Holzhey | Wir sehen jetzt durch einen Spiegel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 50, 157 Seiten

Reihe: Schwabe reflexe

Holzhey Wir sehen jetzt durch einen Spiegel

Erfahrungen an den Grenzen philosophischen Denkens

E-Book, Deutsch, Band 50, 157 Seiten

Reihe: Schwabe reflexe

ISBN: 978-3-7965-3651-9
Verlag: Schwabe Basel
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Erfahrungen, gute wie schlechte, motivieren immer wieder zum Nachdenken über die grossen Welt-rätsel. Sie erschüttern aber auch die dabei gewachsenen Einsichten. Unruhe durchzieht Philosophie, genährt von zwei Fragen: Wieviel braucht eine Philosophie, die der Sinnspur menschlichen Lebens nachgehen will? Und wieviel Erfahrung verträgt sie? (Helmut Holzhey)
Holzhey Wir sehen jetzt durch einen Spiegel jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Inhalt:

Einleitung
I Transzendenz – wohin des Wegs?
II Kritische Vernunft angesichts der Macht des Schicksals
III Das metaphysische Bedürfnis
IV Kritik der Vernunft und Selbstzerstörung
V Das Ende bedenken
VI Die Unerklärlichkeit des Bösen
VII Hoffnung und Wahrheit
VIII Erfahrungen
IX Denken im Modus des Leidens
Textnachweise


I Transzendenz – wohin des Wegs?
Extra- und Intratranszendenz
Wer der großen Sinnfrage nachdenkt, transzendiert, das bedeutet: er überschreitet die Grenzen oder verlässt den Boden seiner Erfahrungswelt. Er sucht – weiterhin bildlich gesprochen – Höhe oder Tiefe zu gewinnen; er fliegt nach oben, dem Himmel zu, oder bohrt in die Tiefen seines Inneren. Doch da jede Frage nach einer Antwort sucht, kann es nicht beim transzendierenden Fragen nach Sinn bleiben. Der Akt des Fragens ist auf den Gewinn von Sinn ausgerichtet, einen Sinn, der nicht im Akt des Fragens bestehen kann, sondern sich im Akt als ein Transzendentes erschließen soll. Wie immer man dieses Transzendente philosophisch fasst – als Gott, als das Eine und Höchste, als das Sein selbst –, es bleibt umgekehrt aufs engste ans Transzendieren gebunden, die Verbürgung von Sinn an die Frage nach dem Sinn. Im 3. nachchristlichen Jahrhundert ordnet der Philosoph Plotin, ein eminenter Denker der Transzendenz avant la lettre, beispielhaft dem Einen und Höchsten die ekstatisch-punktuelle Erfahrung eines «geistigen Berührens» zu, eines augenblicklichen Sehens, «wo die Seele jählings von Licht erfüllt wird».1 Das Transzendieren im Verfolg der großen Sinnfrage besteht in einem radikalen Hinaus- bzw. Hineingehen, das sowohl alle weltliche Wirklichkeit wie auch die gängigen Weisen der Welthabe und Wirklichkeitserfassung übersteigt. Überstiegen wird das Diesseits auf einen wesensverschiedenen Bereich hin. Die «transzendentale» Grenze trennt nicht bloß Verschiedenes, sondern Verschiedenartiges: das Undenkbare und Unsagbare vom Denk- und Sagbaren, das Unendliche vom Endlichen, das Sein vom Seienden, den Grund von den Gründen, das umfassende Ganze vom Teilhaften. Anschaulich formuliert zielt der Transzendenzgedanke auf eine in räumlichem Sinne über oder jenseits der Welt liegende Wirklichkeit, eine andere, «höhere» Welt. Das bezeugen jene Gottes- oder Weltbilder, die eine schlechthin weltjenseitige Gottheit kennen, und ebenso die Mythenkritik, die dem Glauben an weltimmanente Götter entgegentritt. Eine Transzendenz nach innen, in den menschlichen «Seelengrund», lässt sich demgegenüber nicht in ein Bild bringen; die Rede von Transzendenz ist hier nur metaphorisch zu lesen, wie ja auch die von einer Transzendenz im wörtlichen Sinne des räumlichen über etwas hinaus für den Philosophen immer eine metaphorische war. Nach innen zu transzendieren heißt nicht, eine diesseitige Sphäre der Immanenz der jenseitigen der Transzendenz vorzuziehen. Es geht bei der Intratranszendenz vielmehr wie bei der «(Extra-)Transzendenz» um eine Bewegung: Auch in der Innenrichtung wird eine Grenze überschritten; spekulativer formuliert: das innerlichere transcendens liegt über das (seelische) Innere hinaus. Augustinus verknüpft in einem Bericht über eine Vision ewigen Lebens, die er gemeinsam mit seiner Mutter hatte, den Weg von Extra- und Intratranszendenz aufs eindrücklichste: [...] da erhoben wir uns mit heißer Inbrunst nach ‘jenem Selben’ [Gott] und durchwanderten stufenweise die ganze Körperwelt, auch den Himmel, von dem herab Sonne, Mond und Sterne leuchten über die Erde. Und weiter stiegen wir innerlich [zugleich: tiefergehend] an im Betrachten, Bereden, Bewundern Deiner Werke, und wir gelangten zu unserer Geisteswelt und schritten hinaus über sie, um die Gefilde unerschöpflicher Fülle zu erreichen, auf denen Du Israel auf ewig weidest mit der Speise der Wahrheit [...].2 Wo die Intratranszendenz radikal gedacht bzw. erlebt wird, fällt sie mit der Extratranszendenz zusammen, weil im Ziel (dem Einen) alle Differenzierungen (auch die raumzeitlichen und damit die der Richtung) überwunden sind. Dennoch ist die Bindung von Transzendenz an die Bewegung nach innen folgenreich, weil in ihr der anthropologische und fernerhin der erkenntnistheoretische Transzendenzbegriff ihre Wurzel haben. Nicht über die Welt hinaus durch Ausbildung einer zweiten Physik («Metaphysik»), sondern in die Tiefe des menschlichen Inneren hinein, also auf dem Weg einer «transzendentalen Psychologie», ist das Transcendens, der göttliche «Seelengrund», zu suchen. Die transzendente «Wirklichkeit»3
Nicht nur das Geschehen der Bezugnahme auf eine «jenseitige» Wirklichkeit, sondern auch diese selbst wird als «Transzendenz» aufgefasst, sei es als (göttliche) Aktivität, die dem Transzendieren entgegenkommt, sei es als Woraufhin menschlichen Transzendierens. So oder so verstanden ist Transzendenz, obwohl sie sprachlich vergegenständlicht scheint, nie Ding oder Gegenstand, sondern viel eher – wenn überhaupt eine positive Bestimmung angebracht ist – nach aristotelischer und scholastischer Lehre reines Wirken (actus purus). Als ein Widerschein dieser Bestimmung kann die formale Charakteristik gelesen werden, dass «Ursprung und Ausgang der Transzendenzbewegung [...] nicht beim Transzendierenden, sondern stets beim Transzendenten liegen».4 Diesem radikalen Verständnis von Transzendenz steht das «säkularisierte» gegenüber, das an die Bewegung des transzendierenden Menschen gebunden ist, d.h. an die Bewegung auf eine andere, «absolute» Wirklichkeit hin. Indem auf eine «andere», d.h. nicht auf «diese» unsere Wirklichkeit Bezug genommen wird, ist zwar Transzendenz angemessen als transempirische Wirklichkeit definiert. Ob aber Wirklichkeit eine angemessene Bestimmung des Transzendenten abgeben kann, erweist sich als fragwürdig, weil die Kategorie des Wirklichen auf die Existenz eines Gegenstandes bzw. gegenständlichen Sachverhalts abzielt. Ebenso ist es nicht harmlos, das Transzendente als absolute Wirklichkeit zu charakterisieren. Denn «das Absolute ist seinem Begriffe nach dasjenige, was abgelöst und unabhängig von jedwedem denkbaren Anderen besteht und restlos sich selbst genügt».5 Vom radikalen Transzendenzgedanken her beurteilt, geht die Kennzeichnung «absolut», wenn sie nicht bloß negativ (in der Bedeutung «abgelöst», «unabhängig»), sondern positiv (im Sinne von «vollkommen») verwendet wird, in die Irre. Plotin begründet das so: Nein, so wie der, welcher die geistige Wesenheit erblicken will, keine Vorstellung von etwas Sinnlichem in sich tragen darf, um zu erschauen, was jenseits des Sinnlichen ist, so muss auch der, der das jenseits des Geistigen Liegende erschauen will, bei seiner Schau jeglichen geistigen Inhalt forttun; dass Jenes ist, das erkennt er durch das Geistige, welcher Art es aber ist, nur dadurch, dass er das Geistige forttut. Dies ‘welcher Art’ dürfte aber wohl bedeuten ‘keiner Art’; denn es gibt ein ‘welcher Art’ nicht bei einem Dinge, für das auch das Etwas nicht gilt. Sondern wir sind es, die in unseren Geburtsnöten nicht wissen, wie wir es bezeichnen sollen.6 Wo sich philosophisches Denken den Gedanken radikaler Transzendenz zumutet, setzt es sich, beirrt durch die Unmöglichkeit einer positiven Aussage über das Transzendente, dem eigenen Scheitern aus. Das gilt auch vom Weg nach innen, der Intratranszendenz, einem Weg, der nicht mit der psychologischen Beschreibung religiöser Erlebnisse zu verwechseln ist. Streng genommen ist ein Begriff des Transzendenten nur formulierbar, wenn von der Relationalität von Transzendenz ausgegangen wird. Das bedeutet, dass Transzendenz weder als Akt des Überstiegs noch in ihrem Woraus und Woraufhin absolut genannt werden darf. Bezugspunkt Mensch
Die These, dass für die begriffliche Rede von Transzendenz eine Beziehung konstitutiv ist, beinhaltet noch keine anthropologische Engführung des Begriffs. Transzendenz als Vollzug des Überstiegs durch den Menschen gewinnt erst damit eine eigenständige begriffliche Gestalt, dass die Bindung an den Menschen ausschließlich wird. Geschieht das, so wird Transzendenz nicht mehr auf eine schlechthin «andere» Wirklichkeit bezogen. Der Mensch in seiner Endlichkeit bildet vielmehr die Bedingung, an die jedes Transzendieren seiner Möglichkeit nach geknüpft erscheint. Einen anderen Transzendenzbegriff als den auf einen menschlichen Akteur bezüglichen scheint der aufgeklärte Zeitgeist nicht mehr zuzulassen. Das zeigt sich am Schicksal der Gottesbeweise. Der für ihr Gelingen letztverantwortliche ontologische Beweis des Daseins Gottes geht vom Begriff eines an und für sich bestimmten Wesens aus, das nicht durch seine «Beziehung zu einem denkenden Subjekt» definiert ist. Gerade diese Abhängigkeit von einem Subjekt aber ist Bestandteil der philosophischen Grundüberzeugung nach dem Ende der hegelschen Schule.7 Die Möglichkeit metaphysischen Transzendierens wird, wie Jaspers diagnostiziert,8 durch den philosophischen Satz des Bewusstseins verneint, dass alles, was ist, als einem Bewusstsein gegenwärtig (immanent) gedacht werden muss, wenn immer es überhaupt gedacht werden will. Auch die Verdammung zur Sinnlosigkeit, die metaphysischen Sätzen mit der Anwendung eines enggefassten Kriteriums sinnvoller Sätze im Neopositivismus widerfährt, unterstreicht diese zeitgenössische Grundeinstellung. Die Krise des metaphysischen Transzendenzgedankens hat zu verschiedenen Versuchen geführt, in Berücksichtigung der Kritik eine neue Problemstellung zu formulieren. Den Ausgangspunkt bildet immer die Bindung des Transzendenzgeschehens an den endlichen Menschen. Der Terminus «Transzendenz» erinnert dabei aus seiner Geschichte an das metaphysische Interesse des...


Holzhey, Helmut
Helmut Holzhey, geb. 1937, Studium der ev. Theologie (1956–1962) und der Philosophie (1962–1968), em. Professor für Philosophie an der Universität Zürich (1978–2004). Veröffentlichungen zur Philosophie des 18. Jahrhunderts, insbesondere zu Kant, zum Neukantianismus und zu verschiedenen Sachproblemen in der Philosophie der Gegenwart. Begründer der neueren Hermann Cohen-Forschung. Herausgeber des Grundrisses der Geschichte der Philosophie, begr. von F. Ueberweg.

Helmut Holzhey, geb. 1937, Studium der ev. Theologie (1956–1962) und der Philosophie (1962–1968), em. Professor für Philosophie an der Universität Zürich (1978–2004). Veröffentlichungen zur Philosophie des 18. Jahrhunderts, insbesondere zu Kant, zum Neukantianismus und zu verschiedenen Sachproblemen in der Philosophie der Gegenwart. Begründer der neueren Hermann Cohen-Forschung. Herausgeber des Grundrisses der Geschichte der Philosophie, begr. von F. Ueberweg.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.