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E-Book, Deutsch, Band 46, 448 Seiten

Reihe: Konkret Texte

Hoffmann "Das kann man nicht erzählen"

'Aktion 1005' - Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten

E-Book, Deutsch, Band 46, 448 Seiten

Reihe: Konkret Texte

ISBN: 978-3-930786-76-3
Verlag: KVV "konkret"
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Anfang 1942, nachdem die Rote Armee den Vormarsch der Wehrmacht auf Moskau gestoppt hatte, begann die nationalsozialistische Staatsführung Vorsorge zu treffen für den Fall ihrer Niederlage.

Unter der Bezeichnung »Aktion 1005« ließ sie ab Frühjahr 1943 zahlreiche Kommandos aufstellen, die die Spuren deutscher Verbrechen in Osteuropa nach einem immer gleichen Muster beseitigten: Mehrheitlich jüdische Häftlinge wurden gezwungen, Massengräber zu öffnen, die Leichen aus den Gräbern zu holen und auf Scheiterhaufen zu verbrennen, bevor schließlich auch sie selbst ermordet wurden.

Gestützt vor allem auf Aussagen und Berichte der wenigen überlebenden Arbeitshäftlinge sowie auf Protokolle staatsanwaltschaftlicher Vernehmungen ehemaliger Kommandoangehöriger unternimmt dieses Buch erstmals den Versuch, die von Deutschen und ihren Helfern während des Zweiten Weltkriegs begangenen Massenverbrechen und die Verwischung der Spuren dieser Verbrechen im Zusammenhang darzustellen.
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I

Massenexekutionen

Als Nazideutschland am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, drangen neben den zu Frontkämpfen verwendeten Wehrmachts- und SS-Einheiten auch vier Einsatzgruppen des Reichssicherheitshauptamts auf das Territorium der Sowjetunion vor. Sie bestanden mehrheitlich aus Angehörigen des Sicherheitsdienstes (SD) und der Sicherheitspolizei (Sipo), die durch Verbände der Waffen-SS und Ordnungspolizei (Orpo) verstärkt wurden.1 In dem Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg, den die Deutschen führten, fungierten die Einsatzgruppen als mobile Mordkommandos, die den Auftrag hatten, alle zu weltanschaulichen Feinden Deutschlands erklärten, in den eroberten Gebieten ergriffenen jüdischen Zivilisten und kommunistischen Funktionäre umzubringen.
Der militärische Status der Einsatzgruppen war bereits Ende April 1941 zwischen dem Chef des RSHA, Reinhard Heydrich, und dem Oberbefehlshaber des Heeres, Walther von Brauchitsch, geklärt worden. Danach unterstanden die Einsatzgruppen dem Befehl des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler, während das Heer für ihre Ausstattung mit Treibstoff, Lebensmitteln und Quartieren zu sorgen hatte.2 Zur Vorbereitung auf ihre Arbeit in der Sowjetunion wurden die Männer der Einsatzgruppen relativ kurzfristig ab Mai 1941 in der nordöstlich von Leipzig gelegenen Grenzpolizeischule Pretzsch an der Elbe sowie den Nachbarorten Düben und Bad Schmiedeberg zusammengezogen.3 Allgemeine Informationen zur Sowjetunion sowie antibolschewistische und antisemitische Referate bildeten den Schwerpunkt ihres Unterrichts, die praktische Vorbereitung bestand aus Schießübungen und Sport.4 Unter den Offizieren waren karrierebewußte Akademiker und Intellektuelle im dritten Lebensjahrzehnt in der Mehrheit, die Führerschule der Sicherheitspolizei in Berlin-Charlottenburg beispielsweise schickte einen kompletten Jahrgang nach Pretzsch.5 Ergänzt wurden die Mordkommandos durch technisches Personal – u.a. Funker, Kraftfahrer, Dolmetscher und einige Sekretärinnen. Bereits kurze Zeit nach Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion rekrutierten die mit den Heeresverbänden der Wehrmacht vorrückenden Einsatzgruppen »Hilfswillige« bzw. »Hilfspolizisten« in den eroberten Gebieten, die sowohl auf Grund ihrer antisowjetischen und antisemitischen Einstellung als auch wegen ihrer Sprach- und Ortskenntnisse zu effizienten Kollaborateuren der deutschen Mörder wurden. Insgesamt gehörten den Einsatzgruppen A, B, C und D zwischen 3.000 und 3.200 Täter an.
Zur Taktik der Einsatzgruppen gehörte die Aufteilung in einzelne Kommandos, die getrennt von den jeweiligen Gruppenstäben auch in Gebiete abseits der Hauptstraßen vordrangen, um sie nach Juden und kommunistischen Funktionären zu durchsuchen. Außerdem bemühten sich die Einsatzgruppen gleich zu Beginn ihrer Mordarbeit, den vorhandenen Antisemitismus der örtlichen Bevölkerung in Pogromen zu entfachen.6 Dies gelang in Kowno (Kaunas) und anderen litauischen Städten, in Minsk sowie in Lemberg, Tarnopol und Chorostow, wo örtliche Pogromisten, angestiftet von Offizieren der Einsatzgruppen, gefeiert von Schaulustigen, mehrere tausend Juden auf öffentlichen Plätzen zusammentrieben und erschlugen.7
So entlastend es für die Einsatzgruppen war, Teile der örtlichen Bevölkerung als mordende Mittäter zu gewinnen, so schnell wurde den auf Effizienz eingestellten Deutschen klar, daß »spurenlos« (Heydrich) inszenierte Pogrome nicht das geeignete Mittel waren, um ihren beispiellosen Mordauftrag zu erfüllen. Die von Leidenschaften bewirkten, durch sie aber eben auch begrenzten Verbrechen gewannen nicht die von den Deutschen erhoffte Eigendynamik in einer mehrheitlich passiven Bevölkerung. Die Angehörigen der Einsatzgruppen konzentrierten sich also auf die Form des Tötens, zu der sie ausgebildet worden waren: der kühl und arbeitsteilig organisierten Erschießung von Menschen.
Bei der Analyse der von den Einsatzgruppen in der Sowjetunion begangenen Massenmorde unterscheidet Raul Hilberg zwischen verschiedenen Phasen.8 Während der ersten, mit dem Einmarsch der Deutschen in der Sowjetunion beginnenden Phase überzogen die Einsatzgruppen die von der Wehrmacht eroberten Gebiete mit zwei »Tötungswellen« (Hilberg), denen bis Ende November 1941 mindestens 500.000 jüdische Zivilisten zum Opfer fielen.9 Die Massenerschießungen begannen in den baltischen Ländern und wurden parallel zum Vorrücken der Wehrmacht in den übrigen eroberten Gebieten fortgeführt. Während der zweiten, im Herbst 1941 ausgelösten Mordwelle wurden die Einsatzgruppen von Bataillonen der Ordnungspolizei, einheimischen »Schutzmannschaften«, »Bandenkampfverbänden« und Agenten der Feldgendarmerie bzw. der Geheimen Feldpolizei bei ihrer Mordarbeit unterstützt.10 Zur Taktik der mobilen Mordkommandos gehörte die Täuschung der meist aus alten Männern, Frauen und Kindern bestehenden jüdischen Bevölkerung durch Plakate, die scheinbar harmlose Registrierungen oder Umsiedlungen ankündigten. In Gegenden, aus denen die jüdische Bevölkerung geflohen war, um sich in Wäldern oder Dörfern zu verstecken, wandten die deutschen Mordkommandos eine andere List an: Sie blieben für einige Zeit untätig und schlugen erst dann zu, wenn die sich in Sicherheit wähnenden Geflohenen an ihre Wohnorte zurückkehrten.11
Etwa zwei Millionen sowjetische Jüdinnen und Juden überlebten die zwei Tötungswellen der mobilen Mordkommandos, befanden sich aber noch im Herrschaftsbereich der deutschen Eroberer. In der von Hilberg als »Zwischenphase« des nazideutschen Mordprogramms bezeichneten, auf die Massenerschießungen folgenden Periode konzentrierten sich die Deutschen auf die Einkreisung und Ergreifung dieser Menschen. Nach dem Vorbild ihres Vorgehens in Deutschland und im besetzten Polen betrieben sie eine antijüdische Politik, deren Schwerpunkte Definition, Kennzeichnung, Ausplünderung12 und Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung sowie die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft waren. In Zusammenarbeit von Einsatzgruppen, Wehrmachtsstellen und deutscher Zivilverwaltung wurden in allen großen Städten der eroberten sowjetischen Gebiete kalkuliert mangelversorgte Ghettos abgeriegelt, in denen die Juden zusammengepfercht wurden und Zwangsarbeiten zu verrichten hatten.13 Die systematischen Erschießungen wurden während dieser Zwischenphase nur eingestellt, um günstigere Voraussetzungen für den Mord an den übrig gebliebenen jüdischen Männern, Frauen und Kindern zu schaffen.
Auch während der kurzzeitigen Unterbrechung der Massenexekutionen jüdischer Zivilisten lief allerdings ein Mordprogramm weiter, das bereits zu Beginn des Krieges mit der Sowjetunion gestartet worden war. Mehrere »Aussonderungskommandos« der Einsatzgruppen, bestehend jeweils aus einem Offizier und vier bis sechs Männern, suchten regelmäßig die von der Wehrmacht errichteten Lager für sowjetische Kriegsgefangene auf. Die Angehörigen dieser Kommandos führten alle Gefangenen, die vorher von Wehrmachtsoffizieren als Juden, Politkommissare oder »fanatische« Kommunisten eingestuft worden waren, in kleinen Gruppen aus dem Lager und erschossen sie. Christian Streit hat nach sorgfältiger Abwägung der Quellen Mindestzahlen von 580.000 bis 600.000 jüdischen und nichtjüdischen sowjetischen Kriegsgefangenen errechnet, die an die Aussonderungskommandos übergeben und ermordet wurden.14
Bei der Beseitigung der Ghettos und der Ermordung der dort gefangengehaltenen jüdischen Bevölkerung gingen die deutschen Täter und ihre Kollaborateure nach einem standardisierten Schema vor.15 Zu Beginn einer »Liquidierungsaktion« mußten jüdische Männer Massengräber am Rand der jeweiligen Stadt ausheben. Danach umstellten Polizisten das Ghettogebiet. Meistens marschierten sie in der Morgendämmerung auf, gelegentlich auch unter Scheinwerferbeleuchtung mitten in der Nacht. Polizisten und Beamte der deutschen Zivilverwaltung drangen daraufhin, unterstützt von lokalen »Hilfswilligen«, in das Ghetto ein und trieben alle aus den Häusern kommenden Juden auf Sammelplätzen zusammen. Anschließend durchsuchten mit Brecheisen, Äxten, Gewehren und Handgranaten bewaffnete Kommandos das Ghettoareal nach Versteckten. Aufgegriffene wurden sofort ermordet; Leichen und Verwundete oft mit Benzin übergossen und verbrannt. Die an den Sammelplätzen bewachten jüdischen Männer, Frauen und Kinder fuhren die Deutschen – oftmals nach stundenlangem Warten in lähmender Ungewißheit – mit Lastwagen zu den Massengräbern und trieben sie dort mit Peitschenhieben oder Kolbenstößen von der Ladefläche. In kleinen Gruppen wurden die sich häufig noch Trost zusprechenden Gefangenen schließlich zum Ablegen ihrer Kleidung gezwungen und an den Rändern der Massengräber oder direkt in den Gruben erschossen.
Für einzelne Angehörige der Einsatzgruppen mag das von den Tätern als »Befriedungsmaßnahme« umschriebene tägliche Morden hinter den Frontlinien durchaus ein kurzzeitiges moralisches Problem gewesen sein. Daß ausgerechnet eine Gruppe jüdischer Kleinkinder oder Greise die herrliche Zukunft Deutschlands bedrohte, mag den Absperrposten, Schützen und Lastwagenfahrern nicht immer eingeleuchtet haben. Doch solange der umsichtig ausgewählte Platz des Exekutionskommandos pünktlich besetzt wurde, war es gleichgültig, ob die Mörder Skrupel hatten, sich teilnahmslos verhielten oder ihre blutige Arbeit genossen. Es ist nicht auszuschließen, daß einige der Männer die Sonderrationen – Schnaps, Zigaretten, Fleischwaren, nie genug, immer dasselbe – mürrisch entgegennahmen. Einzelne mögen ihre Kommandoführer verflucht haben. Im Tötungsverband jedoch zählten für sie und ihre Vorgesetzten nur »organisatorische« oder...


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