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E-Book, Deutsch, Band 6493, 273 Seiten

Reihe: Beck Paperback

Hildermeier Die rückständige Großmacht

Russland und der Westen

E-Book, Deutsch, Band 6493, 273 Seiten

Reihe: Beck Paperback

ISBN: 978-3-406-79354-7
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Seit Peter dem Großen und seiner erzwungenen Verwestlichung Russlands zieht sich ein zutiefst ambivalentes Verhältnis zum Westen durch die russische Geschichte: der Westen als Vorbild und der Westen als Feindbild. Der renommierte Russlandhistoriker Manfred Hildermeier erzählt in seinem fundierten Buch die lange Geschichte dieser schwierigen Beziehung und bietet damit auch einen Schlüssel für das Verständnis der kriegerischen Politik Wladimir Putins in der Gegenwart.

Russland fühlt sich vom Westen bedroht – diese Wahrnehmung gehört zu den offiziellen russischen Begründungen für den Überfall auf die Ukraine. Doch Russland hat Europa und Amerika über die Jahrhunderte hinweg auch immer wieder nachgeeifert und seinen eigenen Erfolg daran gemessen, wie weit es technisch, ökonomisch oder kulturell «aufgeholt» hat. Manfred Hildermeier führt in seinem Buch durch die Geschichte einer hochambivalenten Beziehung.
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II. Moscovien: Katholische Teufel und verlockende Technik
Solche Zugehörigkeit änderte sich im Laufe der nächsten Jahrhunderte. Ausschlaggebend dafür war das Zusammenwirken zweier Faktoren, eines kulturell-religiösen und eines ereignisgeschichtlich-politischen. Dem Erstgenannten kam dabei nicht nur die zeitliche Priorität zu. Vielmehr spricht alles dafür, die Kirchenspaltung von 1054 als tiefere und eigentliche Ursache für die Entfremdung Russlands von Europa zu betrachten. Als Papst und Patriarch sich gegenseitig exkommunizierten, verwandelten sich Andersgläubige in Ketzer, mit denen es keine Freundschaft mehr geben konnte. Dies galt nicht nur für das Kaiserreich, das seine römische Herkunft im Titel trug, sondern auch für Ungarn und Polen, die seit dem 10. Jahrhundert katholisch waren. Als sich Litauen 1386 mit Polen verband und der Moskauer Großfürst ein halbes Jahrhundert später die Versöhnung zwischen Rom und Konstantinopel (Union von Florenz, 1439) zurückwies – um sich stattdessen durch die Ernennung eines eigenen Metropoliten unabhängig zu machen und für seine Kirche faktische Autokephalie herzustellen –, verlief die Grenze zum lateinischen Abendland fortan sogar in unmittelbarer Nähe. Recht früh spiegelte sich dieser Bruch in den klösterlichen Chroniken. Schon die älteste, die sogenannte Nestor-Chronik, verschwieg im Bericht über den Tod der erwähnten, nach Kiev zurückgekehrten Adelheid (1106), dass sie sogar Kaiserin gewesen war. Die lateinische Welt war zum religiösen Feindesland geworden, das keine Erwähnung mehr verdiente – es sei denn als Brutstätte von Abartigkeiten und Unreinheit, wo man nicht «recht» glaube, Hunde und Katzen esse, Urin trinke und Bischöfe Beischläferinnen hielten. Von selbst verstand es sich daher, dass die Kirche nun auch vor Eheverbindungen in solche Länder warnte und dies mit Erfolg tat.[1] Dieser geistig-kulturelle Bruch wurde durch die politische Entwicklung massiv verstärkt. Gemeint ist allem voran die Eroberung des Kiever Reichs durch die mongolischen Reiterheere, die mit dem Fall seiner Hauptstadt 1240 ihren Abschluss fand. Wie vollständig und schlimm das Land verwüstet wurde, ist inzwischen umstritten. Außer Frage aber steht, dass seine Städte weitgehend zerstört, seine Bewohner in Massen abgeschlachtet und viele Handwerker verschleppt wurden. Gut zwei Jahrhunderte mussten Russlands Großfürsten tatarischen Oberherren Tribut leisten. In dieser Zeit verlagerte sich sein Zentrum auch von Kiev nach Moskau. Ein Prozess kam zu Ende, der schon vor dem ‹Mongolensturm› begonnen und viel mit der Abwanderung der Bevölkerung aus der waldarmen, schutzlosen Grenzregion in die waldreiche Landesmitte sowie mit der Entstehung von adeligem Grundeigentum zu tun hatte, das den Handel als materielles Fundament des Reichs ablöste. In Moskau entstand ein patrimonialer und zentralistisch-monarchischer Staat, der bald auch religiös-kulturell eigene Wege ging, autochthone, später oft beschworene Traditionen schuf und eher nach Südosten (in die tatarische Hauptstadt Sarai) als nach Westen blickte. Dennoch wäre es falsch, diesen Selbstbezug zur Isolation zu überzeichnen. Dafür spricht zum einen der Befund, dass auch die ‹verschweigenden› Chroniken zwischen den Zeilen mehrfach das faktische Gegenteil erkennen lassen. Wenn betont wird, dass ein Kirchenbau in Suzdal’ ohne deutsche Architekten errichtet wurde, liegt im Umkehrschluss deren häufige Beteiligung nahe; wenn über den dritten und vierten Kreuzzug (1190, 1208) detailliert berichtet wurde, zeugte das «von guter Kenntnis» der Vorgänge «jenseits des blauen Meeres». Zum anderen blieb eine bedeutende Stadt von der Erstürmung durch die Mongolen verschont, weil diese auf halbem Weg kehrtmachten: Novgorod (samt riesigem Territorium). Hier aber trieb man seit dem Ende des 12. Jahrhunderts Handel mit der Hanse auf Gotland, blieb dieser Kaufmannsgemeinschaft auch weiterhin, bald mit eigenem Kontor, verbunden und bewahrte darüber seine Kontakte zum norddeutschen und nordwesteuropäischen Raum.[2] Hier landeten nicht nur Waren an, sondern mit den Schiffen auch Informationen. Wenn man bedenkt, dass Novgorod um dieselbe Zeit unterworfen und dem entstehenden Moskauer Zentralstaat einverleibt wurde (nach 1472), als sein neuer Oberherr Ivan III. begann, Kontakt mit dem Kaiser des Heiligen Römischen Reichs aufzunehmen (mit Maximilian in den 1480er Jahren), wird man zu dem Schluss kommen, dass sich Westeuropa auch während des ‹Mongolenjochs› nicht so weit aus dem russischen Horizont entfernte, dass es nicht mehr sichtbar gewesen wäre. Es blieb im Bewusstsein und über Novgorod auch als Handelspartner präsent. Zweifellos aber war auf der Grundlage des religiösen Gegensatzes eine kulturelle Entfremdung eingetreten. Zu Beginn der Frühen Neuzeit (nach mitteleuropäischer Periodisierung) war das moskowitische Russland mit seinem eigenen Glauben, seinen davon durchtränkten Gebräuchen, Normen und Werten, aber auch mit seiner extrem zentralistischen Fürstenherrschaft und seiner bürgerlosen, von bäuerlicher Leibeigenschaft und ausschließlicher Privilegierung des Adels geprägten Sozialordnung ein separater Kosmos geworden. Eine Kluft hatte sich gebildet, die das gegenseitige Verständnis erheblich erschwerte und eine Wiederannäherung lange verzögerte. Wenn sich die Beziehungen dennoch wieder verdichteten, dann war aus russischer Perspektive im Wesentlichen ein Faktor dafür verantwortlich: die (militär)technisch-wirtschaftliche und materiell-zivilisatorische, vom (natur)wissenschaftlichen Fortschritt nicht zu trennende Überlegenheit Westeuropas, die immer deutlicher wurde und wachsende Anziehungskraft entfaltete. Ein frühes Beispiel für diese Attraktivität findet sich im Bericht eines «unbekannten Russen» über seine Reise nach Florenz von 1437–?40 im Gefolge der geistlichen Delegation für das erwähnte Unionskonzil. Die Route führte diesen bemerkenswert neutralen Beobachter über Lübeck auf dem Landweg quer durch Deutschland bis nach Oberitalien. Was er offenbar auf der Grundlage eines «regelrechten Tagebuchs» zu Papier brachte, quoll über von vorbehaltloser Hochachtung. In Lüneburg bewunderte er kunstvoll gebaute, «äußerst sinnreich erdachte» Brunnen und Wasserleitungen, in Braunschweig ein «sehr staunenswertes», «für viele Jahre» unzerstörbares Schieferdach, große, durch die ganze Stadt geleitete Kanäle, hier und in anderen Städten immer wieder «gepflasterte Straßen», in Augsburg prächtige Häuser und generell die Größe; und in Florenz mit seiner «breiten, steinernen Brücke» über den Arno, seinen «sehr hohen und kunstvoll» aus «weißem Stein» an gepflasterten Straßen errichteten Gebäuden versagte ihm beim Anblick der schwarz-weiß gewürfelten Marmorfassade des Doms beinahe die Sprache: Die «Künstlichkeit dieses Bauwerks» vermöge «unser Geist nicht zu erfassen».[3] Auf der Hand liegt, worin solche Faszination wurzelte: Der Verfasser bestaunte, was es in Russland mit seinen oft schiefen Holzhäusern, staubigen, unbefestigten Straßen und insgesamt wenigen, außerhalb der herrscherlichen Bezirke armen Städten nicht gab. Zwischen diesen beiden Polen, der Wertschätzung auf der einen Seite und der Abgrenzung auf der anderen, pendelte auch die offizielle Haltung der russischen Herrscher. Erstere führte schon in den Anfangsjahren der faktisch wiedererlangten Selbständigkeit zu begehrlichen Blicken auf die technischen Errungenschaften Westeuropas, die zu dieser Zeit vor allem in Oberitalien zu finden waren. Soweit ersichtlich, war der Großfürst Ivan III. (der Große), der die später national verklärte «Sammlung der russischen Erde» zum Abschluss brachte, auch bereits der erste, der das dortige überlegene Know-how wieder zu nutzen suchte. Als das Gewölbe des steinernen Neubaus der Krönungskirche im Moskauer Kreml (Uspenskij sobor), der die alte hölzerne ersetzen sollte, zusammenstürzte, entschloss er sich im Sommer 1474, den Architekten Aristoteles Fioravanti aus Bologna zu holen. Dieser vollendete, was den einheimischen Baumeistern nicht gelungen war. Weitere italienische Künstler (Marco Ruffo, Pietro Antonio Solari, Aleviz Frjazin) folgten und errichteten den Facettenpalast, weitere Kirchen, einen Glockenturm sowie die mächtigen Mauern samt der Portale. Wenn der Kreml um die Wende zum 16. Jahrhundert mithin jene bis in die Gegenwart kaum veränderte Gestalt annahm, die jeden Betrachter an den Baustil der italienischen Renaissance erinnert, so war das kein Zufall, sondern das Ergebnis des ersten Imports westeuropäischer Technik und materieller Kultur.[4] Ein gutes halbes...


Manfred Hildermeier ist Professor em. für Osteuropäische Geschichte an der Universität Göttingen. Die beiden großen Bände "Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution" (2022) und "Geschichte der Sowjetunion" (2022) sind auch international anerkannte Standardwerke.


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