Hessenberger / Haupt | Fahrend? Um die Ötztaler Alpen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 5, 248 Seiten

Reihe: Ötztaler Museen Schriften

Hessenberger / Haupt Fahrend? Um die Ötztaler Alpen

Aspekte jenischer Geschichte in Tirol

E-Book, Deutsch, Band 5, 248 Seiten

Reihe: Ötztaler Museen Schriften

ISBN: 978-3-7065-6171-6
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Geschichte der Jenischen ist eine scheinbar spurlose, geprägt von wirtschaftlicher Not, Krieg und Vertreibung. Es ist eine Geschichte der Anderen, der Fremden, im besten Fall gespickt mit romantischen Erinnerungen an Pfannenflicker und Scherenschleifer, an Händlerinnen und Bettlerinnen. Jedenfalls ist die Geschichte der Jenischen in Vergessenheit geraten.
Grund genug, sie im Rahmen des von der Europaregion Tirol-Trentino 2021 ausgerufenen Museumsjahres zum Thema „Transport –Transit – Mobilität“ in den Fokus zu nehmen. Im vorliegenden Sammelband werden in zehn Beiträgen wichtige Aspekte rund um jenische Geschichte und Gegenwart in Tirol herausgearbeitet. Die unterschiedlichen Herangehensweisen und Fragestellungen sowie verschiedene sprachliche Zugänge machen die Komplexität des Themas deutlich, in dessen Kern jedoch steht: Jenische waren und sind ein wichtiger Teil der Tiroler Geschichte und Identität.
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Jenische Realität oder bürgerliche Romantik? – Skizze des Imster Malers Johann Linser, 1875   Einführung
Edith Hessenberger/Michael Haupt
Die jenische Geschichte Tirols ist keine, die häufig erzählt wird, sie ist keine Geschichte, die sich in Schul- oder in Dorfbüchern findet. Sie ist unsichtbar, wie auch die Jenischen unsichtbar sind. Ihre Existenz ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, ihre Realität wird meist nicht als Teil der Tiroler Geschichte erinnert. Das ist einer der Gründe, warum die Ötztaler Museen, die Initiative Minderheiten und das Vintschger Museum diesen Aspekt unserer Geschichte im Rahmen des von der Europaregion Tirol-Trentino 2021 ausgerufenen Museumsjahres zum Thema „Transport –Transit – Mobilität“ (einmal mehr) in ihren Fokus genommen haben. Der Blick schweift dabei ganz bewusst über den „Tälerrand“ hinaus. Schon im Titel des vorliegenden Buches steckt eine Frage: „Fahrend? Um die Ötztaler Alpen. Aspekte jenischer Geschichte in Tirol“. – Welche Bilder tauchen in unseren Köpfen auf, wenn wir von Jenischen hören, und wie sehr entsprechen sie der historischen, aber auch der aktuellen Realität? Waren Jenische wirklich ein fahrendes Volk, wie häufig kolportiert wird? Wie sehr unterschieden sich Jenische in dieser Hinsicht von der sesshaften Bevölkerung, war diese tatsächlich so immobil und ortsgebunden, wie häufig angenommen wird? Bis heute wird in Bezug auf Jenische in Tirol häufig von Karrnern, Dörchern, Laningern etc. gesprochen. In Nordtirol hat sich in der wissenschaftlichen Arbeit zur jenischen Geschichte die Überzeugung durchgesetzt, dass diese landläufigen Bezeichnungen vermieden werden sollten. Zu lange transportierten sie sowohl negative Stereotype als auch romantische Verfälschungen, bis heute werden sie im Tiroler Sprachgebrauch als Schimpfwörter verwendet. Das stärkste Argument ist jedoch, dass eine Reihe Jenischer, die sich heute um eine kritische Aufarbeitung ihrer Geschichte in Tirol bemühen, die Bezeichnung Karrner etc. deutlich von sich weisen und als beleidigend empfinden. In Südtirol stellt sich die Situation etwas anders dar. Hier wurde der Begriff Korrner durch kritische Kulturarbeit, wie etwa in Form der literarischen Arbeiten von Luis Stefan Stecher, seit den 1970er Jahren teils auch positiv konnotiert. 1978 wurde Stechers Band „Korrnrliadr: Gedichte in Vintschger Mundart“ veröffentlicht, in dem er Jenischen ein Denkmal setzen und von ihrem Alltagsleben berichten wollte. Durch die Vertonung von Ernst Thoma sind viele dieser Gedichte zu Volksliedern geworden. Zuletzt wurden von Heiner Stecher, Luis Stefan Stechers Sohn, zusammen mit seiner Band Flouraschwarz mehrere Gedichte neu vertont. So kommt es, dass im vorliegenden Band nicht nur unterschiedliche Herangehensweisen an Fragestellungen rund um jenische Geschichte in Tirol, sondern auch unterschiedliche sprachliche Zugänge deutlich werden. Diese Tatsache macht die Komplexität der Geschichte und Gegenwart Jenischer in Tirol deutlich, die zwischen Diskriminierung und Marginalisierung, vollkommener Integration und nicht zuletzt in den aktuellen Bemühungen um Anerkennung als Volksgruppe in Österreich mündet. In diesem Band
Für eingehende Betrachtungen verschiedenster Aspekte jenischer Geschichte in Tirol konnten dankenswerterweise eine Reihe hervorragender Wissenschafterinnen und Wissenschafter gewonnen werden. Mobilität ist das Thema des EUREGIO-Museumsjahres 2021 – aus diesem Grund wird auch die Frage danach, ob Mobilität nun Ausnahme oder Alltag im historischen Tirol war, an den Eingang des Buches gestellt. Der Historiker Michael Span erstellt unter dem Titel „Migration und Mobilität im Tiroler Oberland in der Frühen Neuzeit“ einführend einen Überblick über die Formen und die Bedeutung von Mobilität in Tirol – in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen. Bereits im 16. Jahrhundert gab es erste Bestrebungen im Rahmen der Tiroler Landesordnung, die Mobilität der Tiroler strenger zu regeln. Wanderhandel, Bettel und Migration standen jedoch bis ins 20. Jahrhundert an der Tagesordnung. Von der allgemeinen Mobilitätsgeschichte hin zur Geschichte der Jenischen führen Elisabeth Maria Grosinger-Spiss und Roman Spiss im Beitrag „Die Jenischen im Tiroler Oberland“, in dem sie am Beispiel konkreter Familiengeschichten historische Realität erfahrbar machen. Diese war geprägt von der Verachtung der „Vagabunden“, die manchmal ihre gesamte Habe auf Karren mit sich führten, abseits der Siedlungsgebiete lagerten und sich als Tagelöhner oder als Besenbinder, Scherenschleifer, Regenschirmund Pfannenflicker oder Korbflechter den Lebensunterhalt verdienten, durch die sesshafte Bevölkerung. Ihre Lebensweise brachte sie regelmäßig in Konflikt mit dem Gesetz und den Interessen der sesshaften Bevölkerung, die sie als „Karrner“, „Dörcher“ oder „Laninger“ bezeichnete.1 Die marginalisierten Dauer-Wanderer waren schon bald stigmatisiert, wie ein Bericht des Brunecker Kreisamtes aus dem Jahr 1818 verdeutlicht: „Als Hauptschule des Verbrechens sieht (man) die sogenannten Landfahrer, Dörcher, Karrenzieher; die Deserteurs und die arbeitsscheuen Vagabunden an.“2 Abb. 1: Schloss Wiesberg mit fahrender Familie im Vordergrund, gezeichnet von Carl Viehbeck, 1820 Maßgeblich zur Verachtung dieser sozialen Gruppe trugen, neben der Abstiegsangst der Sesshaften,3 nicht zuletzt die mit dem Anwachsen der Gruppe zunehmenden Kosten für die Gemeinden bei. Die Gemeinden waren – wenn seitens der Verarmten ein Heimatrecht bestand – für die Ausstattung der Kinder und die Armenfürsorge zuständig.4 Wie die Situation in Gemeinden aussah, in denen viele Jenische daheim waren, zeichnet der Chronist Manfred Wegleiter exemplarisch für die Gemeinde Haiming nach. Für seinen Beitrag „Die Haiminger Landfahrer im Spiegel der Zeit“ hat er eine Vielzahl an Dokumenten aus verschiedenen Archiven durchgearbeitet und analysiert sowie Zeitungen nach jenischen Spuren durchforstet. Dabei spielen Quellen wie Gemeinderatsprotokolle oder das Totenbuch am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert eine große Rolle, anhand derer etwa die Suche nach Wohnraum oder die Hygienebedingungen und die daraus resultierende hohe Kindersterblichkeit nachvollzogen werden können. Wegleiter bemüht sich um ein differenziertes Bild, liefert Erklärungen für zugeschriebene Verhaltensweisen und streicht beispielsweise auch Leistungen aus dem Schulbereich hervor, die gängigen Vorurteilen widersprechen. Ergebnis ist ein vielstimmiges Bild einer Gemeinde, das vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht. Mit einer spannenden Zusammenschau von „Fragmenten einer Familiengeschichte aus dem Oberland“ setzt der Historiker Stefan Dietrich die Überlegungen fort und lässt die Leserschaft an der eigenen Familiengeschichte teilhaben, die über fast 200 Jahre hinweg Anekdoten aus dem Leben der Katharina Mayr in mündlicher Überlieferung erhalten hat. Dietrich stellt die Erzählungen den schriftlichen Quellen rund um Katharinas Biografie gegenüber. Interessantes Detail: In der Hoffnung auf das Sakrament einer sogenannten „Rom-Ehe“ führte ihr Lebensweg tatsächlich bis nach Rom. Gerade für Menschen, denen in den Heimatgemeinden die Bewilligung zur Heirat verweigert wurde, stellte eine Trauung durch einen päpstlichen Vertreter in Rom die einzige Möglichkeit dar, eine Ehe zu schließen. Trotz der Gefahr einer mehrwöchigen Gefängnisstrafe nach der Rückkehr in die Heimatgemeinde wurde diese Möglichkeit im 19. Jahrhundert häufig von Jenischen angenommen. Im darauffolgenden Beitrag „Die Vinschger sain Korrner!“ wirft Helene Dietl Laganda einen Blick auf die Situation in Südtirol bzw. speziell ins Vinschgau. Wie eingangs erwähnt, kam es in Südtirol durch eine frühe kritische Kulturarbeit zu einer bemerkenswerten Diskursverschiebung, die zur Folge hatte, dass sich die Vinschger Bevölkerung kollektiv im Erbe der „Korrner“ sieht. Andererseits scheint aber der Bezug zu realen Personen der Vergangenheit zu fehlen und es wird davon ausgegangen, dass es keine „Korrner“ mehr gibt. Von der Eigenbezeichnung als Jenische und einer eigenen Sprache fehlt heute jegliche Spur.5 Eine in letzter Instanz nicht ganz befriedigende Erklärung, warum dies so sein könnte, liegt in der sogenannten Option. Der deutschsprachigen Bevölkerung wurde mit dem Hitler-Mussolini-Abkommen 1939 vor die Wahl gestellt, entweder ins nationalsozialistische Deutschland zu emigrieren oder mit dem Verbleib in Südtirol die Repressionen infolge der Italianisierungskampagne der faschistischen Regierung in Rom in Kauf zu nehmen. Offensichtlich waren unter den ersten und dauerhaften Optanten viele Südtiroler Jenische, die als Ärmste der Armen wenig zu verlieren hatten.6 Paul Rösch vermutet auch, dass ihnen von den...


DIE HERAUSGEBERINNEN:

MICHAEL HAUPT, MAG., Studium der Erziehungswissenschaften an der Universität Innsbruck, Geschäftsführer der Initiative Minderheiten Tirol, Mitglied des Kulturbeirats für Kulturinitiativen des Landes Tirol, Vorstandsmitglied TKI – Tiroler Kulturinitiativen, langjährige Kulturarbeit in verschiedenen Feldern.

EDITH HESSENBERGER, MMAG. DR., Kulturwissenschaftlerin und Leiterin der Ötztaler Museen, Forschungsschwerpunkte: Geschichte der alpinen Berglandwirtschaft, Tourismusgeschichte, Migrationsgeschichte, Oral History und Erzählforschung.


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