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E-Book, Deutsch, 496 Seiten

Hessler Die Stimmen vom Nil

Eine Archäologie der ägyptischen Revolution

E-Book, Deutsch, 496 Seiten

ISBN: 978-3-446-26676-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Zum 10. Jahrestag des Arabischen Frühlings: „Originell und zutiefst menschlich – anders als alles, was ich über die ägyptische Revolution gelesen habe.“ Anand Gopal


Noch immer blickt die Welt auf den Nahen Osten, um die Folgen des Arabischen Frühlings zu verstehen. Doch aus der Distanz bleibt vieles verborgen. Peter Hessler erzählt die ägyptische Revolution aus dem Alltag der Menschen heraus. Ein Abfallsammler, der aus Kairos Müll mehr herauslesen kann als jeder Archäologe. Ein Arabischlehrer mit Faible für Ägyptens sozialistische Vergangenheit. Und ein schwuler Mann, der in einem Muslimbruder einen unerwarteten Verbündeten findet. In einer brillanten literarischen Reportage bringt Peter Hessler Persönliches und Politisches, Gegenwart und Geschichte zusammen und entwirft so ein schillerndes Porträt einer Gesellschaft im Umbruch.
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1
Am 25. Januar 2011, dem ersten Tag des ägyptischen Arabischen Frühlings, blieb es ruhig in Abydos. Es gab keine Demonstrationen, keine Menschenaufläufe und keine Probleme für die Polizei. Bis zu jenem Tag war in der Grabungszeit dieses Winters nur ein bemerkenswertes Ereignis zu verzeichnen gewesen. Anfang des Monats hatte ein Team von Archäologen der amerikanischen Brown University einen Hohlraum freigelegt, in dem sich dreihundert Bronzemünzen, zwei Bronzestatuetten des Osiris und eine Steinstatuette befanden, die Horus als Kind darstellte. Die Archäologen hatten schon eine Reihe von Gräbern freigelegt, die bereits in der Antike ausgeraubt worden waren, und nicht erwartet, auf einen solchen Fund zu stoßen. Die Grabungsleiterin Laurel Bestock reagierte mit gemischten Gefühlen.1 Natürlich freute sie sich über die Entdeckung, gleichzeitig machte sich jedoch auch Nervosität in ihr breit, da sich das Team nun auf schärfere Sicherheitsauflagen und jede Menge Bürokratie gefasst machen musste. Die örtliche Polizei unterrichtete die ihr vorgesetzten Dienststellen, und wenig später traf ein Beamter des ägyptischen Ministeriums für Altertümer in Abydos ein. Unmengen an Dokumenten und Papieren mussten ausgefüllt werden, und über mehrere Tage hinweg machten Bestock und ihr Team Überstunden, bis sie sämtliche Münzen und Statuetten gesäubert, vermessen und fotografiert hatten. Nachdem das erledigt war, wurden die Fundstücke in eine Holzkiste gepackt, auf einen Kleinlaster geladen und von einem halben Dutzend mit Gewehren bewaffneter Polizisten nach Sohag eskortiert, die Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements. Die Objekte an sich waren nicht sonderlich wertvoll. Keine der Statuetten maß mehr als dreißig Zentimeter, was die Prozession aus Lastwagen und bewaffneter Polizeieskorte etwas absurd anmuten ließ. Die Münzen datierten in die mittlere Ptolemäerzeit, zwischen dem 3. und 2. Jahrhundert v. Chr., was nach den Maßstäben der Ägyptologie vergleichsweise spät ist. Für die Archäologen lag die wahre Bedeutung des Fundes denn auch in seinem Kontext – offenbar waren die Figuren und Münzen im Rahmen eines alten Rituals beigesetzt worden. Doch darüber wurde in den umliegenden Dörfern nicht gesprochen, wo die Gerüchteküche die Bronzemünzen unweigerlich in Goldmünzen und die Statuetten in Artefakte verwandelte, die ebenso wertvoll waren wie Tutanchamuns Totenmaske. Im schlimmstmöglichen Fall könnte eine solche Entdeckung sogar zu einem kurzen Zusammenbruch der zivilen Ordnung führen. Doch eigentlich gab es keinen Grund für solche Befürchtungen. Präsident Hosni Mubarak regierte Ägypten nun schon seit fast dreißig Jahren, und wenn es in der Hauptstadt zu Protesten kam, strahlten diese selten in die abgelegeneren Teile des Landes aus. Auch am 26. Januar 2011, dem zweiten Tag des ägyptischen Arabischen Frühlings, war in Abydos von dem, was sich in Kairo abspielte, nichts zu spüren. Die Archäologen arbeiteten westlich der Dörfer in einer alten Nekropole, die von den Dorfbewohnern al-Madfuna genannt wird: Die Begrabene.2 In dieser Ruinenstätte finden sich die frühesten bekannten Königsgräber Ägyptens und zudem eines der ältesten erhaltenen Lehmziegelgebäude der Welt – ein riesiges Rechteck aus dreizehn Meter hohen Wänden, das auf die Zeit um 2660 v. Chr. datiert.3 Niemand weiß mit Sicherheit, welchem Zweck es ursprünglich diente. Der lokale arabische Name – Schunet el-Zebib, »Lagerhaus der Rosinen« – ist ein weiteres Rätsel. Immer wieder wurde gemutmaßt, es könnte sich einst um ein Lagerhaus für Waren oder Tiere gehandelt haben. Auguste Mariette, ein französischer Archäologe, der hier Mitte des 19. Jahrhunderts arbeitete, vermutete in dem Gebäude eine »Art Polizeistation«, ohne jedoch irgendwelche Belege für diese Annahme zu liefern.4 Offenbar spiegelte Mariettes Theorie seine Furcht vor Plünderungen wider, die in Abydos seit etwa fünftausend Jahren ein großes Problem darstellen. Am 28. Januar 2011, am vierten Tag des ägyptischen Arabischen Frühlings, versammelten sich in Kairo Zehntausende Menschen zu einer Demonstration auf dem Tahrir-Platz, in deren Verlauf das nahe gelegene Hauptquartier der Nationaldemokratischen Partei Mubaraks von Unbekannten in Brand gesteckt wurde.5 In Abydos war das Team der Brown University bereits in die USA zurückgekehrt und eine andere Gruppe von Archäologen vom Institute of Fine Arts der New York University angekommen. Diese Gruppe restaurierte Teile der Schunet el-Zebib, beziehungsweise der Shuna, wie die Anlage oft genannt wird. Leiter des Teams von der NYU war der Archäologe Matthew Adams. Adams war achtundvierzig Jahre alt und hatte das typische Aussehen eines Weißen, der viele Jahre seines Berufslebens in der Sahara verbracht hat: Ohren und Wangen rot, den Ausschnitt seines Hemds permanent in Hals und Brust eingebrannt – eine V-förmige Hieroglyphe, die »Ägyptologe« bedeutet. Adams’ Karriere in Abydos verlief in gewisser Weise parallel zur Herrschaft des Mubarak-Regimes. Im Herbst 1981 kam er zum ersten Mal in die Nekropole, damals noch als Praktikant. Kurz nach Beginn der Ausgrabungssaison im Oktober fiel Präsident Anwar al-Sadat bei einer Militärparade in Kairo einem Attentat zum Opfer. Nach dem Mordanschlag wurde der bisherige Vizepräsident Mubarak zum neuen Präsidenten ernannt. Die Lage in der Hauptstadt blieb stabil, und auch in Abydos gab es abgesehen von einer erhöhten Polizeipräsenz keine spürbaren Auswirkungen. Als Praktikant hatte Adams damals die bescheidene Aufgabe zugewiesen bekommen, Tausende von antiken Keramikscherben zu sortieren. Seitdem hat er den Herbst von Sadats Ermordung als die langweiligste Zeit in Erinnerung, die er je in Ägypten verbracht hat. Demensprechend fiel Adams’ Reaktion auf die ersten Proteste auf dem Tahrir-Platz aus. Als die NYU-Verwaltung anfing, laut über eine Evakuierung des Teams nachzudenken, widersetzte sich Adams. Er wusste, dass Plünderungen drohten, wenn die Ausländer das Grabungshaus, in dem sie während der Saison in der Nekropole wohnten, verließen. Doch dann versammelten sich am 1. Februar 2011 mindestens zweihunderttausend Menschen auf dem Tahrir-Platz. Im ganzen Land verließen Polizisten ihre Posten, und wütende Menschenmassen stürmten eine Reihe von Gefängnissen. Im Gefängnis Wadi al-Natrun, das in der Wüste nördlich von Kairo liegt, befreiten Angreifer Hunderte von Kriminellen, politischen Gefangenen und Islamisten, darunter einen hochrangigen Führer der Muslimbruderschaft namens Mohammed Mursi.6 Nach diesen Vorkommnissen beschloss Adams, sein Team aus Abydos zu evakuieren. Es dauerte drei Tage, bis sie ein Charterflugzeug organisiert hatten, welches das Team direkt von Luxor nach Athen bringen sollte. Auf dem Weg zum Flughafen wollten die Archäologen noch einen Zwischenstopp bei McDonald’s in Luxor einlegen, doch wegen der Revolution war der dortigen Filiale der Schnellimbisskette das Fleisch ausgegangen. ¦ Binnen weniger Stunden nach Abreise der Ausländer tauchten die ersten Grabräuber auf. Das Grabungshaus beschäftigte private Wachleute, die bei größeren Problemen üblicherweise die Polizei zu Hilfe riefen. Dieses Mal aber reagierte die örtliche Polizei nicht auf ihren Notruf. Die ersten Diebe konnten die Wachmänner noch verjagen, doch ein paar Stunden später, um zwei Uhr morgens, traf eine größere Gruppe vor dem Grabungsfeld ein. Die Männer waren maskiert und hatten Werkzeuge dabei. Sie drohten den Wachen, dass sie getötet würden, sollten sie das Gelände nicht räumen. Der Leiter des Grabungshauses war Ahmed Ragab, ein knapp vierzig Jahre alter, ruhiger und sehr fähiger Mann aus Assuan im äußersten Süden des Landes. Ausländische Institutionen stellen an archäologischen Stätten in Ägypten gewöhnlich einen Verwalter aus einem anderen Teil des Landes ein, der vor Ort nicht durch Verpflichtungen gegenüber Familie oder Stamm gebunden ist. Auf eben diesen Treuepflichten beruhte, wie Ahmed wusste, seine größte Hoffnung gegenüber den Plünderern. Viele von ihnen trugen Waffen, aber wenn sie aus Abydos stammten, würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf die unbewaffneten Wachmänner schießen. Auswärtige Plünderer dagegen würden eine solche Zurückhaltung möglicherweise nicht an den Tag legen. Dabei sorgte sich Ahmed nicht so sehr um den möglichen Diebstahl antiker Artefakte. Nach jahrtausendelangen Plünderungen und nach mehr als einem Jahrhundert professioneller archäologischer Ausgrabungen waren sämtliche leicht zu findenden Objekte von Wert längst aus der Nekropole geborgen worden. Aber das war den Grabräubern leider nie bewusst, und wenn sie dann im Dunkeln hektisch nach vermuteten Schätzen buddelten, bestand die Gefahr, dass sie unterirdische Strukturen beschädigten, die bislang noch nicht genauer untersucht worden waren. Offenkundig hatten viele der Diebe von den kürzlich in Abydos geborgenen Statuetten und Münzen gehört, denn ihre Suche konzentrierte sich vor allem auf deren Fundort. Am 11. Februar verkündete ein Regierungsbeamter im nationalen Fernsehen Mubaraks Rücktritt vom Amt des Präsidenten. Ungefähr zur gleichen Zeit trafen die ersten auswärtigen Plünderer in der Ruinenstätte ein. Einige von ihnen waren von einem Glauben an magische Kräfte, wie er in...


Hessler, Peter
Peter Hessler, 1969 geboren, ist Journalist beim New Yorker, für den er von 2000 bis 2007 als Korrespondent aus Peking und von 2011 bis 2016 aus Kairo berichtete. Er ist der Autor mehrerer Bücher über China. 2008 wurde er für seine Reportagen mit dem National Magazine Award ausgezeichnet, 2011 erhielt er eines der begehrten MacArthur Fellowships.

Pfeiffer, Thomas
Thomas Pfeiffer, Jahrgang 1962, Übersetzer von Christopher Clark, Al Gore, Robert Skidelsky, Adam Tooze, Bob Woodward, Seymour Hersh.


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