde gebadet. Erst Papa, dann Mama und dann wir, alle im selben Wasser. Renate fischte die Haare raus und legte sie auf den Wannenrand. Sie war Käpt’n, Volker Steuermann und ich Matrose. Wir spielten, daß wir Piraten in Seenot wären, bis Mama reinkam: »Geht das nicht ’n bißchen leiser? Und müßt ihr die ganze Bude unter Wasser setzen?« Mama schäumte uns die Haare ein und spülte sie mit dem Brauseschlauch aus. Ich kriegte Seife in die Augen. Volker auch. Danach wurden wir mit dem großen braunen Badehandtuch abgerubbelt.   Ob der Nikolaus und Knecht Ruprecht zwei verschiedene oder einer und derselbe waren, wußte keiner so genau. Knecht Ruprecht war jedenfalls der mit der Rute.   Volker hatte Mandelentzündung und mußte ins Krankenhaus. Am Tag nach der Operation nahm Mama mich mit hin. Er wollte partout nichts essen, und nur mit viel Mühe und gutem Zureden trichterte Mama ihm einen halben Leibnizkeks ein. Fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben. Volker sehe aus wie ein Schluck Wasser in der Kurve, sagte Mama abends zu Papa.   Als Volker wieder da war, konnte er sechs Adventskalendertürchen aufmachen. Sonne, Blume, Apfel, Kerze, Glocke, Pilz. Auf meinem Kalender waren Kinder beim Rodeln mit fliegenden Engeln obendrüber. Auf Renates und auf Volkers Kalendern war beide Male der Weihnachtsmann, einmal im Schlitten mit schnaubenden Hirschen davor und einmal mit Geschenkesack über der Schulter auf einem beschneiten Hausdach, ein Bein schon im Schornstein.   Türchen offenlassen oder wieder zudrücken, das war die Frage. Bei offenen war das Bild vornedrauf zerlöchert, und bei zuen wußte man nicht, wieviele Tage schon um waren und wie dicht das Christkind vor der Tür stand. Das Christkind gehörte auch irgendwie dazu, aber mir war der Weihnachtsmann lieber, weil der die Geschenke...


Henschel, Gerhard
Gerhard Henschel, geboren 1962, lebt als freier Schriftsteller in der Nähe von Hamburg. Sein Briefroman Die Liebenden (2002) begeisterte die Kritik ebenso wie die Abenteuer seines Erzählers Martin Schlosser, die mit dem Kindheitsroman 2004 ihren Anfang nahmen. Henschel ist außerdem Autor zahlreicher Sachbücher. Er wurde unter anderen mit dem Hannelore-Greve-Literaturpreis, dem Nicolas-Born-Preis und dem Georg-K.-Glaser-Preis und dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet.

Gerhard Henschel, geboren 1962, lebt als freier Schriftsteller in der Nähe von Hamburg. Sein Briefroman Die Liebenden (2002) begeisterte die Kritik ebenso wie die Abenteuer seines Erzählers Martin Schlosser, die mit dem Kindheitsroman 2004 ihren Anfang nahmen. Henschel ist außerdem Autor zahlreicher Sachbücher. Er wurde unter anderen mit dem Hannelore-Greve-Literaturpreis, dem Nicolas-Born-Preis und dem Georg-K.-Glaser-Preis und dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet.


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